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Helmut Walther (Nürnberg)

Nietzsche und Stirner
Anmerkungen zu einem Text von Bernd A. Laska (2002/2004)

Zu diesem Thema steht mir nunmehr der Nachlaß von Franz Overbeck zur Verfügung, der sich in Band 7/2 "Werke und Nachlaß" dazu ausführlich äußert - und, was die Einschätzung eines möglichen Einflusses von Stirner auf Nietzsche anlangt, zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt wie ich selbst in den folgenden Zeilen. Er hält eine Lektüre Stirners durch Nietzsche für sehr wahrscheinlich bis wohl feststehend, und zwar ergeben sich aus seinen Äußerungen zwei verschiedene Zeitpunkte für diese: Einmal 1874 oder vorher, da er seinem Studenten Baumgartner diese Lektüre empfohlen haben soll, und zum zweiten im Winter 1878/9, da er zu dieser Zeit anläßlich eines Besuchs bei Overbecks über Stirner gesprochen und ebenfalls dessen Lektüre empfohlen habe.
Parallel zu meiner eigenen Auffassung sieht Overbeck jedoch im Nietzscheschen Denken und Werk das Gegenstück eines Plagiats. Lesen Sie Overbecks Äußerungen zu Nietzsche und Stirner hier im Original!

In seinem Artikel, erschienen Anfang November 2002 in: Germanic Notes and Reviews, vol. 33, n. 2, pp. 109-133: Nietzsches initiale Krise. Die Stirner-Nietzsche-Frage in neuem Licht (Internet-Link s. unten) führt der Autor Nietzsches eigentliche "philosophische Initialzündung" auf dessen Lektüre von Stirners "Einzigem" zurück, der ihm in Berlin 1865 von Eduard Mushacke zugänglich gemacht worden sei und ihn in eine tiefe persönliche Krise gestürzt habe. Die "Erzählung" Nietzsches über seine Leipziger Schopenhauer-Entdeckung zur selben Zeit sei nur Versteckspiel und Vordergrund, um von seinem eigentlichen Stichwortgeber, eben Stirner, abzulenken. Da jeder Beleg in dieser Hinsicht fehlt, spricht der Autor selbst nur von einem Postulat, von indirekten Hinweisen in Nietzsche Schriften selbst, und "rekonstruiert" an Hand einer mehr als dürftigen Beweislage, wie es denn gewesen sein könnte.

Diese Beweislage selbst will ich hier gar nicht weiter kommentieren, da es bei solch subjektiver Interpretation ganz ähnlich zugeht wie in Glaubensfragen – wo alles Spekulation ist, neige ich eher der skeptischen Epoché (Urteilsenthaltung) zu denn einem Sprung in eine vorurteilsgeladene Meinung.

Andererseits scheint mir der Autor, geleitet von dem Willen, die Urheberschaft Stirners zu beweisen, gewisse allgemeine Überlegungen hintanzustellen, die seiner These im Wege stehen könnten:

1. Selbst wenn man von einer Berliner Stirner-Lektüre 1865 ausgeht, so ist dies keineswegs die erste philosophische Beschäftigung, die auf Nietzsche persönlich tiefgreifend einwirkt. Nicht nur kannte er sich bereits bestens in der antiken Philosophie aus (Schulpforta; eigene dichterische und dramatische Beschäftigung), sondern er hatte sich vor allem mit den Stirnerschen "Kollegen" als Junghegelianern, nämlich D. F. Strauß und vor allem Ludwig Feuerbach (bereits 1862 – s. hier unter "Werke – Willensfreiheit und Fatum") ernsthaft auseinandergesetzt. Das linkshegelianische Gedankengut war ihm von hier aus vertraut und hatte ihn dem Christentum längst entfremdet. Auch stand sein Entschluß, sich von der Theologie abzuwenden, bereits in Bonn fest, also vor seinem Besuch in Berlin.

2. Nietzsche berichtet selbst in seinem Schopenhauer-Entdeckungsbericht von einer Krisensituation, auf die sich denn Laska auch ausdrücklich bezieht. Hier Nietzsches Bericht nicht zu glauben, sondern dies als "Versteckspiel" zu interpretieren, ist reine Willkür. Aber vor allem: Ein junger Mann, der sich wie Nietzsche ernsthaft und existentiell der Philosophie zuwendet, wird notwendig und ganz ohne "plötzliche Initialzündung" – worauf Laska ja seine These gründet – in eine Sinnkrise stürzen; ich möchte dazu als lehrreiches Beispiel hier David Hume anführen, der am Ende seines Frühwerkes, des Treatise of Human Nature, schreibt, daß er

"auf viele Sandbänke aufgelaufen und bei der Durchquerung einer schmalen Meerenge mit Mühe dem Schiffbruch entgangen ist ... Zunächst sehe ich mich durch die menschenleere Einsamkeit, in die mich meine Philosophie geführt hat, in Schrecken und Verwirrung gesetzt; ich könnte mir einbilden, ich sei ein seltsames, ungeschlachtes Ungeheuer, das, nicht geeignet, sich unter die Menschen zu mischen und mit ihnen zu leben, aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen und völlig im Stich gelassen ... worden ist. Gern würde ich bei Menschen Schutz und Wärme suchen, aber ich kann mich nicht entschließen, entstellt wie ich bin, Kontakt zu pflegen. Ich rufe anderen zu, sich mir anzuschließen, damit wir eine Gemeinschaft bilden; aber niemand will mir Beachtung schenken ... Wende ich den Blick nach außen, so sehe ich auf allen Seiten Streit, Widerspruch, Zorn, Verleumdung und Herabsetzung. Richte ich mein Auge nach innen, so entdecke ich nichts als Zweifel und Unwissenheit." Hume schreibt, daß er bereit sei, "allen Glauben und alles Vertrauen zurückzuweisen", und daß er "keine Meinung für wahrscheinlicher" ansehen könne "als jede beliebige andere. Wo bin ich, oder was bin ich? ... Ich fange an, mir einzubilden, daß ich mich in der denkbar beklagenswertesten Lage befinde, daß ich von der tiefsten Finsternis umgeben und des Gebrauchs jedes ... Vermögens vollständig beraubt bin." Hume ist sogar bereit, "alle ... Bücher und Papiere ins Feuer zu werfen" und faßt beinahe den Entschluß, "auf dem öden Felsen", auf dem er sich augenblicklich befindet, "umzukommen". (Zitiert nach: Gerhard Streminger, David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Ein einführender Kommentar. Neuauflage publiziert im Internet unter http://www.streminger.com – dort Kap. II, S. 21 f.)

Diese Selbstsicht stimmt in vielerlei Hinsicht mit derjenigen überein, wie sie Nietzsche in seinem Schopenhauer-Bericht gibt.

Hume überwand diese Krise, entsprungen aus seinem extrem skeptischen Standpunkt und wurde zu einem liebenswürdigen Gesellschafter ebenso wie zu einem der bedeutendsten empiristischen Philosophen, dessen Einfluß insbesondere auf Kant kaum überschätzt werden kann; und Nietzsche gelang, wie Laska selbst durch sein Eingangszitat von 1885 anzeigt, eben das nämliche Kunststück:

So lernte ich bei Zeiten schweigen, so wie, dass man reden lernen müsse, um recht zu schweigen: dass ein Mensch mit Hintergründen Vordergründe nötig habe, sei es für Andere, sei es für sich selber: denn die Vordergründe sind einem nötig, um von sich selber sich zu erholen, und um es Anderen möglich zu machen, mit uns zu leben.

Es gibt daher m.E. keinerlei Anlaß, nach einer "besonderen" Sinnkrise Ausschau zu halten, in welche Lücke dann Stirner eingeschoben werden müßte. Vielmehr befindet sich Nietzsche (wie Hume) auf einem langen Weg von Jugend an, der (in beiden Fällen) gut dokumentiert ist.

3. Laskas Text läßt den Leser aber vor allem darin ratlos zurück, was denn damit gewonnen wäre, wenn eine frühe Stirner-Lektüre nachgewiesen wäre; will er Nietzsche als Plagiator hinstellen? Diese Debatte schildert er selbst, und sie muß wahrlich nicht wiederholt werden, da beider Denken trotz teilweiser Berührungen ganz verschiedene Wege geht und zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Mithin scheint es dem Autor vor allem darum zu gehen, Stirners "Individualanarchismus" einen eigenen Platz freizuräumen und Aufmerksamkeit damit auf Stirners Mühlen zu leiten, daß er ihn als bedeutenden Anreger Nietzsches schildert.

Aber auch selbst wenn man die "philosophische Initialzündung" durch Stirner unterstellt – was ja den eigentlichen Ansatz des Textes darstellt – was wäre damit für die Interpretation Nietzsches gewonnen? Offensichtlich kaum etwas, denn die eigentliche Bedeutung Nietzsches liegt auf ganz anderen Gebieten als die Stirnersche "Dekonstruktion" des "Einzigen", der "sein Sach auf Nichts gestellt hat".

Damit genug der Worte meinerseits, Sie finden den Artikel von Bernd A. Laska im Internet unter http://www.lsr-projekt.de/nietzsche.html.


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