Helmut Walther (Nürnberg)

Scherz, List und Rache

Die Lou-Episode: Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Lou Salomé

Vortrag vor der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg vom 30. Mai 2001

 

 

Dr. Paul Rée

Lou von Salomé

Friedrich Nietzsche (1882)

 

Zur Einleitung:

Lou Andreas-Salomé an Paul Rée über Nietzsche:

 

Tautenburg <Montag> 14 August [1882]

Es ist wieder die Zeit der Sonnenstrahlen, liebe Hüsung [Kosename für Paul Rée]. ... N., im großen Ganzen von eiserner Consequenz, ist im Einzelnen ein gewaltsamer Stimmungsmensch. Ich wußte, daß wenn wir verkehren würden, was wir Anfangs beide im Sturm der Empfindung vermieden, wir uns bald genug, über alles kleinliche Geschwätz hinweg, in unsern tiefverwandten Naturen finden würden. ... Im Wirthshause, wo unter den großen, breitästigen Linden gegessen wird, hält man uns für ebenso zusammengehörig wie mich und Dich, wenn ich mit der Mütze und Nietzsche ohne Elisabeth, ankomme.

Es plaudert sich ungemein schön mit N – doch das wirst Du besser wissen. Aber ein besonderer Reiz liegt im Zusammentreffen gleicher Gedanken, gleicher Empfindungen und Ideen, man kann sich beinah mit halben Worten verständigen. Einmal sagte er, davon frappirt: »Ich glaube, der einzige Unterschied zwischen uns ist der des Alters. Wir haben gleich gelebt und gleich gedacht.« ...

Meine Abhandlung über die Frau hat er allein gelesen und fand den Stil des ersten Theils abscheulich. Was er sonst gesagt, ist gar zu weitläufig zu schreiben. Zuletzt gab er mir die Hand und sagte in ernstem und bewegtem Tone: »Vergessen Sie niemals, daß es ein Jammer wäre, wenn Sie nicht ein < ... > Den<km>al Ihres innersten, < ... > vollen Geistes setzten, solange Sie zu leben haben.« Letzteres bezieht sich auf seine verzweifelt schlechte Meinung betreffs meiner Gesundheit. Denke nur, er hatte schon medicinische Studien für mich gemacht.

... Die Erinnerung an unsere italienische Zeit kommt uns ... er sagte: »monte sacro, – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.« – Wir sind sehr heiter miteinander, wir lachen viel. ...

 

Freitag den 18ten August.

Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida einmal aus Italien von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen. Der religiöse Grundzug unserer Natur ist unser Gemeinsames und vielleicht gerade darum so stark in uns hervorgebrochen, weil wir Freigeister im extremsten Sinne sind. Im Freigeiste kann das religiöse Empfinden sich auf kein Göttliches und keinen Himmel außer sich beziehen, in denen die religionsbildenden Kräfte wie Schwäche, Furcht und Habsucht ihre Rechnung fänden. Im Freigeiste kann das durch die Religionen entstandene religiöse Bedürfen, – jener edlere Nachschößling der einzelnen Glaubensformen, – gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, zur heroischen Kraft seines Wesens werden, zum Drang der Selbsthingabe einem großen Ziele.

In N.’s Charakter liegt ein Heldenzug und dieser ist das Wesentliche an ihm, das, was allen seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit giebt. – Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt.

Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern. ... Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe gerathen, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.

Sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten jener Vorstellungen über mein Empfinden, welche N. noch vor wenigen Wochen beseligten, der uns trennt, der sich zwischen uns schiebt. Und in irgend einer verborgenen Tiefe unseres Wesens sind wir weltenfern von einander –. N. hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manchen dunklen Verließ & verborgenen Kellerraum der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt & doch sein Eigentlichstes enthalten kann.

Seltsam, mich durchfuhr neulich der Gedanke mit plötzlicher Macht, wir könnten uns sogar einmal als Feinde gegenüberstehen.

 

Montag. 21 August.

N. lachte sehr darüber als er gestern Dein Bild von meinem Schreibpult nahm ... – bei der Gelegenheit vertieften wir uns in die Züge des Bildes und ich sagte ihm, man könne Deinen ganzen Charakter darin wiederfinden. ... Dein Äußeres ist sprechender als das von N. dessen Charakterzüge man schwerlich aus seinem Bilde herausstudiren könnte. – Ihr differirt am meisten darin, daß bei N. das rückhaltlose Streben nach Erkenntniß gleichsam die zusammenfassende Kraft seines Wesens ist, welche alle seine verschiedensten Triebe und Eigenschaften in einem Griffe hält, – eine Art religiöser Kraft die den ganzen Menschen in eine hingebungsvolle Richtung zu diesem seinen Gott der Erkenntniß bringt. ...

... Eure oben erwähnte Verschiedenheit spricht sich auch sehr deutlich in kleinen Zügen aus. Z. B. in Euren Stilansichten. Dein Stil will den Kopf des Lesenden überzeugen und ist darum wissenschaftlich klar und streng, mit Vermeidung aller Empfindung. N. will den ganzen Menschen überzeugen, er will mit seinem Wort einen Griff in das Gemüth thun und das Innerste umwenden, er will nicht belehren sondern bekehren.

... Du hast nicht in dem Maße wie N., – der Egoist in großem Stil, – das Herz im Gehirne stecken und unlöslich mit demselben verbunden. –

Für uns Freidenker, welche nichts Heiliges mehr haben, was sie als religiös oder moralisch groß anbeten könnten, giebt es trotzdem noch Größe, welche uns zu Bewunderung, ja zu Ehrfurcht zwingt. Ich ahnte diese Größe an N. schon als ich Dir an den italienischen Seen von ihm sagte: sein Lachen sei eine That.

Es giebt keine Werthschätzung der Richtungen mehr, die der Mensch einschlägt, – aber es giebt eine Größe der Kraft.

 

Aus: Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé, Die Dokumente ihrer Begegnung, hg. v. E. Pfeiffer, Insel Verlag Frankfurt 1970 S. 181-190


 

 

1. Vorlauf Nietzsches vom Herbst 1881 bis April 1882 Sils – Genua – Messina:

Im Herbst 1881 treffen wir Nietzsche, der seine Basler altphilologische Professur 1879 endgültig aufgegeben hatte und als „fugitivus errans“ durch Europa streifte, in Sils Maria an, im Engadin direkt hinter St. Moritz 1800 m hoch gelegen, wohin er am 4. Juli des Jahres zum ersten Male gekommen war; er hat soeben die „Morgenröte“ abgeschlossen und arbeitet an deren Fortsetzung, die später den Namen „Fröhliche Wissenschaft“ erhalten wird.

Anfang August überfällt ihn bei einem Spaziergang am Silvaplaner See, bei einem „mächtigen Felsblock unweit Surlej“[1], der Ewige-Wiederkunftsgedanke, den er als Aphorismus 341[2] in dieses sein neues Buch aufnimmt.

Da der Engadin im September bereits erste Schneefälle erlebt und die Temperatur sehr kühl werden kann, entschließt sich Nietzsche, Anfang Oktober nach Genua zu gehen, wo er nach mehreren Umzügen ein ihm genehmes Zimmer findet. Mit seiner Gesundheit steht es wie so oft schlecht: Neben dem Augenleiden und den Anfallsleiden samt Galle-Erbrechen plagen ihn „hohle Zähne“ mit Zahnschmerzen, und da es in Genua keine Öfen gibt, kommt noch ein Blasenleiden hinzu: „Was für Anfälle habe ich hinter mir!“ Am 27. November hört er zum ersten Mal Carmen – und ist sofort begeistert: In Bizets Oper meint er ein mit seiner Auffassung von Musik übereinstimmendes Gegenbeispiel zu Wagner gefunden zu haben.

Ende Januar 1882 notiert er: „Ich bin seit einigen Tagen mit Buch VI, VII und VIII der >Morgenröthe< fertig, und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und 10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten – ich bin noch nicht reif genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schlußbüchern darstellen will. Ein Gedanke ist darunter, der in der That >Jahrtausende< braucht, um etwas zu werden. Woher nehme ich den Mut, ihn auszusprechen?“ – und so stattet er mit dem „Sanctus Januarius“[3] seinen Dank an diesen Genueser Januar ab und weiht sich im direkt folgenden Aphorismus seinem amor fati.[4]

Am 4. Februar besucht Paul Rée[5] Nietzsche und bringt die langerwartete Schreibmaschine mit, deren Kosten Nietzsches Schwester Elisabeth übernommen hatte. Leider erweist sich diese als recht reparaturanfällig und so stellt Nietzsche seine diesbezüglichen Versuche bald wieder ein.

An die Familie schreibt er: „Rée und ich waren gestern an jener Stelle der Küste, wo man mir in hundert Jahren (oder 500 oder 1000 [...]) ein Säulchen zu Ehren der >Morgenröthe< aufstellen wird. Wir lagen fröhlich wie zwei Seeigel in der Sonne.“ – an jener Stelle, an der ihn sein „Zarathustra“ überfallen hatte.

Vom 1.-3. März 1882 fährt er mit Rée nach Monaco, denn dieser spielt gerne – Nietzsche hingegen beobachtet nur, und hält Rée vor größeren Verlusten zurück. Übrigens besitzt er selbst ein Los bei der Mailänder Lotterie.

In der ersten Märzhälfte erscheint ein Bericht über Nietzsche im Berliner Tageblatt – und bereits hier, in seinem Bericht an Overbeck darüber, taucht die Formulierung einer „zweijährigen Ehe“ auf („ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können“), also noch ganz ohne Bezug auf Lou, welche Formulierung später zu folgenreichen Mißverständnissen führen wird, obwohl Nietzsche offensichtlich nur diese an Overbeck verwendete Formulierung wiederholt.

Am 13. März reist Rée nach Rom zu Malwida von Meysenbug[6] ab, offenbar wieder über Monte Carlo, wo er alles Bargeld verspielt. Am 15./16. März trifft er in Rom ein.

Am 21. März antwortet Nietzsche auf Rées (verlorenen) Brief über Lou: „Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus – in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren thun will brauche ich sie. Ein ganz anderes Capitel ist die Ehe – ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verstehen, und auch dies nur in Anbetracht dessen, was ich in den nächsten 10 Jahren zu thun habe.“ Ganz offenbar greifen hier die Wünsche Nietzsches, wie er sie soeben Overbeck gegenüber nach einem „intelligenten und unterrichteten jungen Menschen“ geäußert hatte, und das, was ihm Rée nun von Lou Salomé berichtete, direkt ineinander, und so wiederholt Nietzsche hier den Gedanken von der „zweijährigen Ehe“, ganz sicherlich ohne sich konkret etwas dabei zu denken, denn er kennt Lou ja noch gar nicht.

Am 27. März schreibt auch Malwida von Meysenbug an Nietzsche im Hinblick auf Lou: „Ein sehr merkwürdiges Mädchen ... scheint mir ungefähr im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt zu sein, wie bis jetzt Sie, d. h. zum praktischen Idealismus, mit Beiseitelassung jeder metaphysischen Voraussetzung und Sorge um die Erklärung metaphysischer Probleme. Rée und ich stimmen in dem Wunsche überein Sie einmal mit diesem ausserordentlichen Wesen zusammen zu sehen...“

Ganz unerwartet – und in den Motiven schwer nachvollziehbar – reist Nietzsche daraufhin am 29. März nicht etwa nach Rom, sondern mit einem Segelfrachter nach Messina. Er hatte es also nicht besonders eilig, jene „junge Russin“ zu treffen. Am 20. April schreibt Paul Rée an Nietzsche nach Messina:

„Sie haben am meisten die junge Russin durch diesen Schritt in Erstaunen und Kummer versetzt. Dieselbe ist nämlich so begierig geworden, Sie zu sehen, zu sprechen, daß sie deshalb über Genua zurückreisen wollte, und sie war sehr zornig, Sie so ganz entrückt zu sehen.

Sie ist ein energisches, unglaublich kluges Wesen mit den mädchenhaftesten, ja kindlichsten Eigenschaften. Sie möchte sich so gern, wie sie sagte, wenigstens ein nettes Jahr machen, und das sollte nächsten Winter sein. Dazu rechnet sie als nöthig Sie, mich und eine ältere Dame, wie Fräulein Meysenbug, ... aber diese hat keine Lust. [...] Ich halte bei Fräulein von Meysenbug Vorträge über mein Buch, was mich einigermaßen fördert, zumal auch die Russin zuhört, welche Alles durch und durch hört, so daß sie in fast ärgerlicher Weise schon immer vorweg weiß, was kommt, und worauf es hinaus soll. Rom wäre nicht für Sie.

Aber die Russin müssen Sie durchaus kennenlernen.“

 

2. Lou Salomés Jugend

Die Familie des Vaters Gustav Salomé (1804-1879), der 6jährig 1810 nach Petersburg kommt, stammt von südfranzösische Hugenotten ab; er ergreift erfolgreich die militärische Laufbahn, wird 1831 durch Zar Nikolaus I. in den Adelsstand erhoben und im Generalstab Inspektor der zaristischen Armee. Er wird als von gallisch heißblütigen Temperament geschildert, pflegt geistige Interessen und soll gar mit Puschkin befreundet gewesen sein. Im Jahr 1844 heiratet er Louise Wilm (norddeutsch-dänischer Abstammung); aus der Ehe gehen 5 Knaben und als jüngstes Kind am 12.2.1861 Louise hervor. In der Familie wird deutsch, französisch und russisch gesprochen.

Lou verlebte in dieser Familiensituation eine glückliche Kindheit als Liebling des Vaters; auf dessen Betreiben hin gründete sich in Petersburg mit Genehmigung des Zaren eine deutsche reformierte Gemeinde unter Leitung des dogmatischen Pastors Dalton. Lou, der schon in diesem Alter Gott fragwürdig geworden war, verweigerte sehr zum Unwillen der Familie, insbesondere des erkrankten Vaters, die Konfirmation. Anläßlich dieser Auseinandersetzungen beschreibt ihre Mutter 1879 in einem Brief das Wesen Lous: „...Du bittest mich, liebevoll gegen sie zu sein, aber wie ist das möglich bei einem so starren Charakter, der immer und in Allem nur seinen Willen durchsetzt ...“

Ihre aus dem Gottesverlust herauswachsende Grundeinstellung bezeichnet sie selbst als „dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist.“ Und selbst noch im Alter konnte sie den „Gott-Verlust“ als ein „Unglück“ für sich bezeichnen.

Parallel dazu existierte in Petersburg noch eine Gemeinde der holländischen Gesandtschaft, der als Pastor Hendrik Gillot vorstand. Dieser war 1873 mit 37 Jahren nach Petersburg gekommen, galt als brillanter Kopf und predigte deutsch und holländisch.

18-jährig gerät Lou in seinen Bann, als sie ihn bei einer seiner Predigten hört; sie sucht ihn auf, und er nimmt sie als Schülerin an. Ausweislich ihrer Hefte beschäftigt sie sich unter seiner Anleitung mit vielfältigen philosophischen, literarischen und religiösen Themen.[7]

Gillot ist 25 Jahre älter und Vater zweier mit Lou fast gleichaltriger Töchter; trotzdem betreibt er die Auflösung seiner Ehe, um sich Lou zuwenden zu können und macht ihr einen Heiratsantrag. Lou hat es also von Anfang an mit den Männern nicht leicht ... Auch liegt für Lou offenbar der Reiz dieses Verhätnisses – wie sie sich dann später bei ihrem Ehemann ausdrückt – nicht in der körperlichen Erfülltheit, sondern „im gemeinsamen Knien“.

Deshalb lehnt sie natürlich schroff ab, ein sinnliches Liebesverhältnis will sie gerade nicht, diese Vermischung von geistigen und „niedrigeren“ Bedürfnissen. In dieser wie auch in späteren Beziehungen ist sie die Nehmende, die in denjenigen Wünschen, die sie beim jeweiligen Gegenüber weckt, nicht zu geben bereit ist. Die Freundschaft zu Gillot bleibt zwar bestehen, Lou aber war klar, daß sie nun fort mußte. So kommt es 1880 – nach dem Tod des Vaters 1879 – zu einer letzten Reise mit Gillot und der Mutter nach Holland: Lou braucht die Konfirmation, die sie bislang standhaft verweigert hatte, da ihr sonst kein Paß ausgestellt worden wäre, um in Europa zu reisen. Die „Feierlichkeit“ wird von Gillot genau nach den Vorstellungen Lous durchgeführt und besiegelt gleichzeitig die Trennung von diesem. Er tauft sie dabei in einer „lästerlichen holländischen Rede“, wie sie selbst sagt, auf den Namen „Lou“.

Im September 1880 reist sie endgültig zusammen mit der Mutter nach Zürich ab: Die dortige Universität nimmt als einer der ersten auch Frauen zum Studium an; da Lou keinen entsprechenden Schulabschluß hat, führt man dort eine Art „Prüfung“ durch und nimmt sie als Studentin an. Sie hört unter anderem allgemeine Religionsphilosophie, Religionsgeschichte, Logik, Metaphysik, Archäologie und Geschichte.

Der Ausbruch einer Lungenkrankheit erzwingt die Unterbrechung des Studiums; da man nach damaliger Ansicht zur Heilung ein warmes Klima für günstig hält, wenden sich die beiden Frauen nach Rom, wo sie im Februar 1882 eintreffen; auf ein Empfehlungsschreiben hin führt Malwida von Meysenbug Lou am 11.2.1882 in ihre Kreise ein.

 

3. Rom – Orta – Schweiz – Bayreuth

Bei Malwida in der Via Polveriera 6 in Rom versammelte sich abends häufig ein fester Kreis der römischen Gesellschaft zu Gesprächen und Vorträgen, an denen sich sogleich auch Lou als anerkanntes Mitglied beteiligte.

Nun also trifft Dr. Paul Rée, mittellos aus Monte Carlo von Nietzsche in Genua kommend, um den 15.3.1882 in Rom ein und wendet sich direkt an Malwida, um seine Reiseschulden bezahlen zu können. Auf nächtlichen Spaziergängen verliebt er sich alsbald so in Lou, daß er bei ihrer Mutter um ihre Hand anhält; natürlich wird auch er – gleich Gillot – behutsam aber bestimmt zurückgewiesen und auf ein Freundschafts- und Arbeitsverhältnis festgelegt.

Von großer Bedeutung für die Einschätzung und den Verlauf der von Lou ins Auge gefaßten „Dreieinigkeit“ ist wohl ihr Schreiben an Hendrik Gillot von Ende März 1882, wohlgemerkt also zu einem Zeitpunkt, als sie Nietzsche persönlich noch gar nicht kennengelernt hatte. Darin formuliert sie ihre Ziele im Hinblick auf beide Männer, die für sie bereits feststehen: „...um so viel ältere und überlegene Männer wie Rée, Nietzsche und andere könnte ich nicht richtig beurteilen. Darin täuschen Sie sich nun aber. Das Wesentliche (und das Wesentliche ist menschlich für mich nur Rée) weiß man entweder sofort oder garnicht.“

Nietzsche, von Messina kommend, trifft am 23. oder 24. April in Rom ein, und wird, nachdem er sein nach Reisen übliches Anfallsleiden hinter sich gebracht hat, von Malwida herzlich empfangen, und auf seine Frage nach Rée zum Petersdom verwiesen, wo sich dieser und Lou gerade aufhalten. Lou in ihrem Lebensrückblick: „Dieses Feierlichen entsinne ich mich schon von unserer allerersten Begegnung her, die in der Peterskirche stattfand, wo Paul Rée, in einem besonders günstig zum Licht stehenden Beichtstuhl, seinen Arbeitsnotizen mit Feuer und Frömmigkeit oblag und wohin Nietzsche deshalb gewiesen worden war. Seine erste Begrüßung meiner waren die Worte: »Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?«“

Zu dieser etwas hochtrabenden Begrüßungsformel darf sich Nietzsche einerseits aus dem Vorlauf heraus berechtigt halten, nachdem ihm Lou von Rée und Malwida brieflich gerühmt worden war; des weiteren dürfte diese Formulierung alles andere als spontan gefallen sein, vielmehr hatte sich Nietzsche sicherlich überlegt, wie unter diesen Umständen am ehesten Eindruck zu machen sei – nun, das scheint ihm gelungen zu sein ...

In ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken gibt Lou eine ausführliche Beschreibung vom Äußeren und Auftreten Nietzsches, welche die Erscheinung und Wirkung Nietzsches plastisch wiedergibt: daß „der Gesamtausdruck seines Wesens bereits völlig vom tief bewegten Innenleben durchdrungen war, und selbst noch in dem bezeichnend blieb, was er zurückhielt und verbarg. Ich möchte sagen: dieses Verborgene, die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit, – das war der erste, starke Eindruck, durch den Nietzsches Erscheinung fesselte.“ ... „Ich erinnere mich, daß, als ich Nietzsche zum ersten Male sprach, – es war an einem Frühlingstage in der Peterskirche zu Rom, – während der ersten Minuten das gesucht Formvolle an ihm mich frappierte und täuschte.“

Auch Nietzsche hat in seiner sofort aufflammenden Begeisterung nichts Eiligeres zu tun, als Lou, und zwar ausgerechnet vermittelt durch Rée, einen Heiratsantrag zu machen – und Lou hatte damit in kurzer Zeit bereits den 3. Antrag zurückzuweisen.[8]

Aus dem ganzen Ablauf ist zwingend zu schließen, daß Rée Nietzsche über seinen eigenen Antrag keinen reinen Wein eingeschenkt hat, und so kommt bereits ganz am Anfang zwischen die beiden Freunde durch das beiderseitige Werben um Lou eine ungute Note hinein, indem Rée und Lou immer bereits mehr wissen als Nietzsche; die beiden beraten sich auch gegenseitig, wie man Nietzsche einerseits die Heiratspläne ausredet, ohne ihn andererseits völlig zu verprellen. Merkwürdigerweise machen sich beide aus dieser Schieflage, in die sie Nietzsche damit bringen, keinerlei Gewissen. Lou wohl aus „geistigem Egoismus“, weil sie ihre Wißbegierde in philosophicis bei Nietzsche stillen will, und Rée aus Eifersucht, um Lou für sich zu gewinnen. Bei einem Denker wie Rée, der über die entwicklungsgeschlichtliche Erklärbarkeit des Gewissens promoviert und ein Buch über den Ursprung der moralischen Empfindungen veröffentlicht hat, verwundert das etwas und bestätigt wohl seine eigene These: „Progressus moralis nullus est in rebus humanis“ ... [Der moralische Fortschritt ist gleich Null in den (zwischen)menschlichen Angelegenheiten.]

Von all dem bemerkt Nietzsche in seiner Begeisterung natürlich nichts, vielmehr werden eifrig Pläne geschmiedet, wie und wo die „Dreieinigkeit“ in nächster Zeit sich zu Studienzwecken niederlassen könnte, Wien und Paris sind im Gespräch – was unter den damaligen Umständen wohl nur unter Heranziehung einer „Anstandsdame“ möglich schien.

Lou: „Das noch Unerwartetere geschah, daß Nietzsche, kaum hatte er von Paul Rées und meinem Plan erfahren, sich zum Dritten im Bunde machte. Sogar der Ort unserer künftigen Dreieinigkeit wurde bald bestimmt: das sollte (ursprünglich für eine Weile Wien) dann Paris sein, wo Nietzsche gewisse Kollegs hören wollte und wo sowohl Paul Rée von früher her als auch ich durch St. Petersburg Beziehungen ... besaßen. ... Aber am liebsten hätte Malwida gesehen, wenn Frau Rée ihren Sohn und Fräulein Nietzsche den Bruder begleitet hätte.“

Am 27. April 1882 wollten Nietzsche und Rée zunächst an den oberitalienischen Seen einen idyllischen Ort suchen, wohin Lou und deren Mutter dann nachkommen würden. Da Nietzsche in diesem Moment wieder ein mehrtägiger Anfall niederwarf und Rée ihn in Rom pflegte, reisten die Damen voraus an den Orta-See, wohin die Herren dann nachkamen.

Über den dortigen Aufenthalt der seltsamen Reisegruppe steht nur fest, daß man einige Tage Anfang Mai gemeinsam verblieb, da Nietzsche bereits am 8. Mai bei Overbeck in Basel eintraf und dort von Lou erzählte. Wie letzterer berichtet, gab sich Nietzsche voller Schwung und Lebenslust, ohne in diesen Tagen des Zusammenseins auch nur einen Anfall zu haben wie gewöhnlich sonst. Was hatte Nietzsche so beflügelt?

Nun, an einem der Tage am Orta-See, am 5. Mai, hatte es Nietzsche tatsächlich dazu gebracht, allein mit Lou einen Ausflug zum Monte Sacro zu unternehmen, während Rée die von den vorhergehenden Besichtigungen ermüdete Mutter unterhielt. Dieser Ausflug zog sich für den eifersüchtigen Rée und die Mutter, die sich natürlich um ihre Tochter wegen deren Ausbleiben sorgte, „ungebührlich“ lange hin. Lou dazu in ihrem Lebensrückblick:

„Wir machten zusammen zwischendurch Station, z. B. in Orta an den oberitalienischen Seen, wo der nebengelegene Monte sacro uns gefesselt zu haben scheint –, wenigstens ergab sich eine unbeabsichtigte Kränkung meiner Mutter dadurch, daß Nietzsche und ich uns auf dem Monte sacro zu lange aufhielten, um sie rechtzeitig abzuholen, was auch Paul Rée, der sie inzwischen unterhielt, sehr übel vermerkte.“

Bei diesem Spaziergang und den dabei geführten Gesprächen waren sich Nietzsche und Lou ganz offensichtlich näher gekommen, aber wie nahe? Haben sie nun oder nicht? Wohl eine der spannendsten Kußfragen in der Weltliteratur, die unbeantwortet bleiben muß.[9]

Von Luzern aus schrieb Nietzsche dann am 8. Mai an Rée und vereinbarte einen Treffpunkt in Luzern im sogenannten Löwengarten: „Ich muß durchaus Frl. L. noch einmal sprechen.“

Bei diesem Treffen am 13. Mai machte er Lou erneut einen Antrag, der aber wiederum abgewiesen wurde; jedenfalls bewahrte Nietzsche Haltung und man blieb noch bis zum 16. Mai zusammen. Lou berichtet darüber in ihrem Lebensrückblick (S. 81):

„Nachdem wir Italien verlassen, machte Nietzsche einen Sprung nach Basel zu Overbecks, kam aber von dort gleich nochmals mit uns in Luzern zusammen, weil ihm nun hinterher Paul Rées römische Fürsprache für ihn ungenügend erschien und er sich persönlich mit mir aussprechen wollte, was dann am Luzerner Löwengarten geschah. Gleichzeitig betrieb Nietzsche auch die Bildaufnahme von uns Dreien, trotz heftigem Widerstreben Paul Rées, der lebenslang einen krankhaften Abscheu vor der Wiedergabe seines Gesichts behielt. Nietzsche, in übermütiger Stimmung, bestand nicht nur darauf, sondern befaßte sich persönlich und eifrig mit dem Zustandekommen von den Einzelheiten – wie dem kleinen ... Leiterwagen, sogar dem Kitsch des Fliederzweiges an der Peitsche usw.“

Nietzsche ging anschließend nach Naumburg, wo er die Herstellung des Druckmanuskripts der Fröhlichen Wissenschaft vorantrieb, Rée fuhr nach Hause auf das Gut seiner Eltern in Stibbe/Ostpreußen, während sich die Damen über Zürich und Hamburg nach Berlin begaben, inzwischen unter weiterer Begleitung des Lou-Bruders Eugène, den die Familie zur Abholung der Mutter abgesandt hatte. Denn Lou hatte sich schließlich durchgesetzt und wurde von ihrem Bruder nun quasi der Familie Rées übergeben, dessen Mutter Lou wie eine Pflegetochter aufnahm.

Am 25. Mai schrieb Nietzsche von Naumburg aus an Lou: „... Die Nachtigallen singen die ganzen Nächte durch vor meinem Fenster. Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich es bin und sein kann: beachten Sie diesen Unterschied wohl! – Wenn ich ganz allein bin, spreche ich oft, sehr oft Ihren Namen aus – zu meinem größten Vergnügen!“

Es wird hier natürlich überdeutlich, daß Nietzsche auch in Lou verliebt ist, womöglich, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, sonst hätte er wohl nicht so banale Formulierungen gewählt ... – und dies mußte durch solch „romantische“ Formulierungen auch Lou klar sein; gleichzeitig aber und zwiespältig weist er immer wieder von sich weg und auf Rée hin – das Werk steht für ihn immer im Vordergrund, auch „wenn einmal >das wilde Thier< den Kopf durch den Käfig steckt ...“

Waren die Pläne für die vorgesehene „Dreieinigkeit“ von gemeinsamen Studien in Wien oder Paris auch noch ganz unausgegoren, so stand doch schon fest, daß Lou zu den diesjährigen Festspielen mit der Uraufführung des Parsifal gehen sollte; Nietzsche würde sie dabei bis Bayreuth begleiten, im Stillen wohl immer noch hoffend, von Wagner in angemessener Form dazu eingeladen zu werden – daher wählte er unter Assistenz seiner Schwester ein nicht allzu weit entferntes Domizil in Tautenburg, wo er sich am 25. Juni hin begab. Rée hingegen blieb in Stibbe, was ihm einerseits nicht gerade leicht fiel, da er Lou nun für einige Zeit der Bayreuther Gesellschaft und später Nietzsche allein „überlassen“ mußte – aber erleichtert wurde ihm dies dadurch, daß er sich im Gegensatz zu Nietzsche mit Lou längst duzte und von ihr fast täglich mit Tagebuch-Briefen auf dem Laufenden gehalten wurde (wovon Nietzsche natürlich auch nichts wußte).

Dieser hatte Lou mit Brief vom 27. Juni mitgeteilt, daß er nun endlich seine Schwester von ihrem Vorhaben unterrichtet habe, und daß diese in Tautenburg die Rolle der Anstandsdame übernehmen würde; daraufhin sagt Lou für den von Nietzsche vorgeschlagenen Sommerurlaub für Anfang August nach den Festspielen in Bayreuth am 30. Juni zu. Nietzsche bedankt sich am 2. Juli euphorisch für die Zusage: „Nun ist der Himmel über mir hell! Gestern Mittags ging es bei mir zu wie als ob Geburtstag wäre.“

Wie er selbst zu dieser Zeit Lou und sein Verhältnis zu ihr gesehen haben will – was ja durchaus etwas anderes sein kann, als an potentiellen Wunschvorstellungen auch sonst noch vorhanden gewesen sein mag – teilt er am 13. Juli Peter Gast brieflich mit:

»...Lou ... ist zwanzig Jahre alt ... scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe und zuletzt doch ein sehr mädchenhaftes Kind ... Nach Bayreuth kommt sie zu mir, und im Herbst siedeln wir zusammen nach Wien über. Wir werden in einem Hause wohnen und zusammen arbeiten; sie ist auf die erstaunlichste Weise gerade für meine Denk- und Gedankenweise vorbereitet. Lieber Freund, Sie erweisen uns beiden sicherlich die Ehre, den Begriff einer Liebschaft von unserm Verhältniß fernzuhalten. Wir sind Freunde und ich werde dieses Mädchen und dieses Vertrauen zu mir heilig halten. – Übrigens hat sie einen unglaublich sicheren und lauteren Charakter.«

Jedenfalls ist Nietzsche sich offensichtlich zumindest über seine „offizielle“ und „objektive“ Stellung zu Lou im Klaren, und von seiner Seite sah nun alles auf’s Schönste geordnet aus – auch etwa in der Richtung, nun endlich mit Rée, bei dem Lou derzeit noch in Stibbe weilte, in eine Art Wettstreit um Lou zu treten, wenn er sich nur über längere Zeit allein mit ihr austauschen konnte. Weder konnte er wissen, daß Lou – und zwar schon von Anfang an – zu Paul Rée schon ein ganz anderes Verhältnis, teilweise hinter seinem Rücken, aufgebaut hatte (und beide, wie der Briefwechsel zeigt, davon ein Bewußtsein hatten), noch konnte er ahnen, daß Eifersucht und Moralvorstellungen seiner Schwester, die Lous Gebaren anläßlich des Parsifal in Bayreuth erlebte, derart viel Gift in die Beziehung mischen würde.

Während Nietzsche sich wieder nach Tautenburg begab und, auf Lou wartend, an der Korrektur der Fröhlichen Wissenschaft weiterarbeitete, traf sich diese am 24. Juli in Leipzig mit Elisabeth Nietzsche und beide reisten zusammen nach Bayreuth. Die Uraufführung des Parsifal fand am 26. Juli statt, die beiden Damen hatten Karten für die zweite Aufführung am 28. Juli. Malwida führte Lou in Wahnfried ein, wo sich in Wagners Haus an den Zwischenabenden jeweils die „feine Gesellschaft“ traf. Dabei gibt Lou ihre fehlende Musikalität ohne Umschweife zu – weder der Parsifal noch überhaupt Wagners Musik, aber auch nicht dessen Person gewinnen in ihrem Leben irgendeine besondere Bedeutung. Hier fehlt ganz offensichtlich jene für Nietzsche sonst so wichtige zwischenmenschliche Brücke der Musik zu Lou, was doch wohl auf tiefgreifende Persönlichkeitsunterschiede trotz aller vordergründigen Ähnlichkeit des „Philosophierens“ schließen läßt – beider Wege und Ziele sind völlig verschieden, ihre „Gemeinsamkeit“ gleicht so eher dem zufälligen Zusammentreffen auf einer Wegkreuzung. Und so hat Lou in ihrem Nietzsche-Buch auch nicht den entsprechenden Zugang zu dieser bedeutsamen Seite an Nietzsche, der selbst nicht müde wird, den Einfluß der Musik auf sein philosophisches Werk zu betonen.

Lou fand sich offensichtlich, als junge Frau von interessanter Erscheinung und blitzendem Geist nicht verwunderlich, durchaus im Mittelpunkt der Galanterie der jungen Herren. Dies offenbar in so „unkonventioneller“ Weise, daß der Tratsch darüber gar bis nach Stibbe drang und Rée in Eifersucht versetzte, während die doch gewiß freidenkende Malwida noch ein halbes Jahr später an Nietzsche schrieb: „Aber seit Bayreuth weiß ich nicht mehr recht, was ich von ihr denken soll ...“

Elisabeth, die bereits 36-jährig immer noch ein unumworbenes Mauerblümchendasein führte und ihr Selbstbewußtsein vor allem aus der Bedeutung des Bruders sog, bekam dies alles natürlich aus nächster Nähe mit – und diese Lou sollte nun ihre Rivalin bei ihrem Bruder sein?! Die sich einerseits so „skandalös“ benahm, mit Männern schäkerte, andererseits sich mit der intimen Kenntnis der Philosophie und als vertraute Freundin Nietzsches brüstete und gleichzeitig zum Gelächter der Betrachter überall das Luzerner Peitschen-Foto herumzeigte?! Nimmermehr konnte sie es zulassen, daß ihr Bruder einem so „leichtfertigen“ Mädchen verfiel – und so hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Bruder nach Naumburg, wo dieser sich wegen schlechten Wetters zwischenzeitlich hinbegeben hatte, brieflich Bericht über ihre Sicht der Dinge zu erstatten. Damit beginnen in Nietzsche Zweifel zu nagen, die er etwa Gast gegenüber, vor allem aber auch Lou in einem Brief andeutet. Da Lou derartige Unterstellungen zurückweist, lenkt er schließlich am 4. August ein: „Kommen Sie ja, ich bin zu leidend, Sie leidend gemacht zu haben. Wir ertragen es miteinander besser.“ – und Lou sagt nun für den 7. August in Tautenburg zu.

Elisabeth, die ihrer Rivalin nicht nachgeben will und kann, trifft sich mit Lou an diesem Tag in Jena, von wo aus es nach Tautenburg gehen soll. In Jena im Hause der befreundeten Familie Gelzer kommt es unversehens zum Eklat: Elisabeth, die bis dahin von Lou noch beinahe als „Schwester“ gesehen wird, der sie „herzlich dankbar“ ist, konfrontiert sie unversehens mit ihrem „unsoliden“ Bayreuther Lebenswandel, was dem Ansehen ihres Bruders unzuträglich sei – und da schlägt Lou eiskalt zurück.[10]

Elisabeth hat die Worte Lous in einem Schreiben an Frau Gelzer überliefert – und hier scheint sie in ihrer frischen Empörung durchaus einmal die Wahrheit zu sprechen[11]:

„Wer hat zuerst den Plan des Zusammenseins mit den niedrigsten Absichten beschmutzt, wer hat erst mit der Geistesfreundschaft angefangen, als er mich nicht zu etwas Anderem haben konnte, wer hat zuerst an eine wilde Ehe gedacht, das ist dein Bruder!“ Und noch einmal bekräftigend: „Ja wohl dein edler rein gesinnter Bruder hatte zuerst die schmutzige Absicht einer wilden Ehe!“

Und weiter ging’s am späteren Abend bereits in Tautenburg: „Denke nur nicht, daß ich mir etwas aus deinem Bruder mache oder in ihn verliebt bin, ich könnte mit ihm in einer Kammer zusammen schlafen ohne aufrührerische Gedanken.“

Es sollen hier nicht die Fragwürdigkeit der einschlägigen Informationen und Mutmaßungen näher untersucht werden[12] – meiner Meinung nach muß hier insbesondere das Verhalten von Lou und Rée entsprechend beachtet werden, weil darin ein wichtiges Motiv für die späteren scharfen Reaktionen Nietzsches zu finden ist, hinter dessen Rücken das doch alles läuft. Sowohl von Lou als von Rée – die sich beide Einiges auf ihre philosophischen und psychologischen Fähigkeiten zugute halten – hätte man mehr Souveränität in ihrem Verhalten erwarten dürfen. Rées Absicht, Nietzsche in ein fragwürdiges Licht zu stellen (und zwar noch, bevor Nietzsche umgekehrt in denselben Fehler verfiel!) ist jedenfalls eindeutig – was Lou in diesem Falle nicht rügt (wie dann bei Nietzsche), sondern ganz im Gegenteil, bedenkenlos läßt sie sich von Rée munitionieren, und kaltblütig setzt sie diese Informationen gegen Elisabeth und damit indirekt auch gegen Nietzsche ein. Und damit begibt sie sich, sie, von der doch der Vorschlag zu jener „Dreieinigkeit“ ausging, wie Elisabeth zu Recht einwendet, auf das nämliche und kleinliche Niveau wie jene.

Normalerweise hätte nun eine der beiden Frauen sich zurückziehen müssen – aber der Kampf um das jeweils eigene Interesse an Nietzsche war offensichtlich wichtiger, und so nahmen es beide in Kauf, gemeinsam nach Tautenburg zu reisen und sogar unter einem gemeinsamen Dach zu wohnen!

 

4. Tautenburg

Lou schreibt weiterhin fortlaufend Tagebuchblätter für Rée, die sie ihm per Post zukommen läßt, wovon Nietzsche wiederum nichts weiß. Jedenfalls sind wir so in der glücklichen Lage, über umfangreiche authentische Berichte von jenen Tagen zu verfügen (Beiblatt)[13]:

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Tautenburg <Montag> 14 August

Es ist wieder die Zeit der Sonnenstrahlen, liebe Hüsung [Kosename für Paul Rée]. ... N., im großen Ganzen von eiserner Consequenz, ist im Einzelnen ein gewaltsamer Stimmungsmensch. Ich wußte, daß wenn wir verkehren würden, was wir Anfangs beide im Sturm der Empfindung vermieden, wir uns bald genug, über alles kleinliche Geschwätz hinweg, in unsern tiefverwandten Naturen finden würden. ... Im Wirthshause, wo unter den großen, breitästigen Linden gegessen wird, hält man uns für ebenso zusammengehörig wie mich und Dich, wenn ich mit der Mütze und Nietzsche ohne Elisabeth, ankomme.

Es plaudert sich ungemein schön mit N – doch das wirst Du besser wissen. Aber ein besonderer Reiz liegt im Zusammentreffen gleicher Gedanken, gleicher Empfindungen und Ideen, man kann sich beinah mit halben Worten verständigen. Einmal sagte er, davon frappirt: »Ich glaube, der einzige Unterschied zwischen uns ist der des Alters. Wir haben gleich gelebt und gleich gedacht.« ...

Meine Abhandlung über die Frau hat er allein gelesen und fand den Stil des ersten Theils abscheulich. Was er sonst gesagt, ist gar zu weitläufig zu schreiben. Zuletzt gab er mir die Hand und sagte in ernstem und bewegtem Tone: »Vergessen Sie niemals, daß es ein Jammer wäre, wenn Sie nicht ein < ... > Den<km>al Ihres innersten, < ... > vollen Geistes setzten, solange Sie zu leben haben.« Letzteres bezieht sich auf seine verzweifelt schlechte Meinung betreffs meiner Gesundheit. Denke nur, er hatte schon medicinische Studien für mich gemacht.

... Die Erinnerung an unsere italienische Zeit kommt uns ... er sagte: »monte sacro, – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.« – Wir sind sehr heiter miteinander, wir lachen viel. ...

Freitag den 18ten August.

Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida einmal aus Italien von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen. Der religiöse Grundzug unserer Natur ist unser Gemeinsames und vielleicht gerade darum so stark in uns hervorgebrochen, weil wir Freigeister im extremsten Sinne sind. Im Freigeiste kann das religiöse Empfinden sich auf kein Göttliches und keinen Himmel außer sich beziehen, in denen die religionsbildenden Kräfte wie Schwäche, Furcht und Habsucht ihre Rechnung fänden. Im Freigeiste kann das durch die Religionen entstandene religiöse Bedürfen, – jener edlere Nachschößling der einzelnen Glaubensformen, – gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, zur heroischen Kraft seines Wesens werden, zum Drang der Selbsthingabe einem großen Ziele.

In N.’s Charakter liegt ein Heldenzug und dieser ist das Wesentliche an ihm, das, was allen seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit giebt. – Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt.

Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern. ... Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe gerathen, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.

Sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten jener Vorstellungen über mein Empfinden, welche N. noch vor wenigen Wochen beseligten, der uns trennt, der sich zwischen uns schiebt. Und in irgend einer verborgenen Tiefe unseres Wesens sind wir weltenfern von einander –. N. hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manchen dunklen Verließ & verborgenen Kellerraum der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt & doch sein Eigentlichstes enthalten kann.

Seltsam, mich durchfuhr neulich der Gedanke mit plötzlicher Macht, wir könnten uns sogar einmal als Feinde gegenüberstehen.

Montag. 21 August.

N. lachte sehr darüber als er gestern Dein Bild von meinem Schreibpult nahm ... – bei der Gelegenheit vertieften wir uns in die Züge des Bildes und ich sagte ihm, man könne Deinen ganzen Charakter darin wiederfinden. ... Dein Äußeres ist sprechender als das von N. dessen Charakterzüge man schwerlich aus seinem Bilde herausstudiren könnte. – Ihr differirt am meisten darin, daß bei N. das rückhaltlose Streben nach Erkenntniß gleichsam die zusammenfassende Kraft seines Wesens ist, welche alle seine verschiedensten Triebe und Eigenschaften in einem Griffe hält, – eine Art religiöser Kraft die den ganzen Menschen in eine hingebungsvolle Richtung zu diesem seinen Gott der Erkenntniß bringt. ...

... Eure oben erwähnte Verschiedenheit spricht sich auch sehr deutlich in kleinen Zügen aus. Z. B. in Euren Stilansichten. Dein Stil will den Kopf des Lesenden überzeugen und ist darum wissenschaftlich klar und streng, mit Vermeidung aller Empfindung. N. will den ganzen Menschen überzeugen, er will mit seinem Wort einen Griff in das Gemüth thun und das Innerste umwenden, er will nicht belehren sondern bekehren.

... Du hast nicht in dem Maße wie N., – der Egoist in großem Stil, – das Herz im Gehirne stecken und unlöslich mit demselben verbunden. –

Für uns Freidenker, welche nichts Heiliges mehr haben, was sie als religiös oder moralisch groß anbeten könnten, giebt es trotzdem noch Größe, welche uns zu Bewunderung, ja zu Ehrfurcht zwingt. Ich ahnte diese Größe an N. schon als ich Dir an den italienischen Seen von ihm sagte: sein Lachen sei eine That.

Es giebt keine Werthschätzung der Richtungen mehr, die der Mensch einschlägt, – aber es giebt eine Größe der Kraft.

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Die Dokumente Lous sprechen für sich selbst; sie zeigen sowohl ihre Sicht des Verhältnisses der Personen untereinander wie auch ihre Auffassung der Philosophie Nietzsches, die sie aus erster Hand gewinnen durfte. Dabei ist ihr offenbar früher als Nietzsche klar, wie sehr ihre eigentlichen Anliegen auseinanderlaufen.

Neben der gemeinsamen Arbeit an den Aphorismen und der „Stilkunde“ sei hervorgehoben – und dies aus naheliegendem Grunde, da die Stellung Nietzsches zum Weibe ja weithin umstritten ist –, daß sich die beiden anläßlich von Aufzeichnungen von Lou zu diesem Thema auch darüber unterhielten und Nietzsche für Lou aufschlußreiche Aufzeichnungen fertigte.

Das Wissen um die bevorstehende Abreise verursacht Nietzsche offenbar wieder einen Anfall seines Kopf- und Magenleidens; am 25. August schreibt er ihr:

„Zu Bett. Heftigster Anfall. Ich verachte das Leben. FN.“

Doch am nächsten Tag rafft er sich zusammen: „Meine liebe Lou, Pardon für gestern! Ein heftiger Anfall meines dummen Kopfleidens – heute vorbei. Und heute sehe ich Einiges mit neuen Augen.–

Um 12 Uhr bringe ich Sie nach Dornburg [der Bahnstation]: – aber vorher müssen wir noch ein halbes Stündchen sprechen (bald, ich meine, sobald Sie aufgestanden sind.) Ja? – Ja! F.N.“

Mit der Abreise Lous am 26. August nach Stibbe auf das Gut von dessen Eltern bei Tütz in Westpreußen gingen für beide hochgestimmte und ergebnisreiche Tage zu Ende, wie sie Nietzsche – im Gegensatz zu Lou – nie mehr erleben sollte. Lou, die lebensklügere, hat sich stets eine ungetrübt positive Erinnerung an diese Tage bewahrt; anders Nietzsche, der sich heftigsten Vorwürfen seitens seiner Familie ausgesetzt sah.

 

5. Das Auseinandergehen

Er wandte sich zunächst nach Naumburg und unternahm einige Schritte, um die geplante Übersiedlung mit Lou und Rée nach Paris vorzubereiten. Und er paßt seine Komposition „Hymnus an die Freundschaft“ dem ihm von Lou überlassenen Text von deren „Lebensgebet“ an: „... ich habe Ihr Gebet an das Leben componirt ... Zuletzt, meine liebe Lou, die alte tiefe herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind! Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipiren, und schließlich muß man sich noch von dieser Emancipation emancipiren!“

Der Stellung Nietzsches zu Lou sei in Verbindung mit dieser „Bitte“ noch einmal grundsätzlich auf die Spur gegangen: Aus allem, was wir bisher gesehen haben, scheint sich eine zweifache Einstellung Nietzsches zu Lou herauszukristallisieren, wohingegen diejenige Lous gegenüber Nietzsche relativ einfach erscheint.

1. Nietzsches Hauptmotiv ist nach allen Äußerungen und deren jeweiliger Betonung philosophischer Natur, hierin selbst wieder dreifach geschichtet:

a) Er will im Zusammenwirken mit Lou „die Philosophie selbst“ voranbringen.

b) Er will Lou selbst auf ihrem eigenen Weg, wie er ihn selbst sich vorstellt, voranbringen.

c) Er sucht für sein eigenes Philosophieren einen „Bruder im Geiste“ und „Erben“, wobei ihm Lou dafür geradezu als vom Himmel geschickt erscheint.

2. Wie es in einem solchen Falle wohl kaum ausbleiben kann, spricht die junge Frau auch die hinter- und untergründige Seite des Mannes an – unausweichlich schleichen sich emotionale Motive seitens Nietzsche mit ein, die jedoch nicht deckungsgleich mit denen Lous sind.

 

Ich bin überzeugt – und alles andere wäre bei einem Psychologen wie Nietzsche auch ein Wunder –, daß er diese Motivmischung bei sich durchaus wahrnahm; dabei waren für ihn selbst von überragender Bedeutung die unter 1. genannten Beweggründe, wohingegen die emotionale Seite eine zwar mit Hoffnungen durchsetzte, aber untergeordnete Rolle spielte.

Lou hingegen ging es weder um die Sache der Philosophie (1a) noch um eine zukünftige Liaison mit Nietzsche (2), sondern vor allem um sich selbst (1b), wobei für sie dieses Motiv des „eigenen Werdens in Freiheit“ dermaßen im Vordergrund stand, daß sie sich auch mit der Rolle als „Schüler und Erbe“ (1c) überfordert sehen mußte.

Dies umso mehr, als sie sich längst für Rée entschieden hatte, ohne daß dies von den beiden „Freunden“ Nietzsche entsprechend zur Kenntnis gebracht worden wäre. Für sie war ersichtlich alles eindeutig und klar, während Nietzsche gleichzeitig noch auf Seiten seiner eigenen Familie „unters Feuer“ geriet. Die Rolle seiner Schwester ist ja schon ausführlich angesprochen worden, dazu kamen nun in Naumburg Schwierigkeiten mit der eigenen Mutter hinzu.

Denn Elisabeth hatte natürlich in der Zwischenzeit ebenfalls von Lou aus ihrer Sicht nach Hause berichtet, wohl auch von der berüchtigten Fotografie, auf der Lou mit Peitschchen die beiden Herren vor ihren Karren spannt, und weigerte sich zu kommen; im Streit geht die Mutter so weit, Nietzsche eine „Schande für das Grab des Vaters“ zu nennen – worauf Nietzsche sofort seine Koffer packen läßt und abreist.

Lou schreibt er am 7. September dazu: „Heute siedele ich nach Leipzig über ... Es kommt mir jetzt so vor, als ob meine Rückkehr »zu den Menschen« dahin ausschlagen sollte, daß ich die Wenigen, die ich noch in irgend einem Sinne besaß, verliere. Alles ist Schatten und Vergangenheit. Der Himmel erhalte mir mein Bischen Humanität! –“

Daß er das Verhältnis zu Lou und Rée noch ganz ungetrübt sieht, geht daraus hervor, daß er in diesem Schreiben endet: „Vorwärts, meine liebe Lou, und aufwärts!“

An Overbeck schreibt er etwa Mitte September: „Die Tautenburger Wochen haben mir wohlgethan, namentlich die letzten; und im Ganzen Großen habe ich ein Recht, von Genesung zu reden.“ „Das Nützlichste aber, was ich diesen Sommer gethan habe, waren meine Gespräche mit Lou. Unsre Intelligenzen und Geschmäcker sind im Tiefsten verwandt – und es giebt andererseits der Gegensätze so viele, daß wir füreinander die lehrreichsten Beobachtungs-Objekte und -Subjekte sind. Ich habe noch Niemanden kennengelernt, der seinen Erfahrungen eine solche Menge objektiver Einsichten zu entnehmen wüßte ... Gestern schrieb mir Rée »Lou ist entschieden um einige Zoll gewachsen in Tautenburg« – nun, ich bin es vielleicht auch. Ich möchte wissen, ob eine solche philosophische Offenheit, wie sie zwischen uns besteht, schon einmal bestanden hat.“

Und auch vom Verhalten seiner Schwester erzählt er Overbeck: „Leider hat sich meine Schwester zu einer Todfeindin L’s. entwickelt, sie war voller moralischer Entrüstung von Anfang bis Ende und behauptet nun zu wissen, was an meiner Philosophie ist. Sie hat an meine Mutter geschrieben, »sie habe in Tautenb. meine Philosophie in’s Leben treten sehen und sei erschrocken: ich liebe das Böse, sie aber liebe das Gute.« ... Kurz, ich habe die Naumburger »Tugend« gegen mich, es giebt einen wirklichen Bruch zwischen uns.“

Und Rée gegenüber bezeichnet er Lou im Brief vom 15. September gegenüber als „meine Schwester (nachdem ich die natürliche Schwester verloren habe, muß mir schon eine übernatürliche Schwester geschenkt werden.)“ Im Brief vom nächsten Tag an Lou fallen die berühmten Worte vom „Geschwistergehirn“ – ihren „Gedanke[n] einer Reduktion der philoso­phischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber“, den sie selbst später bei ihrer Nietzsche-Biografie anwenden wird, heißt Nietzsche ausdrücklich gut und mit seiner eigenen Auffassung völlig übereinstimmend. Seine Briefe sind launig und selbstironisch im Ton, da kann denn auch Rée nicht anders – nachdem Nietzsche die auf dem Beiblatt abgebildete Fotografie an beide gesandt hatte, als enthusiastisch auszubrechen: „...gerade jetzt und für alle Zukunft kann uns nichts trennen, da wir in einem Dritten verbunden sind, dem wir uns selbst unterordnen.“ – womit natürlich Lou gemeint ist.

 

6. Mißverständnisse und Streit

In Nietzsche sieht es jedoch nicht so „sonnig“ aus, wie es seine Briefe an Lou und Rée zu spiegeln scheinen – das ließ sich schon dem angeführten Brief an Overbeck entnehmen; und so notiert er in dieser Zeit einen Briefentwurf an seine Schwester, der offenbar nicht abgeschickt wurde: „Diese Art von Seelen, wie Du eine hast, meine arme Schwester, mag ich nicht; und am wenigstens mag ich sie, wenn sie sich gar noch moralisch blähen; ich kenne Eure Kleinlichkeit.– Ich ziehe es bei weitem vor, von Dir getadelt zu werden.“ Auch zehrt der Vorwurf seiner Mutter nach wie vor schwer an ihm, denn das Vorbild des Vaters hält er zeitlebens hoch und in Ehren.

Überlassen wir den weiteren Bericht zunächst Lou:

„Nachdem ich für den Herbst nach Stibbe zurückgereist war, kamen wir noch einmal mit Nietzsche für drei Wochen (?) im Oktober in Leipzig zusammen[14]. Niemand von uns beiden ahnte, daß es zum letzten Male sei. Dennoch war es nicht mehr ganz so wie anfangs, obwohl unsere Wünsche für unsere gemeinsame Zukunft zu Dritt noch feststanden. Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée, bei mir schlecht machen sollten – und auch das Erstaunen, daß er diese Methode für wirksam halten konnte. Erst nach unserm Abschied von Leipzig brachen dann Feindseligkeiten auch gegen mich aus, Vorwürfe hassender Art, von denen mir aber nur ein vorläufiger Brief bekannt wurde[15]. Was später folgte, schien Nietzsches Wesen und Würde dermaßen widersprechend, daß es nur fremdem Einfluß zugeschrieben werden kann. So, wenn er Rée und mich gerade den Verdächtigungen preisgab, deren Haltlosigkeit er selbst am besten kannte....
In der Folgezeit habe ich die Methode Paul Rées mir gegenüber selber befolgt: mir all das fernzuhalten, indem ich nichts mehr darüber las[16], auf die Feindseligkeiten des Hauses Nietzsche ebensowenig einging wie überhaupt auf die Nietzsche-Literatur nach seinem Tode. Mein Buch »Friedrich Nietzsche in seinen Werken«[17] schrieb ich noch voller Unbefangenheit, nur dadurch veranlaßt, daß mit seinem eigentlichen Berühmtsein gar zu viele Literatenjünglinge sich seiner mißverständlich bemächtigten; mir selbst war ja erst nach unserm persönlichen Verkehr das geistige Bild Nietzsches recht aufgegangen an seinen Werken; mir war an nichts gelegen als am Verstehen der Nietzschegestalt aus diesen sachlichen Eindrücken heraus. Und so, wie mir sein Bild – in der reinen Nachfeier des Persönlichen – aufging, sollte es vor mir stehenbleiben.“

 

7. Die Geburt des ersten Zarathustra als „Erlösung vom Weibe“

Für Nietzsche sah die Sache freilich anders aus: Er empfand sich doppelt und dreifach in die Einsamkeit zurückgestoßen, nachdem nicht nur die Beziehung zu einem seiner engsten Freunde, Rée, und zu seiner „Zukunftshoffnung“ Lou im Eklat geendet hatte, sondern gleichzeitig auch die bislang einzig haltbaren Bande zu seiner Mutter und Schwester zerrissen schienen. Tief verletzt zog er sich nach Santa Margherita bzw. Rapallo in der Nähe Genuas zurück, als  der einzige Gast im albergo della Posta. Zunächst schreibt er unablässig Briefe (und vor allem unzählige Briefentwürfe, die er nicht abschickt) an Lou und Rée, in der er seine Verzweiflung abreagiert: „Himmel, was bin ich einsam“. Dazu nahm er „Unmengen von Chloral und Opium“ (damals noch ein zugelassenes Heilmittel), um überhaupt schlafen zu können; schließlich überwindet er jedoch den ihn ankommenden Gedanken zum Selbstmord, „das beneficium mortis erlange ich aber nicht von mir – ich will noch etwas von mir“. Und so schleudert er innerhalb von 10 Tagen in der letzten Januarhälfte 1883 den Ersten Teil des Zarathustra aus sich heraus – der einerseits in seinen auf das weibliche Geschlecht bezogenen Kapiteln durchaus Spuren des soeben mit Lou durchlebten zeigt, andererseits aber zugleich die Verarbeitung und den Abschluß dieses Lebensabschnittes anzeigt.[18]

 

Anmerkungen:



[1] Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den [Anfang] August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit“. Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke. – ... In die Zwischenzeit gehört die „gaya scienza“, die hundert Anzeichen der Nähe von etwas Unvergleichlichem hat; zuletzt giebt sie den Anfang des Zarathustra selbst noch, sie giebt im vorletzten Stück des vierten Buchs den Grundgedanken des Zarathustra. ... –

[2] Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!“ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und jedem „willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –

[3]  Sanctus Januarius, Die Fröhliche Wissenschaft, Vor dem 4. Buch

 

Der du mit dem Flammenspeere

Meiner Seele Eis zerteilt,

Daß sie brausend nun zum Meere

Ihrer höchsten Hoffnung eilt:

Heller stets und stets gesunder,

Frei im liebevollsten Muß:–

Also preist sie deine Wunder,

Schönster Januarius!

                                       Genua, im Januar 1882

[4]  amor fati, Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 276

Zum neuen Jahre. – Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!

[5]Paul Rée, als Sohn eines Rittergutsbesitzers am 21. November 1849 in Bartelshagen in Pommern geboren, war damals also 32 Jahre alt. Seine eigentliche Heimat wurde das um 1868 erworbene Rittergut Stibbe bei Tütz in Westpreußen. Auf Verlangen des Vaters hatte er seiner frühen Neigung zur Moralphilosophie entgegen – Jura studiert, in Leipzig, war – als Einjährig-Freiwilliger – bei Ausbruch des DeutschFranzösischen Krieges mit ins Feld gerückt und bei Gravelotte verwundet worden. Nach dem Kriege hatte er ausschließlich Philosophie studiert, in Halle. Er promovierte 1875 mit der Schrift »TOY KALOY«, notio in Aristotelis ethicis quid sibi velit. Im gleichen Jahre erschien ein Büchlein Aphorismen von ihm: »Psychologische Beobachtungen«. Aus dem Nachlaß von ... Durch dieses Buch stellte sich die nähere persönliche Beziehung zu Nietzsche her (Nietzsches erster Brief an ihn am 22.10.1875), nachdem schon zweieinhalb Jahre vorher in Basel die erste Bekanntschaft erfolgt war: »Hier ist, für den ganzen Sommer, ein Freund Romundt’s eingetroffen, ein sehr nachdenkender und begabter Mensch, Schopenhauerianer, Namens Rée«(Nietzsche an Erwin Rohde, 5.5.1873.) Unter den Thesen, die Rée bei seiner Promovierung verteidigte, war bereits die von der entwicklungsgeschichtlichen Erklärbarkeit des Gewissens, »Conscientia non habet originem transcendentalem«, und sein Pessimismus in Bezug auf den Menschen spricht aus der These »Progressus moralis nullus est in rebus humanis«. Mit dieser zweiten These steht eine Schrift »Die Illusion der Willensfreiheit, ihre Ursachen und ihre Folgen«, 1885, in thematischem Zusammenhang wie auch das schon 1877 erschienene Buch »Der Ursprung der moralischen Empfindungen«. Die erste These suchte er in den zuerst als Habilitationsschrift geplanten >Prolegomena< »Die Entstehung des Gewissens«, 1885, zu beweisen. Die abschließende philosophische Schrift von Paul Rée, »Philosophie«, mit dem Vorvermerk »Meine früheren Schriften sind unreife Jugendwerke«, ist als »Nachgelassenes Werk« 1903, Berlin, herausgegeben worden. An fast großartiger Einseitigkeit und Radikalität bei der Durchführung der alten Themen übertrifft diese Schrift noch die früheren. Ein vom ungenannten Herausgeber angeschlossener Brief Rées vom November 1897 über seine Beziehung zu Nietzsche enthält die aburteilenden Sätze: »Ich habe ihn doch nie zu lesen vermocht. Er ist geistreich und gedankenarm.« »Jeder tut jedes aus Eitelkeit; aber seine Eitelkeit ist eine pathologische, krankhaft gereizte. Gesund hätte sie ihn in normaler Weise zum Hervorbringen großer Werke gebracht; in dem Kranken, der nur selten denken, schreiben konnte, bald es überhaupt nicht mehr zu können fürchtete, Ruhm um jeden Preis erobern wollte, brachte die krankhafte Eitelkeit Krankes, vielfach Geistreiches und Schönes, aber im wesentlichen doch Verzerrtes, Pathologisches, Wahnsinniges hervor; kein Philosophieren, sondern ein Delirieren!!«

Nietzsche selbst hat auch Paul Rée in die Überschau des »Ecce homo« eingeordnet, in dem Abschnitt »Warum ich so gute Bücher schreibe« (»Menschliches, Allzumenschliches«) und mit Zitierung des Aphorismus 37 aus »Menschliches, Allzumenschliches« I, in welchem er den Verfasser des Buchs »Über den Ursprung der moralischen Empfindungen« »einen der kühnsten und kältesten Denker« nennt. Er habe, sagt er nun, »den ausgezeichneten Dr. Paul Rée, <dadurch> mit einer welthistorischen Glorie überstrahlt«, indem man »auf diese Stelle hin das ganze Buch als höheren Réealismus verstehn zu müssen geglaubt habe«. (Schon in der persönlichen Widmung von »Menschliches, Allzumenschliches« I an Rée hat Nietzsche auf diese damalige Meinung seiner Freunde angespielt und ihm scherzend zu dieser »Vaterschaft« gratuliert, mit dem Ruf: »Es lebe der Réealismus!«)

Den krankhaften Selbsthaß des Juden Rée hat Lou A.-S. in einem Brief an den ihr befreundeten Soziologen Ferdinand Tönnies vom 7. Dezember 1904 so charakterisiert:

»Halbjuden, die unter ihrem Mischmasch litten, beobachtete auch ich mehrmals. Allein, dieser Zwiespalt wäre kaum krankhaft zu nennen, er ist gleichsam normal gegeben wie das Hinken eines, der ein kurzes und ein langes Bein hat. Jemanden mit seinen zwei gesunden Beinen hinken sehn, wie Rée that –! Ganz Jude sein und dennoch sein Selbst lediglich in etwas finden, was diesem hassend und verachtend gegenübersteht. In dem Maße wie bei ihm sah ich’s sonst zwar nie – (die bloße harmlose Erwähnung davon <als Rée gewahr wurde, daß Lou v. S. sein Judentum noch nicht bemerkt hatte> machte ihn vor meinen Augen ohnmächtig, und ein paar Szenen, die sich abspielten, als Juden, nicht gleich von ihm als solche erkannt, mit uns in Verkehr kamen, spotten in ihrer Lächerlichkeit und Schrecklichkeit jeder Beschreibung) – doch etwas von diesem Unheimlichen trieb sein Wesen in mehr als einem Juden, dem ich nahetrat.

Dies gewaltsame Sichvergessenwollen hat in Rée, als Denker sein Absehn vom Gefühlsmäßigen, von der Persönlichkeit, ganz ungemein unterstützt, wenn nicht geradezu es bewußt prinzipiell hervorgerufen. Er war deshalb nicht ganz so eng, wie es schien, allein die Thür die da hinausführte, war dermaßen wohlverschlossen, daß sie nur noch als Mauer in Betracht kam. Sie stellte trotzdem eine Vermittlung her, indessen nur im intim Persönlichsten seines Verständnisses, – gewissermaßen durch’s Schlüsselloch. Und hoch über alle Mauern hinaus entwuchs seinem unerhört leidvollen Selbsthaß eine fast überirdische Güte. Niemand wußte das besser als ich, die ich in ihr drinsaß wie ein junger Vogel in seinem Mutternest ... «

Paul Rée hatte (»um den Menschen auf diese Weise nahe zu kommen«, LAS) nach dem Fehlschlagen seiner Habilitationspläne 1885 noch Medizin zu studieren begonnen, in Berlin; nach seiner Trennung von Lou v. S. setzte er sein Studium zunächst noch bis zum Schluß des Semesters – Sommer 1887 – in Berlin fort (Lou A.-S. erhielt damals durch einen gemeinsamen Bekannten regelmäßig Nachricht über ihn, ohne Rées Wissen), beendete es dann in München. Er ließ sich 1890 als Arzt in Stibbe nieder, wohnte und praktizierte in einem kleinen Nebengebäude vom Gutshaus, hatte keinen Verkehr mit den Gutsnachbarn, speiste nicht am Tisch des Herrenhauses mit; er war »der gratis wirkende Arzt für die ganze Bevölkerung dort«, oft wurden auf seine Kosten Kranke in die Kliniken von Berlin oder Breslau gebracht, häufig sah man ihn »unter seinem Mantel reiche Spenden an Speisen und Wein in die Wohnungen armer und kranker Arbeiter tragen«, er lebt »noch heute <1927> dort wie ein Heiliger« in der Erinnerung. (Dies Andenken an ihn war noch ein Jahrzehnt später lebendig.) Wenn er nicht praktizierte, war er auf oft meilenweiten Wanderungen in den Wäldern der Umgebung oder am Studiertisch; nach Abschluß seines Buches wollte er nicht mehr philosophieren – »aber was dann werden soll, weiß ich nicht, ich muß philosophieren, wenn ich also keinen Stoff zum Philosophieren mehr habe, so ist es am besten für mich, zu sterben«. – Als er (1900) hörte, daß das Gut verkauft werde (sein Bruder versuchte später vergeblich, den Verkauf rückgängig zu machen), verließ er nächtlicherweile die Heimat. Er ging nach Celerina im Oberengadin, wo er in dem gleichen Gasthaus wohnte, in dem er einst mit Lou v. S. geweilt hatte; er war dort weiter Armenarzt; durch »sein großes bartloses ernstes Gesicht«, seine Kleidung, seinen Gang wurde er oft für einen Geistlichen gehalten. »Paul Rée ist am 28. Okt. 1901 auf dem oberen, sehr steilen Weg durch die Charnadüra-Schlucht, bei Celerina, tödlich in den Inn abgestürzt. Laut >Fögl Ladin< vom 2.11.1901 bestätigten die Fundgegenstände die Annahme eines Unglücksfalles.« Die Bestattung auf dem Friedhof von Celerina erfolgte unter größtem Anteil der Bevölkerung. (Angaben zumeist nach Kurt Kolle »Notizen über Paul Rée«, Zeitschrift für Menschenkunde, September 1927.) – Ferdinand Tönnies gibt in seinem Aufsatz »Paul Rée« in der Zeitschrift »Das freie Wort«, Band IV (1904), S. 366ff., auf den der oben abgedruckte Brief von Lou A.-S. antwortet, auch eine Schilderung des persönlichen Eindrucks: »Ich habe Rée gekannt und geschätzt als einen ungewöhnlich feingebildeten und sinnreichen Menschen; durch die ruhige Sicherheit seines Auftretens, die gelassene, ja sanfte Art seiner Rede hatte er etwas Imponierendes, war auch bei näherer Bekanntschaft durchaus gutmütig und liebenswürdig.« »Rée liebte das Gespräch, er wurde aber leicht stutzig, er ließ dann seine tiefliegenden, lebhaften Augen wie zweifelnd hin und hergehen und half sich aus der Verlegenheit gern mit einer scherzhaften Wendung.« »Seinen sachten ironischen Humor kehrte er ebenso oft gegen sich selber wie gegen andere; kleine Bosheiten wußte er in verbindliche Formen zu kleiden. Er war im Grunde bescheiden, hatte aber ein großes Vertrauen in die Richtigkeit seines Denkens, weil er sich für einen der wenigen ganz unbefangenen Denker hielt und weil er wirklich über gewisse wesentliche Probleme unermüdlich, Monate, ja Jahre lang nachdachte.« Zu dem Briefe Rées über Nietzsche im Anhang zu seiner »Philosophie« bemerkt Tönnies u. a.: »Als ich mit Rée öfter zusammen war, – es war kurz nach seiner Trennung von Nietzsche, im Jahre 1883 –, äußerte er sich gegen mich dahin, Nietzsche sei viel bedeutender in seinen Briefen als in seinen Büchern und noch bedeutender in Gesprächen als in Briefen. Dies Urteil war sicherlich nicht erst durch ihren Zwiespalt entstanden. Es ist vielmehr charakteristisch für das innere Verhältnis der beiden Männer. Nietzsche war für Rée ein interessantes Phänomen, wie es der Künstler immer für den Forscher ist ... « »Für Intuitionen hatte Rée kein Organ, und war so wenig geneigt in moralischen und anthropologischen Dingen, wie in denen der Physik, solche gelten zu lassen.« LAS hat erzählt, daß Paul Rée oft nicht verstanden habe, was Nietzsche und sie miteinander sprachen; gutmütig habe er dann darüber gespottet; als Nietzsche in Leipzig einen Traum erzählte, der später in den »Zarathustra« aufgenommen worden ist, habe Rée gesagt: »Sie haben gewiß gestern abend wieder Erbsensuppe gegessen.« Herrlich sei das Kristallklare seines Denkens gewesen; »seine Schriften gelten nicht«.

[6]  Malwida von Meysenbug (Lebensrückblick, Anmerkung des Herausgebers E. Pfeiffer S. 229 f.):

Malwida von Meysenbug, 1816 bis 1903, war eine Tochter des kurhessischen Hofmannes hugenottischer Herkunft Karl Ludwig Georg Philipp Rivalier, der von seinem Landesherrn, dessen Jugendfreund er gewesen, geadelt und in den Freiherrnstand erhoben worden war. Malwida v. M., die selbst in die republikanisch-revolutionären Vorgänge der Jahre um 1848 verflochten und 1852 aus Berlin ausgewiesen worden war, hatte in London, dem Asyl der damaligen Emigranten, u. a. den russischen revolutionären Schriftsteller Alexander Herzen (Sohn des Fürsten Jakowleff und einer Stuttgarterin) und den italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini kennengelernt. Nach dem Tode von Herzen adoptierte sie dessen Tochter Olga; sie hatte mit ihr im Winter 1861/62 in Italien geweilt. Ihre »Memoiren einer Idealistin«, mit dem Pariser Aufenthalt 1860/61 und der Wiederbegegnung dort mit Richard Wagner abschließend, waren in Stuttgart 1876 anonym erschienen und lagen im Frühjahr 1882 schon in der 3. Auflage vor. Als »Nachtrag« erschien in Berlin 1898 der »Lebensabend einer Idealistin«, eine lose Zusammenfügung von Erinnerungen und Betrachtungen. Bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses 1872 begegnete Malwida v. M. im Kreise Wagners Friedrich Nietzsche. Als sie diesen 1876 für die Zeit seines Urlaubsjahres zu einem Erholungsaufenthalt in Italien unter ihrer Obhut einlud, schlug er den ihm befreundeten Dr. Paul Rée »zum Mitgehen« vor. Der Sorrenter Aufenthalt in der von Malwida gemieteten Villa Rubinacci, mit Nietzsche, Rée und dem Basler stud. jur. Albert Brenner, dauerte von Ende Oktober 1876 den Winter über. Rée machte dort sein Buch »Der Ursprung der moralischen Empfindungen« druckfertig, Nietzsche arbeitete an »Menschliches, Allzumenschliches«. Malwida v. M. selbst kannte Paul Rée vorher noch nicht. In dem »Lebensabend einer Idealistin« sagt sie von Rée, daß er ihr »ein sehr lieber Freund geworden war«, daß sie aber seine »streng wissenschaftliche, realistische Anschauungsweise nicht teilte«, trotz ihrer »hohen Achtung für seine Persönlichkeit« und ihrer »Anerkennung seiner gütigen Natur, welche sich besonders in seiner aufopfernden Freundschaft für Nietzsche zeigte«. Rées Anschauungsweise habe diesem »ein fast kindlich staunendes Vergnügen« gemacht. Einige Stellen aus Tagebuchbriefen von ihr an ihn, aus der Zeit nach Sorrent, sind in dem Buche abgedruckt. Sie nannte ihn Paolo.

[7]  Janz II, 114 f.: „Ihre zahlreichen Notizbücher »geben eine Vorstellung von Umfang und Intensität ihrer Arbeit unter Gillots Anleitung. Eines zeigt, daß sie Religionsgeschichte studierte und das Chrstentum mit dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Islam verglich; sie beschäftigte sich mit dem Problem des Aberglaubens in primitiven Gesellschaften, mit der Symbolik ihrer Riten und Rituale, und grübelte über die Grundvorstellungen der Religionsphänomenologie nach. Ein anderes Notizbuch handelte von Philosophie, von Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie. Ein drittes beschäftigt sich mit Dogmatismus und Problemen wie der messianischen Vorstellung im Alten Testament und dem Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit. Ein viertes, französisch geschrieben, enthält Notizen über das französische Theater vor Corneille, über das Zeitalter der klassischen französischen Literatur, über Descartes, Port Royal und Pascal. In einem fünften finden sich Aufsätze über Schillers Maria Stuart, über Krimhild und Gudrun. Unter Gillots Leitung las sie Kant und Kierkegaard, Rousseau, Voltaire, Leibniz, Fichte und Schopenhauer... Sogar die schriftstellerische Neigung wurde jetzt geweckt, denn Gillot erlaubte ihr, einige seiner Sonntagspredigten für ihn abzufassen«, nicht zum restlosen Vergnügen aller »Gläubigen«, die eine allzugroße Abweichung von der Bibel verspürten.“

[8]  „Was so gut begann, erfuhr dann aber eine Wendung, die Paul Rée und mich in neue Besorgnis um unsern Plan geraten ließ, indem dieser Plan sich durch den Dritten unberechenbar verkompliziert fand. Nietzsche meinte damit freilich eher eine Vereinfachung der Situation: er machte Rée zum Fürsprecher bei mir für einen Heiratsantrag.“

[9]  Ida Overbeck über Nietzsche beim Besuch vom Mai 1882 in Basel: (Dokumente S. 428 f.)

Auf Bitten von C. A. Bernoulli hat Ida Overbeck ihre »Erinnerungen an die Lou-Episode« (Bezeichnung von Bernoulli) in seine Darstellung im I. Band von »Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Eine Freundschaft« (S. 336 f.) eingefügt. Zum Besuch Nietzsches im Mai 1882 bemerkt sie: »Er war, als er im Sommer 1882 meinem Manne von dem neuen Verhältnisse erzählte, aufs höchste erregt und für die Gestaltung seiner Pläne und seines Lebens aufs hoffnungsvollste zuversichtlich. Außereheliches geistig leidenschaftliches Verhältnis war ein Ideal, das er stets mochte. Es war Leidenschaft vorhanden, aber zugleich der Wunsch, sich nicht von ihr fortreißen zu lassen. Es gewährte ihm Beruhigung, daß Rée der dritte im Bunde sei, und er erwartete viel von dessen hilfreichem, selbstlosem Wesen, während er mich beauftragte mit Lou darüber zu reden, daß er stets nur seine geistigen Ziele verfolge und in allem dabei nur an sich denke. Zugleich erzählte er (das bezieht sich offenbar auf den Besuch vor der Aussprache in Luzern) in Rom zu ihr gesagt zu haben: >ich würde mich für verpflichtet halten, um Sie vor dem Gerede der Leute zu schützen, Ihnen meine Hand anzutragen, wenn nicht usw. usw.< Er fürchtete, Frl. Salomé könne dies für einen Antrag gehalten haben.«

[10]  Lassen wir die verwickelte Geschichte, die ein Licht auf alle beteiligten Personen wirft, Janz berichten (II, 144 f.):

„C. A. Bernoulli erzählt in seinem Aufsatz >Nietzsches Lou-Erlebnis< eine Anekdote aus der Sorrentiner Zeit. Danach »sprach eine junge Sorrentinerin in regelmäßigen Zwischenräumen in dem Landhause vor. Sie kam für Nietzsche. Aber bei ihm war die Rücksichtnahme auf äußere Korrektheit, die Scheu vor Anstoß und Geschwätz so ausgeprägt, daß er seinen Freund Rée bat, die Besuche des Landmädchens vor dem Fräulein von Meysenbug auf seine Kappe zu nehmen. Paul Rée erwies Nietzsche diesen Dienst, da er in dem Kapitel ganz vorurteilsfrei empfand, sogar mit einigem Vergnügen.« Leider gibt Bernoulli keine Quelle für diese Nachricht an, so daß ihre »Wahrheit« etwas fraglich bleibt. Sollten sich die Dinge aber wirklich so verhalten haben, so bleibt möglich, daß Paul Rée es Lou noch vor ihrer Reise nach Bayreuth und Tautenburg erzählt hat, um ihr zu beweisen, daß ihr neuer Freund nicht ganz so harmlos und ungefährlich sei wie er sich gebe und wie er dargestellt werde. Rée litt an Eifersucht, denn auch er liebte Lou und fürchtete sie zu verlieren.

Was aus den Korrespondenzen als sicher hervorgeht, ist, daß Paul Rée Lou die merkwürdige Briefstelle mitgeteilt hat, in der Nietzsche von der möglichen, auf zwei Jahre befristeten »Ehe« spricht, und daß Rée dies ganz pointiert als einen ernstgemeinten Antrag Nietzsches auf eine »wilde Ehe« ausdeutete. Und es besteht als Möglichkeit noch ein dritter Vorfall, nämlich daß Nietzsche bei dem Gespräch am Löwendenkmal in Luzern auf Lous Begründung, (mit welchem sie seinen dieses Mal direkten Antrag wieder abwies) sie fühle sich noch nicht reif zur Ehe, und der Schock, den sie durch Gillots Werbung erfahren, sei noch nicht überwunden, vorgeschlagen haben könnte, vorerst ein Zusammenleben ohne gesetzliche Bindung zu versuchen, in dessen Verlauf Lou dann zur gültigen Ehe heranreifen könne. So gar fremd war Nietzsche dieser Gesichtspunkt ja schließlich nicht, es gab auch in seiner Zeit viele solcher Fälle, und einen der berühmtesten hatte er aus nächster Nähe miterlebt: er wohnte in jener Nacht als Gast unter demselben Dach in Tribschen, unter dem Cosima ihren vorehelichen Sohn Wagners gebar.

Auf jeden Fall muß Lou in dem Streitgespräch in Jena von derartigem Wissen ungehemmt Gebrauch gemacht und Elisabeth mit der Aussage niedergeschlagen haben, Nietzsche habe ihr eine »wilde Ehe« nahegelegt, worauf natürlich Elisabeth mit vollem Recht entgegnen konnte, daß der Vorschlag eines Zusammenwohnens sogar zu dritt von Lou ausgegangen sei.“

[11] (Dokumente S. 251 ff. bzw. Peters S. 118)

[12]  (auch wenn das In-die-Welt-Setzen von solchen Gerüchten der Zuführung von Prostituierten gerade im Fall Nietzsche sowie dessen Syphilis-Ansteckung doch sehr problematisch erscheint – und Bernoulli ist nicht unbedingt ein „Freund“ Nietzsches ... übrigens ebenso wenig wie Peters); auch braucht auf das Benehmen Elisabeths – Nietzsche hätte insoweit sein „Lama“ kennen und heraushalten müssen, wie er es zunächst ja auch richtigerweise tat – jedenfalls zunächst nicht weiter eingegangen zu werden.

[13]   (aus: Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 181-190):

<Lou von Salomé Tagebuch für Paul Rée>

Tautenburg <Montag> 14 August

Es ist wieder die Zeit der Sonnenstrahlen, liebe Hüsung [Kosename für Paul Rée]. Sie scheinen wieder vom klaren Himmel herab und gedämpft durch das dichte, dunkle Laub des Tautenburger Walddörfchens dringend, spinnen sie ihr goldnes Lichtnetz über den ganzen Boden.

Die Sonnenstrahlen sind förmlich von innen heraus gedrungen, – nachdem sie zuvor alle trüben Winkel in uns selber hell gemacht.

N., im großen Ganzen von eiserner Consequenz, ist im Einzelnen ein gewaltsamer Stimmungsmensch. Ich wußte, daß wenn wir verkehren würden, was wir Anfangs beide im Sturm der Empfindung vermieden, wir uns bald genug, über alles kleinliche Geschwätz hinweg, in unsern tiefverwandten Naturen finden würden. Ich sagte ihm das schon schriftlich als Antwort auf den ersten, seltsamen Brief. Und so war es. Nach einem Tag des Verkehrs, in welchem ich mich bemühte, frei, natürlich und heiter zu sein, – hatte schon die alte ... statt gefunden. Er kam immer wieder herauf und am Abend nahm er meine Hand und küßte Sie 2 Mal und begann etwas zu sagen, was nicht ausgesprochen wurde. Die nächsten Tage lag ich zu Bett, er sandte mir Briefe zum Zimmer hinein und sprach durch die Thür zu mir. Nun hat mein altes Hustenfieber nachgelassen und ich stand auf. Gestern waren wir den ganzen Tag zusammen, heute haben wir einen wunderschönen Tag im stillen, dunklen Kiefernwald mit den Sonnenstrahlen und Eichhörnchen allein, verbracht. Elisabeth war auf der Dornburg mit Bekannten. Im Wirthshause, wo unter den großen, breitästigen Linden gegessen wird, hält man uns für ebenso zusammengehörig wie mich und Dich, wenn ich mit der Mütze und Nietzsche ohne Elisabeth, ankomme.

Es plaudert sich ungemein schön mit N – doch das wirst Du besser wissen. Aber ein besonderer Reiz liegt im Zusammentreffen gleicher Gedanken, gleicher Empfindungen und Ideen, man kann sich beinah mit halben Worten verständigen. Einmal sagte er, davon frappirt: »Ich glaube, der einzige Unterschied zwischen uns ist der des Alters. Wir haben gleich gelebt und gleich gedacht.«

Nur weil wir so gleichartig sind, konnte er die Differenz zwischen uns, oder das, was ihm so erschien, so heftig und gewaltsam nehmen, nur darum erschütterte sie ihn so. Ist man einander so unähnlich wie Du und ich, so empfindet man die Punkte der Übereinstimmung und freut sich ihrer, – ist man sich so verwandt wie N. und ich, dann fühlt man die Differenzen und leidet an ihnen. Die allgemeine Ungleichheit, ja der Gegensatz zweier Menschen zu einander, kann sowohl Sympathie wie Antipathie bedingen. Die Differenz im Einzelnen bei Gleichheit im Ganzen ist unterbrochene und gestörte Sympathie, sie wirkt immer peinlich, – und sie allein ist trennend.

Ich hatte mir ja vorgenommen, unsere Gespräche zu notiren, indessen es ist beinahe unmöglich, sie fassen sich bei unsern Wanderungen durch die fernsten und nächsten Denkgebiete zu wenig in einzelnen, scharfen Aussprüchen zusammen. Und eigentlich besteht der Gehalt eines Gesprächs bei uns in dem, was nicht gerade ausgesprochen wird, sich aber aus dem halben Entgegenkommen eines jeden von uns von selbst ergiebt. Er hat so viel Freude an Unterhaltung daß er mir gestand, selbst in unserm ersten Streite hier, als ich ankam, wobei ihm sehr elend im Herzen gewesen wäre, habe er eine nebenhergehende Lust über meine Art zu widerlegen nicht unterdrücken können.

Meine Abhandlung über die Frau hat er allein gelesen und fand den Stil des ersten Theils abscheulich. Was er sonst gesagt, ist gar zu weitläufig zu schreiben. Zuletzt gab er mir die Hand und sagte in ernstem und bewegtem Tone: »Vergessen Sie niemals, daß es ein Jammer wäre, wenn Sie nicht ein < ... > Den<km>al Ihres innersten, < ... > vollen Geistes setzten, solange Sie zu leben haben.« Letzteres bezieht sich auf seine verzweifelt schlechte Meinung betreffs meiner Gesundheit. Denke nur, er hatte schon medicinische Studien für mich gemacht.

Er rieth mir, meine rasche, kleine Arbeit weiterzuführen und schrieb mir darauf bezügliche Bücher auf. Ich freute mich, als er sagte: es wäre ihm alles Produciren von Herzen zuwider, wenn es nicht ein vorzügliches wäre, – er würde also sonst nicht dazu rathen, wenn er es nicht mit dem besten Gewissen thun könnte. Schreiben lernen könnte ich in einem Tage, weil ich dazu vorbereitet wäre. Ich habe übergroßes Vertrauen zu seiner Lehrerkraft. Wir verstehen uns so sehr gut. Aber ob es gut ist, daß er den ganzen Tag von früh bis spät mit mir und im Gespräch ist, also nicht bei seiner Arbeit –; ich sagte es ihm heute, er nickte und sagte: »Ich habe es ja so selten und ich genieße es wie ein Kind.« Denselben Abend sagte er aber: »Ich darf nicht lange in Ihrer Nähe leben. «

Die Erinnerung an unsere italienische Zeit kommt uns oft und < ... > schmalen Steig aufwärts gingen, sagte er leise: »monte sacro, – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.« – Wir sind sehr heiter miteinander, wir lachen viel. Zu Elisabeth’s Entsetzen, (welche übrigens fast nie mit uns ist) wird mein Zimmer sogleich vom »Geisterklopfen« heimgesucht, wenn N. hereintritt, was uns große Heiterkeit macht. Auch diese verwünschte Fähigkeit müssen wir gemeinsam haben. Ich freue mich, daß der gramvolle Zug aus seinem Gesicht geschwunden ist, der mir so weh that, und daß die Augen ihr altes Leuchten und Aufleuchten haben.

Schöne Stunden verbringen wir auch am Waldesrand, wo sein Bauernhäuschen liegt und einladend eine kleine Bank steht. Wie gut lacht und träumt und plaudert es sich im Abendsonnenschein, wenn die letzten Strahlen durch die Zweige zu uns herüberblicken.

Freitag den 18ten August.

Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida einmal aus Italien von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen. Der religiöse Grundzug unserer Natur ist unser Gemeinsames und vielleicht gerade darum so stark in uns hervorgebrochen, weil wir Freigeister im extremsten Sinne sind. Im Freigeiste kann das religiöse Empfinden sich auf kein Göttliches und keinen Himmel außer sich beziehen, in denen die religionsbildenden Kräfte wie Schwäche, Furcht und Habsucht ihre Rechnung fänden. Im Freigeiste kann das durch die Religionen entstandene religiöse Bedürfen, – jener edlere Nachschößling der einzelnen Glaubensformen, – gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, zur heroischen Kraft seines Wesens werden, zum Drang der Selbsthingabe einem großen Ziele.

In N.’s Charakter liegt ein Heldenzug und dieser ist das Wesentliche an ihm, das, was allen seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit giebt. – Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt.

Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern. An unsern Abenden, wenn die Lampe, wie ein Invalide mit meinem rothen Tuch verbunden, um seinen armen Augen nicht zu schaden, nur einen schwachen Schein durch das Zimmer wirft, kommen wir immer auf gemeinsame Arbeiten zu sprechen und wie froh bin ich, eine erkannte und bestimmte Arbeit nun vor mir zu haben. Von dem Plane, mein Lehrer zu sein, ist er ganz abgekommen, er sagt, ich dürfe nie einen solchen Anhalt haben, sondern <müsse> gänzlich unabhängig vorwärtssuchen, – auch niemals mich blos lernend verhalten, sondern schaffend lernen & lernend schaffen. – Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe gerathen, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.

Sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten jener Vorstellungen über mein Empfinden, welche N. noch vor wenigen Wochen beseligten, der uns trennt, der sich zwischen uns schiebt. Und in irgend einer verborgenen Tiefe unseres Wesens sind wir weltenfern von einander –. N. hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manchen dunklen Verließ & verborgenen Kellerraum der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt & doch sein Eigentlichstes enthalten kann.

Seltsam, mich durchfuhr neulich der Gedanke mit plötzlicher Macht, wir könnten uns sogar einmal als Feinde gegenüberstehen.

Montag. 21 August.

N. lachte sehr darüber als er gestern Dein Bild von meinem Schreibpult nahm und auch mit einzelnen, einen Rahmen darum bildenden Epheublättchen umsteckt fand, – bei der Gelegenheit vertieften wir uns in die Züge des Bildes und ich sagte ihm, man könne Deinen ganzen Charakter darin wiederfinden. Oben im Zusammenschluß von Stirn und Nasenwurzel liegt der Charakter Deines Denkens ausgedrückt: das scharf Beobachtende und Einschneidende verbunden mit einem kühnen Zug, – es macht den Eindruck intellektueller Tapferkeit u. Herrschaft. Der Blick der Augen darunter steht in einem gewissen Gegensatze dazu – sie drücken genau das aus, was Malwida Deinen Dualismus nennt, und dies ist der pikanteste Zug in Deinem Wesen: Du bist wie eine schwarze [ Schönheit mit blauen Augen, – um den Mund weich und lebensmüde, – ja mit einem] Abscheu vor dem Leben, – der ganze Pessimismus Deines Temperamentes. Dieser Zug um den Mund macht Dich älter als Du bist, Du mußt ihn schon gehabt haben als Du Deine psychologischen Beobachtungen, diese grauhaarigen Sentenzen mitten aus dem Jünglingsalter heraus, geschrieben hast. Dein Äußeres ist sprechender als das von N. dessen Charakterzüge man schwerlich aus seinem Bilde herausstudiren könnte. – Ihr differirt am meisten darin, daß bei N. das rückhaltlose Streben nach Erkenntniß gleichsam die zusammenfassende Kraft seines Wesens ist, welche alle seine verschiedensten Triebe und Eigenschaften in einem Griffe hält, – eine Art religiöser Kraft die den ganzen Menschen in eine hingebungsvolle Richtung zu diesem seinen Gott der Erkenntniß bringt. Bei Dir hingegen ist dieses selbe Streben in Gestalt rückhaltloser Wahrhaftigkeit vor Dir selbst, eine Dein Wesen in den erwähnten pikanten Gegensatz s p a 1 t e n d e Kraft. N. verhält sich seinem Erkenntnißziel gegenüber noch so, wie der Gläubige zu seinem Gott, der Metaphysiker zu seiner metaphysischen Wesenheit und stellt seinen Kopf wie seine Charakterkraft in dessen Dienst. Es liegt ihm darum noch daran, sich so zu sehen und zu erkennen wie er seinem Erkenntnißgott gegenüber sein möchte und darum ist er leicht nicht so absolut wahrhaftig vor sich selbst wie Du es bist. Deine Wahrhaftigkeit vor sich selbst, welche bei Dir die Herabsetzung gerade jener Züge bedingt welche Deine Vorzüge vor allen andern Menschen ausmachen müssen, ist nicht blos eine That des Verstandes sondern des Charakters. Deine Charakterkraft hat sich wie bei N. in den Dienst der Erkenntniß gestellt aber während dieser Dienst bei ihm religiös überhaucht und darum immer noch eine letzte Werthschätzung seiner selbst nicht ausgeschlossen ist, verhältst Du Dich Dir gegenüber rein erkennend, indifferent d. h. als bloßes Erkenntnißobjekt.

Es ist allerdings der Reichthum einer heftigen, gewaltsamen, alle religiösen & großen Empfindungen stark und mächtig in sich bergenden Gefühlswelt welche N. in diesem Punkt hindert, – so wie z. B. auf einem andern Gebiete Stein durch eine ähnliche Kraftfülle der Empfindungen trotz des intensivsten Erkenntnißdranges in den Irrthümern der Metaphysik stecken zu bleiben droht. Mit einer solchen Empfindungswelt ist es schwer sich so rein als Erkenntnißobjekt zu betrachten, wie etwa der Physiologe seine Experimentirkatze betrachtet, und zu jener Selbstlosigkeit des erkennenden Geistes zu erheben, der wie ein klares, schauendes Auge über sich ebenso ruhig wie über den Andern schwebt. Aber, wie gesagt, solche Empfindungswelt ist ein Reichthum und ein philosophischer Reichthum, vor Allem für den Psychologen, der nicht weit, tief und umfassend genug empfinden und erleben kann, um ein All-Verständniß zu haben. Ich möchte in der Haut aller Menschen gesteckt haben.

Eure oben erwähnte Verschiedenheit spricht sich auch sehr deutlich in kleinen Zügen aus. Z. B. in Euren Stilansichten. Dein Stil will den Kopf des Lesenden überzeugen und ist darum wissenschaftlich klar und streng, mit Vermeidung aller Empfindung. N. will den ganzen Menschen überzeugen, er will mit seinem Wort einen Griff in das Gemüth thun und das Innerste umwenden, er will nicht belehren sondern bekehren.

Alle Differenzen in Euren Ansichten resultiren aus diesen, Eurer Naturverschiedenheit entspringenden Differenzen Eurer Interessen, Sie fangen da an wo Dein Werk aufhört: bei der praktischen Moral. Wenn du eine solche aufstelltest, so wäre sie ein Mittel etwa zum Bewahrheiten der Theorie, bei N. ist sie der Selbstzweck und alles Theoretisiren Mittel dazu.

Eure verschiedene Art zu arbeiten ist auch bezeichnend für diese Verschiedenheit Eurer Naturen. N. ist, wie ich, besessen von seiner Arbeit, eine jede sich nicht auf sie beziehende Empfindung erscheint ihm als eine Art von Treubruch gegen sie und würde das Zustandekommen der Arbeit stören. Du hingegen besitzt die Arbeit, d. h. Du hast sie in Deiner Gewalt, Du vermagst, wie wir es in Stibbe thaten, mit der Uhr in der Hand, bestimmte Minuten lang mit mir etwa zu verplaudern und dies stört die Fortsetzung der Arbeit nicht nur <nicht>, sondern Du kannst unter Umständen frischer zu ihr zurückkehren weil sie Deine Empfindungen nicht so heftig absorbirte. Du hast nicht in dem Maße wie N., – der Egoist in großem Stil, – das Herz im Gehirne stecken und unlöslich mit demselben verbunden. – Es kann aber bei Dir auch noch einen Grund haben, nämlich diesen, daß Du im Allgemeinen dem Leben indifferent und müde gegenüberstehst und Dir, um Dich mit Lebensreiz und Arbeitsfreude zu erfüllen, etwas Freudiges und Dich Reizendes darum nicht hinderlich sein kann, es kann dasselbe, was N. zerstreut und abzieht, Dir den élan dazu geben.

< ... > beschwichtigt und einander dienen heißt. Zugleich erhält sein Ziel durch diese seine Beschaffenheit ein, ich möchte sagen christlich religiöses Gepräge, indem er aus einem gleichsam erlösungsbedürftigen, peinvollen Zustande als eine Selbstrettung heraus ergreift. Mein ganz gleiches Erkenntnißziel ergriff mich in vollem Glückszustande: es ist dies die Verschiedenheit die bei uns am augenfälligsten ist und auch an allen unsern Entwickelungskämpfen nachzuweisen ist. Nietzsche warf zum Beispiel die Religion über Bord als sein Herz nichts mehr für sie fühlte und sich in seiner Leere und seinem Überdruß nach einem neuen ihn erfüllenden Ziele sehnte. Mir fiel der Unglaube blitzähnlich in’s Herz oder vielmehr in den Verstand welcher das Herz, das mit kindlicher Inbrunst am Glauben hing, diesen Glauben aufzugeben zwang. Bei N. war der Schmerz stets die Ursache einer neuen Entwickelungsphase und auch seines jetzigen Zieles, bei mir war er ein, mir selbst angethanes Mittel um das neue, als höher vorschwebende Ziel zu erfassen. Bei ihm war es ein Zustand bei mir mehr ein Thun in welchem der Übergang zu einer neuen Entwickelung statt fand. Dieses Passive seiner Schmerzen findet sich auch eigenthümlich darin ausgedrückt daß er so viel körperlich dulden mußte, während mir durch die ganze frühere Lebensgestaltung Schmerz und Kampf zu einem Worte wurden.

In dieser Beanlagung N.’s liegt auch der Grund warum er so viele verschiedene Ziele ergriffen & aufgegeben hat, während ich schon früh und gleichsam naturnothwendig auf Eines hingetrieben worden bin. Ziele waren für mich keine Wahl, wie ich überhaupt das Wahlgefühl eigentlich nicht gekannt habe sondern in mir selber viel Analogie mit nothwendig wirkenden Naturkräften auffand, – weßhalb die Lehre von der Willensfreiheit mich nicht besonders kitzelte.

Durch dieses, eine Wahl zulassende Suchen nach einem Ziel, welches ihn aus dem peinvollen Zustande der Kräfteverzehrung und der Zerfallenheit mit sich retten sollte, kommt es auch daß dasselbe ihm nicht wie mir als die höchste Bethätigung des eignen Wesens, als intensivster Selbstausdruck erscheint, sondern als etwas von ihm Getrenntes und Verschiedenes. (<am Rand:> Und wechselt wie die Staatsformen, – je nachdem dominirenden Triebe.) Während ich also in demselben Maße mich selbst finden, bethätigen, erfüllen würde, je gänzlicher und unbedingter die Hingebung an mein Ziel, erscheint ihm seine Art Hingebung als eine Art Selbstvernichtung, die doch nur eine Selbstrettung ist und bezweckte. Und während ich es für ganz richtig halte was N. von mir sagte: »daß für ein in sich concentrirtes Wesen wie ich, welches sich ähnlich naturnothwendig entwickelt, man eigentlich ein letztes Ziel als ein sich in einer Handlung äußerndes denken müßte, – es sei eine eigenthümliche Wendung meines Wesens daß dasselbe durch seine intellektuelle Entwickelung von Handlungen erfordernden Zielen abgelenkt sei«, – empfindet umgekehrt er sein Ziel als ein gleichsam zu Erduldendes.

In diesen beiden Punkten: daß aus <den> angegebenen Gründen ihm sein Ziel als ein von ihm selbst getrennt Gedachtes und als zu Erduldendes, – die Hingebung daran also als Selbstvernichtung erscheint, finde ich die Erklärung für N.<‘s> Auffassung des Heroischen.

Heroisch war die Selbstaufopferung des Märtyrers für seine religiöse Idee, weil diese ihm moralisch hoch stand. Ich weiß nicht genau, inwieweit das Wort heroisch ohne moralische Bedeutung statthaft ist. Jedenfalls setzt es ein sich selbst um des Zieles willen angethanes Leid voraus. Dies Leid ist bei Nietzsche d a s L e b e n s e l b s t. Es ist das Beharren im Leben um der Erkenntniß willen. In meinen Augen liegt nun sein Heroismus nicht darin daß er sich um der Erkenntniß willen dies Leid anthut, denn dazu müßte dies Erkenntnißziel moralische Werthschätzung haben. Freilich können wir ohne Religion und ohne Moral in uns selber eine Selbstreligion und Selbstmoral gründen, aber dieselben bleiben doch eben in uns stecken & können heroische Mittel aber nicht heroische Zwecke bewerkstelligen, denn sie bezwecken nur das, was uns am liebsten ist, also Glück, sei es auch durch die Wollust des Schmerzes. Ist aber das Wort Heroismus ohne seine moralische Bedeutung noch statthaft, so sehe ich seinen Heroismus i n d e r K r a f t d e r S e l b s t e r h a l t u n g, – in jener Kraft, welche das Leid des Lebens freiwillig auf sich nimmt weil sie immer wieder in sich die Schöpferstärke fühlt, dasselbe zu einem Mittel für ein Ziel zu machen, in welchem sie sich über Leid und Weh hinweggetragen fühlt. Ich sehe seinen Heroismus in der Schöpferkraft welcher auch das härteste und sprödeste Material nicht zu hart und spröde ist weil sie ihm dennoch überlegen, dennoch fähig ist, aus ihm ihre Götterbilder zu meißeln.

Für uns Freidenker, welche nichts Heiliges mehr haben, was sie als religiös oder moralisch groß anbeten könnten, giebt es trotzdem noch Größe, welche uns zu Bewunderung, ja zu Ehrfurcht zwingt. Ich ahnte diese Größe an N. schon als ich Dir an den italienischen Seen von ihm sagte: sein Lachen sei eine That.

Es giebt keine Werthschätzung der Richtungen mehr, die der Mensch einschlägt, – aber es giebt eine Größe der Kraft.

[14] Noch gegen Ende des gemeinsamen Aufenthaltes, am 24. Oktober, lädt Lou v. S. Heinrich von Stein (mit dem Rée schon von Halle her bekannt war) »Im Namen unserer Dreieinigkeit, d. h. Nietzsches, Rées und meiner« zu einem Besuch in Leipzig ein (Stein kam auch, aus Halle, aber Nietzsche war an dem Tage zu einem Familienbesuch in Naumburg), und in einer Notiz von ihr über den gemeinsamen Besuch einer Aufführung von Lessings »Nathan dem Weisen« gebraucht sie den Ausdruck »unsere Dreieinigkeit« gleichfalls; aber die folgende (nicht datierte) Aufzeichnung aus Leipzig läßt auch die angedeutete »Beeinträchtigung« erkennen: »So wie die christliche Mystik (wie jede) gerade in ihrer höchsten Ekstase bei grobreligiöser Sinnlichkeit anlangt, so kann die idealste Liebe – gerade vermöge der großen Empfindungsaufschraubung in ihrer Idealität – wieder sinnlich werden. Ein unsympathischer Punkt, diese Rache des Menschlichen, – ich liebe nicht die Gefühle da, wo sie in ihrem Kreislauf wieder einmünden, denn das ist der Punkt des falschen Pathos, der verlorenen Wahrheit und Redlichkeit des Gefühls. Ist es dies, was mich [von] N. entfremdet?« – Gelegentlich hat LAS bemerkt, die »Dreieinigkeit« sei nicht eigentlich von ihnen aufgelöst worden, auch in Leipzig nicht; »aber es ging doch nicht, wenn er <Nietzsche> im geheimen anderes wollte«. – Zu der Stelle Andeutungen, die Paul Rée bei mir schlecht machen sollten wußte LAS genauere Angaben zu machen; so habe Nietzsche von Paul Rée (der ständig eine Giftphiole bei sich trug) gesagt, er sei »ein Feigling, wie es keinen gibt«. – Einige Tage vor der Abreise aus Leipzig hat Peter Gast (Heinrich Köselitz) Lou v. S. dort »ein einziges Mal gesehen und mit ihr auf ihrem Zimmer fast eine Stunde diskutiert«. Sein damaliger Bericht darüber an seine Freundin Cäcilie Gussenbauer sei wegen seiner Bildhaftigkeit hier wiedergegeben: »Sie ist wirklich ein Genie, und von Charakter ganz heroisch; von Gestalt ein wenig größer als ich, sehr gut proportioniert im Bau, blond mit altrömischem Gesichtsausdruck. Ihre Einfälle lassen erkennen, daß sie sich bis an den äußersten Horizont des Denkbaren, sowohl im Moralischen, als im Intellektuellen, gewagt hat, wie gesagt: ein Genie, an Geist und Gemüt.« (E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, Weimar 1932, S. 82.) Die um 15 Jahre spätere Äußerung von Peter Gast, in einem Brief an Josef Hofmiller, »In der Nähe Nietzsches einige Zeit gelebt zu haben und, anstatt entflammt worden zu sein, nur eine Beobachterin und kalte Registriermaschine zu sein – das ist auch etwas«, gehört eher in eine Geschichte des Nietzsche-Archivs und in eine Charakteristik von Köselitz. LAS hat zu anderen Äußerungen von Gast (diese kannte sie nicht) bemerkt, in Leipzig habe er »schwärmerisch« von ihr gesprochen, später habe er (als Mitarbeiter am Nietzsche-Archiv) »nach dem Gehalt geredet«, wie er selbst gesagt (vgl. das Kapitel »Peter Gast« in dem oben angeführten Buch).

[15] LAS entsann sich, wie Paul Rée und sie in Stibbe oft über Briefen von Nietzsche gerätselt und die Antwort beraten hätten: »wie vermeidet man, was ihn kränkt?«; sie schilderte auch beispielsweise, wie sie in der Nachmittagsstille in Stibbe, auf den Brief Nietzsches von Ende November mit der Wendung »schaffen Sie reinen Himmel!«, »die Wolke an unsrem Horizonte lag auf mir!« zurückkommend, zu Rée hinübergefragt habe »Was kann er damit meinen?« und dieser ihr antwortete »Weiß Gott ...« Der Brief von Mitte Dezember, mit dem Eingang »Beunruhigt Euch nicht zu sehr über die Ausbrüche meines >Größenwahns< oder meiner >verletzten Eitelkeit<« bezieht sich mit diesen Worten wohl zurück auf die Eröffnungen der Schwester von jenem Streitgespräch, die offenbar am Ende der Tautenburger Zeit nochmals Bedeutung erhalten hatten: »Mit meiner Schwester habe ich nur wenig noch gesprochen, doch genug, um das neue auftauchende Gespenst in das Nichts zurück zu schicken, aus dem es geboren war.« – Nachdem Nietzsche dann, vor allem infolge einer Äußerung seiner Mutter, sich auch von seinen Angehörigen zurückgezogen hatte, Lisbeth Nietzsche aber, sobald sie gehört, »daß die Geschichte mit Frl. Salomé aus ist«, wieder die Beziehung zum Bruder brieflich anzuknüpfen versucht hatte, erfolgte im Mai 1883 in Rom die Versöhnung zwischen Bruder und Schwester, unter der Bedingung des Schweigens über die »ganze Sache«. Wie einem Brief Nietzsches an Frau Overbeck von Ende Juli 1883 zu entnehmen ist, hat Nietzsche dann vor drei Wochen durch seine Schwester endlich die letzten Aufschlüsse erhalten: »ein Brief meiner Schwester an Frau Rée (beiläufig gesagt, ein Frauenzimmer-Meisterstück von Brief!), dessen Copie sie mir schickte, gab mir Lichter und welche Lichter! Dr. Rée tritt auf Ein Mal in den Vordergrund ... « In dieser zweiten Phase der furchtbaren Selbstrettung oder Selbstpreisgabe wendet sich Nietzsche also hauptsächlich gegen Rée (dessen »Mundstück« Lou v. S. nur gewesen sei) wie in der ersten gegen Lou. Schließlich aber bricht Nietzsche mit seiner Schwester, »durch diese unsäglich widrige Aufhetzerei geradezu krank gemacht« (Brief an Malwida v. M. vom Mai 1884). – Die Vorgänge können hiermit, zumal hinsichtlich des psychologischen Verhaltens von Nietzsche, nur vereinfachend angedeutet werden; schon infolge der Vernichtung fast aller Briefe von Lou von Salomé und Paul Rée an Nietzsche ist auch das noch dokumentarisch Aufhellbare eingeschränkt. Die schon erwähnte Aufzeichnung von Lou v. S. aus der Neujahrsnacht von 1883 läßt von den Konflikten mit Nietzsche nichts erkennen:

»In den ersten Tagen des Januar war es, als ich krank und müde in den Sonnenschein von Italien kam, – um Sonnenschein und Leben für das ganze Jahr von dort mit fortzunehmen. Wie viel von dieser Sonne lag auf unsern römischen Spaziergängen und Plaudereien, wie viel auf der Orta-Idylle mit ihren Kahnfahrten und ihrem monte sacro mit seinen Nachtigallen, wie viel auf jener Schweizer Reise durch den Gotthardt, auf den Tagen von Luzern. Und dann, als ich mich von Mama trennte und das wiedergewonnene Leben gestalten wollte, da gingen wir jenes eigenthümliche Freundschaftsverhältniß ein, von dem bis auf heute unsere ganze Lebensgestaltung abhängt. Ein Verhältniß wie es vielleicht in dieser Intimität und dieser Zurückhaltung nicht wieder existirt, so wie auch vielleicht selten oder nie zwei Menschen einen Bund mit so viel Unbesonnenheit und zugleich soviel Besonnenheit eingegangen haben. Wir wußten es freilich noch nicht, wie es sich herausbilden würde, als ich an jenem Abend in Stibbe einfuhr, allein und unbekannt in die Fremde, welche mir durch Dich zur Heimath geworden war, trat. Aber dann kam der Tag wo wir zusammen Stibbe verließen und Hand in Hand, wie zwei gute Kameraden und mit der Zuversicht, nicht mißverstanden werden zu können, in die »große Welt« kamen. Da haben wir uns nun festgenistet, in dieser großen Welt, und allem Schein und allen Schwierigkeiten zum Trotz hat sich unser Verhältniß vor uns selbst und unter den Menschen als lebensfähig erwiesen. Von fern, ja selbst von befreundeten Seiten her, erklang hin und wieder ein mißbilligendes oder ängstliches Urtheil, aber nur auf Verständniß, Herzlichkeit und Wärme trafen wir unter den Menschen, die in unserer Nähe waren, und unter deren Augen wir lebten. Es erwies sich, daß durch die Vermeidung des Scheines, durch die Beibehaltung der ganzen Schnürbrust von Vorurtheilen und Rücksichten, in welche man tausend der schönsten Lebenstriebe zurückzuzwängen gewohnt ist, nicht mehr Achtung und Liebe erworben werden können als durch die volle Auslebung der Persönlichkeit, die in sich ihre Selbstlegitimation trägt. Und wir selber, mitten in diesem reichen, eigenthümlichen und angeregten Leben, wir sind uns immer lieber und lieber geworden. Unsere Freundschaft, wie eine sorglich behütete und gepflegte edle Kunstpflanze, hat unsern Gärtnertalenten Ehre gemacht und heute steht sie mit tausend alten Blüthen und tausend neuen Knospen.«

Die Haltung von Lou Andreas-Salomé gegenüber den verschiedenen Behauptungen von Elisabeth Förster-Nietzsche (Lou A.-S. sei Finnländerin, sei Jüdin; ihr Nietzsche-Buch sei der »Racheakt verletzter weiblicher Eitelkeit gegen den armen Kranken«, eine Fälschung des Wesens, des Charakters und der Lehre Nietzsches u. a. m.) wird lebensvoll deutlich durch einen Brief, den sie an ihre Freundin Frieda von Bülow wohl im Februar 1905 auf einen Brief von Maximilian Harden hin schreibt (dieser hatte einen Aufsatz »Nietzsche-Legenden« von Elisabeth F.-N. in seiner Zeitschrift »Die Zukunft« vom 28. Januar 1905 veröffentlicht). Der Brief von Lou A.-S. verdeutlicht durch das Zitat aus dem Brief von Malwida v. M. auch etwas die Stelle über die haltlosen »Verdächtigungen« durch Nietzsche. Auch hierin war Lisbeth N. offenbar ihrem Bruder vorangegangen, so mit Behauptungen über das »Zusammenwohnen« von Lou und Rée in Leipzig. Lou A.-S. muß feste Anhaltspunkte für ihren Vorwurf gegen Nietzsche gehabt haben, da sie ihn wiederholt erhoben hat.

»In Hardens Brief ist mir ein Wort interessant, welches mir zeigt, was die Förster vermag. Denn nur infolge des von ihr ausgesprengten Urtheils, (von dem ich annahm, daß es jedem Leser meines N.-Buches als unglaublich einleuchten würde) daß mein N.-Buch nämlich der Racheakt einer verschmähten Frau sei, – sagt Harden, mein Buch sei in der That »nicht schön«, d. h. eine unschöne Handlung. In Wahrheit ist es so sehr N. glorifizirend, wie ich nur ehrlicherweise irgend thun durfte; und ich schrieb es ausschließlich, weil es mir damals, wo fast bloß junge Litteraten sich dumm an dem Gegenstand versündigten, nothwendig und eine Art Verpflichtung gegen N. schien. Nordau griff mich damals daraufhin als blinde N.-Jüngerin an! Wie kann jemand, der es las, so wie Harden urtheilen?! Natürlich denkt auch die Förster nur scheinbar so, wohl wünscht sie es noch glorifizirender, aber Ihr Haß gegen mich (den ich damals längst vergessen hatte) ist älter und seine eigentliche Quelle mir eigentlich unbekannt, jedenfalls ganz persönlicher Natur (Eifersucht); gewarnt worden bin ich vor ihr ja schon ehe ich sie noch kannte.

Was nun eine Entgegnung betrifft, so könnte ich natürlich, sei es boshaft, sei es sachlich, eine solche machen, das hätte ich ja aber längst gekonnt, wenn ich’s ertrüge, daß diese Person mir einfach mein bischen Freude, Frieden und Arbeitsglück schmälern darf. Denn wenn ich schon antworte, muß es doch die Sache dauernd klären. Aber mein Verhältniß zu N. enthält doch persönlichste Dinge, wie Heirathsantrag, Korb, und sehr unschöne Reaktion seiner auf Rée eifersüchtigen Wuth, die uns beschmutzte, wie sie nur irgend konnte. M[alwidal v. M[eysenbug] schrieb mir damals: »N. machte eben seiner Eifersucht Luft«, war zugleich empört, daß wir »wegen unserer eigenen Neigung zueinander den ungl[ücklichen] N. >verlassen<«. Im neuen N.-Band <der Biographie> hat die Förster sicherlich noch weit Ärgeres geschrieben als bei H[ardenl, z. B., ich sei ja auch Rée vergeblich als Heirathskandidaten nachgelaufen. Soll man all so was »widerlegen«?! Und schreibst Du darüber, als mein Freund, so mußt Du ebenso alles Sachliche beibringen, sonst nimmt man schließlich mit Recht an, daß es sich wohl garnicht sachlicher widerlegen ließe. Also dies Wespennest auswühlen, oder gar nicht reagiren, – d. h. von mir aus, als von mir autorisirter Freund. Dagegen jede andere Art zu reagiren, gegen die Förster selbst gerichtet, wäre werthlos, so schön sie mir schmecken würde, denn ich bin ein Mensch und gönne ihr Ärgerniß bis sie platzt. Am stärksten trifft mich doch, daß Dinge wie mein Buch so falsch aufgefaßt werden können. Hingegen glaub ich von mir selbst, daß ich nicht so aufgefaßt werden kann, wie die Förster es will, von irgend jemandem, der mich in den N.-Jahren kannte. Allzu sehr passen ihre Schmähungen wie die Faust aufs Auge: meine Sünden waren durchweg die entgegengesetzten.

Adju! Harden wird nun am Ende denken: wir wagen uns nicht gegen sie.«

Zu Nietzsches »Lou-Erlebnis« siehe auch die Angaben von Karl Schlechta im III. Band seiner Nietzscheausgabe (»Werke in drei Bänden«, München, 1956; S. 1371f.).

[16] Das ging so weit, daß sie, Lou A.-S., beispielsweise die Blätter in der Nietzsche-Biographie von Elisabeth Förster-N., 1895 ff., die von der Begegnung Nietzsches mit ihr handelten, unaufgeschnitten ließ. Und noch zur Zeit der ersten Niederschrift des hier vorliegenden Kapitels hatte sie von der späteren Veröffentlichung bestimmter Briefentwürfe Nietzsches durch seine Schwester keine Kenntnis genommen. – Gelegentlich hat LAS noch bemerkt, man habe zu Nietzsche kein eigentliches »Vertrauen« haben können; oder auch: seine »achtfachen Motivierungen« hätten das Vertrauen gestört; von dem »intriganten« Wesen seiner Schwester habe er doch auch etwas gehabt.

[17] Es erschien 1894 in Wien im Verlag von Carl Konegen und ist »Einem Ungenannten« (Paul Rée »In treuem Gedenken gewidmet«; die in dem Buche (das den Nachlaß noch nicht berücksichtigen konnte) durchgeführte Unterscheidung von drei Perioden in Nietzsches geistiger Entwicklung hat Lou A.-S. zuerst im Januar 1891 in einer Zeitung veröffentlicht; auch andere Vorstudien wurden von ihr publiziert; schon in Leipzig, im Oktober 1882, hat sie einen »Entwurf zu einer Charakteristik Nietzsches«, sein »Wesen« und auch seine »Wandlungen« betreffend, »ihm vorgelesen und mit ihm durchgesprochen« (s. Seite 4 ihres Buches). – Die 3 Perioden sind: 1. Nietzsche auf der Stufe, da »der Gegenstand seiner religiös empfundenen Hinwendung noch nicht mit ihm selbst zusarnmenfällt« (Wagner-Jüngerschaft auf dem Grunde der Philosophie Schopenhauers); 2. N. als »der affektlos Rein-Erkennende« in positivistischem Sinne (von »Menschliches, Allzumenschliches« an); 3. N. als »mystischer Willensphilosoph« (die »Lehre von der ewigen Wiederkunft aller Dinge« hatte N. Lou v. S. anvertraut; »nur mit leiser Stimme und mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens sprach er davon«, Nietzschebuch S.222).

[18]  Man sollte in der psychologischen Rückbeziehung der entsprechenden Passagen des Zarathustra I zwar nicht überziehen, andererseits spiegeln sich im Denken und in den Äußerungen notwendig Erlebnisse und Probleme des sich Äußernden – und so mit Sicherheit auch bei Nietzsche; allein schon die berühmte Stelle mit der Peitsche, die beim Gang zum Weibe nicht vergessen werden soll, ist wohl durchaus als eine Reminiszenz an das sattsam bekannte Foto einzuordnen. Allerdings haben sich Peitscheninhaber und die Qualität der Peitsche als Reaktion auf die Geschehnisse verkehrt: Stellt zunächst Lou eine Art antreibende Muse mit dem lustig-symbolischen Blumenpeitschchen dar, so ist es im Zarathustra die Alte, welche die Peitsche nicht zu vergessen mahnt, um sich vor falschen Verführungen durch das Weibliche zu sichern und es damit in die „gehörigen“ Schranken zu verweisen. Die Peitsche ist hier also ebenso symbolisch gemeint wie auf dem Foto – sie dient im Grunde weniger zur „gewaltsamen Unterordnung“ des Weibes als zum Selbstschutz des „Mannes“ Nietzsche, der seine Naivität in Sachen Frauen soeben bitter zu bezahlen hatte.

Klingt es nicht wie eine direkte (und ungerechte! ebenso ungerecht wie viele der Briefentwürfe Nietzsches!) Erinnerung an Rée und Lou, wenn Zarathustra in „Von der Keutschheit“ sagt:

 

   „Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als in die Träume eines brünstigen Weibes?

    Und seht mir doch diese Männer an: ihr Auge sagt es — sie wissen nichts Bessere auf Erden, als bei einem Weibe zu liegen.

    Schlamm ist auf dem Grunde ihrer Seele; und wehe, wenn ihr Schlamm gar noch Geist hat!“

 

Oder im „Vom Freunde“ – hier spricht sich überdeutlich aus, was er von Lou eigentlich erwartet hatte (und – ach – auch die meisten Männlein, wie etwa Rée, erweisen sich ja als Weiblein ...):

    „Allzulange war im Weibe ein Sclave und ein Tyrann versteckt.

Desshalb ist das Weib noch nicht der Freundschaft fähig: es kennt nur die Liebe.

    In der Liebe des Weibes ist Ungerechtigkeit und Blindheit gegen Alles, was es nicht liebt.  Und auch in der wissenden Liebe des Weibes ist immer noch Überfall und Blitz und Nacht neben dem Lichte.

    Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel.  Oder, besten Falles, Kühe.

    Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig.  Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn fähig der Freundschaft?“

 

Und in „Von alten und jungen Weiblein“, direkt vor dem so oft verfälschten Peitschenzitat, gibt er sehr deutlich sein letztes Wort über Lou und die Weiblein:

„Des Mannes Gemüth aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht.“