Helmut Walther (Nürnberg 2008)

Nietzsche und Bergson
"Wille zur Macht" und "élan vital"



Nietzsche und Bergson im Vergleich (Frederick Copleston 1942)

Lange-Eichbaum über Nietzsche (1946)

Beides vorgestellt von Georg Siegmund (1947)

Quelle: Philosophisches Jahrbuch, 1888 begründet von Gutberlet und Pohle, Neuherausgegeben von Prof. D. Dr. G. Siegmund, 57. Band, 3. Heft, Verlag Parzeller & Co, Fulda 1947, S. 388-398

Georg Siegmund bespricht in seinem Artikel diverse Neuerscheinungen des Jahres 1947 wie auch etwas vorher erschienene Schriften zu Nietzsche unter der Überschrift Nietzsche der Sündenbock? (S. 388). Interessant auch noch für heutige Leser erschienen mir darin die Anmerkungen und vor allem umfangreichen Zitate Siegmunds aus den Büchern von Frederick Copleston* und Wilhelm Lange-Eichbaum**, welchen Teil des Textes ich daher hier insgesamt vorstellen möchte (S. 391-398).

Siegmund bringt im übersetzten Originaltext vor allem ein längeres Zitat Coplestons, der die Philosophien von Bergson und Nietzsche vergleicht – und, was Wunder als Priester und Jesuit, natürlich zu einer Aufwertung Bergsons und Abwertung Nietzsches gelangt. Dies umso mehr, als Bergson gegen sein Lebensende selbst einen Übertritt zum Katholizismus andachte. Trotzdem: nimmt man die einseitigen Wertungen heraus, so bleibt dieser Vergleich doch des Lesens wert.

Siegmund neigt hier – im Abfassungsjahr 1947 vielleicht nicht verwunderlich, man vergleiche nur, was Otto Flake zum gleichen Zeitpunkt schrieb – sehr der Auffassung Coplestons zu, und das Nämliche trifft auch auf seine Besprechung des soeben erschienenen Lange-Eichbaum zu Nietzsche zu, von dessen teils maßlos übertriebenen Interpretationen und Diagnosen sich Siegmund keinesfalls distanziert.

Jedenfalls bleibt es immer interessant, wie die Zeitläufte die Sicht auf gewisse Gedanken und Lehren beeinflussen, und trotz dieser teils zeitbedingten Übertreibungen sind dennoch auch durchaus bedeutsame Überlegungen weiterhin des Nachdenkens wert.

 

S. 391 ff.: Auch im Auslande ist das Interesse an der Gestalt Nietzsches wachgeworden, wie die Bemühung, seine Bedeutung für die gegenwärtige Lage richtig zu bewerten. ...

Eine solche Beurteilung aber unternimmt das englische Buch von Frederick Copleston ohne verletzende Schärfe und Aggressivität, aber mit der entschiedenen Sicherheit eines Mannes, der sich aus einer gewissen Distanz die Uebersicht gewahrt hat. Obwohl bereits in den Kriegsjahren erschienen, hat diese Beurteilung nichts an Aktualität verloren. Nicht ohne Sympathie für den Menschen Nietzsche und die ihn bedrängende Problematik geht Copleston an sein Werk. Er weiß es und spricht sofort zu Beginn klar aus, daß der Philosoph des Uebermenschen und des Willens zur Macht keineswegs mit der Ideologie des Dritten Reiches identifiziert werden darf. Sine ira et studio soll die Sache selbst ihr Urteil sprechen. "Trotz allen Mitgefühles mit der persönlichen Tragödie von Nietzsches Leben, trotz eines gewissen Respektes vor der Lebendigkeit und dem Mut, womit Nietzsche sich selbst dem weihte, was er als eine Mission ansah, trotz der Anerkennung der natürlich guten Eigenschaften an ihm, trotz des Bedauerns, daß soviel Talent und Energie für falsche Ziele vergeudet wurden, können wir nicht anders als feststellen, daß Nietzsche seine Augen für das Licht verschloß, dadurch, daß er Gott und Christentum bewußt verwarf und sich so den schärfsten moralischen Tadel verdiente. Wir vermessen uns natürlich nicht, zu wissen, was zuletzt in seiner Seele vor sich ging ... aber die Tatsache bleibt und muß klar festgestellt werden, daß Friedrich Nietzsche zur Zeit seiner literarischen Tätigkeit die Finsternis dem Lichte vorzog. Es ist nicht so, als ob Nietzsche etwa vorübergehend, von der Sicht der Leiden in der Welt und der Menschen Sünden überwältigt, einer atheistischen Periode erlegen wäre: nein, er kultivierte den Atheismus, versteifte sich darin und propagierte ihn. Wir können darum nur sagen, daß er – intellektuell gesehen – ein sehr schlechter Mensch war."

Obgleich Copleston nicht glauben kann, daß Nietzsche mit Freude auf die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland geblickt hätte – er würde darin eher eine Karikatur seiner Lehre gesehen haben –, so will ihm doch scheinen, daß Nietzsches Lehre von den neuen Werte-Tafeln, vom Egoismus, der Verleugnung des Mitleids usw., im konkreten zu solchen Erscheinungen führen mußten, wie sie in den skrupellosen und erbarmungslosen Diktatoren der letzten Jahre Wirklichkeit wurden.

Der letzte Abschnitt des Buches spricht vom Zentralbegriff Nietzsches, seiner Lebensphilosophie. Copleston vergleicht zwei Lebensphilosophen miteinander: Nietzsche und Bergson. Gerade dieser Abschnitt bietet Neues.

"Nietzsche, der 1900 starb, und Bergson, der 1941 starb, sind beides große Gestalten auf der europäischen Bühne, obgleich die äußeren Umstände ihres Lebens sehr verschieden sind. Nietzsche, der ,Arier’, kommt dazu, ein immer strengeres und bittereres Urteil über sehn eigenes Land und Volk abzugeben; nach kurzer Zeit als Professor in Basel, lebte er im Auslande, allein und von seinen Landsleuten unbeachtet. Bergson, der Jude, war ein patriotischer Franzose, ein gefeierter und angesehener Professor an der größten Universität Frankreichs, ein Mann, auf dessen Wort man mit Achtung und Aufmerksamkeit lauschte. Nietzsche, der Sohn frommer lutherischer Eltern, wurde ein unversöhnlicher Feind des Christentums. Bergson näherte sich mehr und mehr der christlichen Religion und soll vor seinem Tode in die katholische Kirche aufgenommen worden sein.*)

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*) Anm.: Wir erfahren neuestens, daß Bergson zwar entschlossen war, die Taufe zu empfangen, und schon den Priester bezeichnet hatte, der sie ihm spenden sollte, jedoch diesen letzten Schritt unterließ. Sein Testament enthält folgende Erklärung: "Mein Denken und Forschen hat mich dem Katholizismus immer näher gebracht, in dem ich die Vollendung des Judentums erblicke. Ich wäre (zum katholischen Glauben) übergetreten wenn ich nicht seit Jahren die ungeheure Welle des Judenhasses, die die Welt zu überfluten droht, sich hätte vorbereiten sehen. Ich wollte mitten unter denen bleiben, die morgen die Opfer der Verfolgung sein werden" (1937).

Doch ist mit beiden Männern der Begriff des Lebens verknüpft. Der ,Lebens’-Begriff ist ebenso wesentlich für die Philosophie Nietzsches wie für die Philosophie Bergsons. Was im einzelnen Nietzsches Gedankenwelt für einen Einfluß auf Bergson ausgeübt. hat, darüber zu urteilen fühlt sich der Verfasser nicht in der Lage. Aber soviel ist klar, daß die Lebensphilosophie in den Händen beider Männer ganz verschiedene Gestalt annahm. In den Händen Nietzsches wird die Lebensphilosophie, trotz aller Behauptung und des oberflächlichen Anscheines des Gegenteiles, – so behaupte ich – fundamental pessimistisch und verfällt jenem Nein dem Leben gegenüber, das sie angeblich verruft und schmäht. In den Händen Bergsons hingegen wird die Lebensphilosophie fundamental optimistisch und ruft dem Leben in seinen höchsten Manifestationen ein triumphierendes Ja zu.

Es gibt natürlich auch Ähnlichkeiten zwischen der Gedankenwelt Nietzsches und Bergsons; eben sie lassen einen Vergleich zwischen beiden begründet und fruchtbar erscheinen. ... Nietzsche betrachtet das Leben als höchstes Erzeugnis der Natur; er ruft nach Mehr-Leben und höheren Formen des Lebens. Die Gebärde, die er einprägen möchte, ist ein freudiges und triumphierendes Ja zum Leben. Auch für Bergson ist das Leben die höchste Erscheinung der Natur. Wir brauchen nur zu lesen: Matière et Mémoire, Evolution créatrice und Les deux Sources, um den zentralen und unleugbaren Vitalismus der Bergsonschen Philosophie zu finden. Bergson wie Nietzsche ist in gewissem Sinne Anti-Rationalist, Anti-Dialektiker. Es wird ein Nachdruck auf die Intuition gelegt, der mit Nietzsches Methode verwandt ist. Bergsons Philosophie ist natürlich viel fester in empirischen Tatsachen verankert als die Nietzsches. Ueberdies ist der Weg verschieden. Bergson nähert sich seiner methaphysischen Philosophie langsam und sorgfältig von einem wissenschaftlichen und biologischen Standpunkt – die Positivisten und Materialisten schlägt er mit ihren eigenen Waffen, wohingegen Nietzsche dazu neigt, seine Beobachtungen und Behauptungen in Abhängigkeit von einem vorgefaßten Ideal zu machen, das er gemeinhin ohne Versuch wissenschaftlicher Begründung hinstellt. Doch bei beiden Männern können wir einen Zug zur Poesie und zum Enthusiasmus feststellen, eine Atmosphäre von Frische und Wirklichkeitsnähe, die einerseits dem begrifflichen Rationalismus eines Hegel widerstreiten wie den dürren Wüsten der positivistischen und modernistischen Philosophie anderseits. In beiden Philosophien wiederum ist eine bedeutende Stellung dem großen Menschen, dem ,Heros’, eingeräumt; wir brauchen als Beleg dafür nur Nietzsches ,Zarathustra’ und ,Willen zur Macht’ wie Bergson ‚Zwei Quellen’ zu lesen. Das menschliche Leben ersteigt seinen Gipfel im Heros.

Aber obgleich die bezeichneten Aehnlichkeiten zwischen den Philosophien Nietzsches und Bergsons bestehen – wir können wirklich sagen, daß Bergson im Strom der Lebensphilosophie steht, der Nietzsche einschließt –, bestehen auch deutlich gezeichnete und lebhaft kontrastierende Gegensätze. Und bei diesen Gegensätzen will ich kurz verweilen. Gerade diese Unterschiede enthüllen die grundlegenden Fehler des Gedankenbaues Nietzsches wie die Ueberlegenheit der Philosophie Bergsons. Hier soll nicht die ganze Philosophie Bergsons unterschrieben werden. Aber wir sind davon überzeugt, daß Bergson eine Botschaft für den modernen Menschen hat, und daß seine Philosophie – gesehen im Lichte seiner weiteren Entwicklung – als fundamental gesund und richtig erscheint.

Was ist in Nietzsches Augen das Leben, wie es auf unserem Planeten erscheint? Es ist ‚Wille zur Macht’, aber wo steht es letztlich? Wir können lediglich sagen, daß es von der Natur herausgeschleudert ist, ein ständig wiederkehrendes Phänomen in einem zyklischen Prozeß. Wie oben bemerkt, können wir in Nietzsches Philosophie nicht von Zielen der Natur sprechen. ,Natur’, atheistisch und blind, kann kein Ziel haben. Leben als einfache Erscheinung ist ein unleugbares Phänomen, das wir zu akzeptieren haben, das aber nicht in einem teleologischen Schema einen integrierenden Platz erhalten würde. Anders ausgedrückt: es kann keinen letzten Sinn haben. Für Bergson hingegen leitet sich das Leben, so wie es auf unserem Planeten erscheint, als Impuls von ‚Dem Leben Selbst’ her, es ist eine Manifestation des schöpferischen Lebens, des ‚Actus purus’ – um einen Ausdruck der aristotelischen Schule zu gebrauchen –, der alle Phänomene hervorbringt. Leben ist für Bergson nicht eine Erscheinung, die im Leeren einer atheistischen Natur hängt, sondern es wird hier gesehen gegen den letzten Hintergrund des schöpferischen Lebens selbst, Gott; er wirkt schaffend in der Natur, in der Aufwärtsbewegung der Natur zu immer höheren Formen. Obgleich Bergson in ‚Evolution créatrice’ sehr vorsichtig von Teleologie spricht, tut er es ganz klar in ‚Les deux Sources’, daß das Leben einen Sinn hat, und daß das menschliche Leben seine tiefste Erfüllung findet in dem Augenblick der Vereinigung mit Gott. Obgleich Bergson es als Philosoph nicht unternimmt, die Teleologie im Universum zu erklären, läßt er ohne Zweifel Raum für die Teleologie, wie sie in der christlichen Offenbarung und Theologie angedeutet ist. Wenn Bergson tatsächlich vom Ziele der Natur spricht, so ist der Ausdruck bei ihm, aber nicht bei Nietzsche berechtigt; letztlich muß das Ziel auf den Schöpfer-Gott bezogen werden, der sich selbst in der Welt darstellt. Während es beim Autor von ‚Les deux Sources’ nicht überraschen kann, wenn er sich dem katholischen Glauben zuwandte, so wäre es auf Nietzsches Seite ein völliger Umsturz, wenn er zur Religion seiner Kindheit zurückgekehrt wäre.

Im ‚Zarathustra’ ist, wie wir gesehen haben, die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen in den Mittelpunkt gestellt zusammen mit der Lehre vom Uebermenschen und der Umwertung der Werte. Nun schließt eben die ewige Wiederkehr des Gleichen in sich, daß es keinen Sinn im Universum gibt. Es kann sich selbst nicht erklären und kann auch nicht ex hypothesi aus etwas anderem, als es selbst ist, erklärt werden. Es muß einfach als Faktum akzeptiert werden unter Verzicht auf jede Hoffnung einer Erklärung. ‚Erklärung’ ist einfach ein Un-Sinn, eine Fiktion theologischer und idealistischer Philosophen. Platon, Kant, Hegel und ihre Anhänger waren große Mythologisten; sie erfanden eine Ideal-Welt, eine absolute Vernunft, oder sonst etwas; sie suchten zu erklären, was nicht zu erklären ist, sondern einfach hingenommen werden muß. Sie setzten damit die Wirklichkeit zurück zugunsten einer Ideal- oder fiktiven Welt. Aber der Mensch kann nicht auf eine Erklärung verzichten, er kann nicht verzichten, das ‚Darüber hinaus’ zu suchen, es sei denn, er gibt sich damit zufrieden, einem unheilbaren Pessimismus zu verfallen. Nietzsche versuchte jedenfalls beides zu halten: einen metaphysischen Pessimismus mit einem psychologischen Optimismus zu verbinden. Damit tut er der menschlichen Natur bis zum Zerreißen Gewalt an. Ernste Denker, die darauf ausgehen, Werte zu begründen und zu erhalten, können sich mit dem Fehlen einer metaphysischen Grundlage nicht zufrieden .geben. Schon diese Tatsache ist sicherlich ein Fingerzeig, daß es eine solche Grundlage gibt, die sich demütigem und geduldigem Forschen enthüllt. Nietzsche war ein ernster Denker; er versucht es, Werte ohne metaphysische Grundlage festzustellen. Dieser Weg endete im Wahnsinn. Nicht alle ,Pessimisten’ verfolgen Nietzsches Weg bis zum gleichen Ende. Aber eben auch nicht alle, die Nietzsches Standpunkt teilen, sind von Nietzsches leidenschaftlichem Ernst beseelt. Philosophie war für Nietzsche kein Spiel, sondern ein leidenschaftlicher Kampf, veranlaßt durch den festen Entschluß, sein Auge vor der Wahrheit zu verschließen.

Für Bergson hingegen hat das Universum einen letzten und metaphysischen Grund. Hinter und innerhalb des Entwicklungsgesetzes der Natur steht das schöpferische Leben, und die Welt geht aus der Schöpferhand Gottes hervor. Ein Sinn ist darum im Universum verwirklicht. Die erfahrbare Wirklichkeit ist nicht bloß blinde Tatsache, sondern schöpferische Kraft, fortschreitende Offenbarung Gottes. Bergson steht in dieser Hinsicht in einer Linie mit den großen Philosophen, mit Platon, Plotin, mit Thomas von Aquin, Bonaventura, mit Hegel und Fichte, mit Whitehead in unseren Tagen (ich will keineswegs alle diese Denker gleichstellen, noch weniger meine Uebereinstimmung mit allem, was sie gesagt haben, zum Ausdruck bringen – ein unmögliches Unterfangen im Hinblick auf ihre Unterschiede); er steht in einer Linie mit denen, die eine metaphysische Grundlage des Universums festzustellen und den Sinn des Lebens zu enthüllen versuchen. Der Welt-Grund, den dieser oder jener Denker annimmt, mag irrig sein; aber wird wenigstens überhaupt ein Grund angenommen, so besteht doch wenigstens die Möglichkeit, von einem ,Sinn’ zu sprechen. Im Falle Nietzsches besteht diese Möglichkeit nicht. Wenn es keinen Sinn gibt, was für einen Sinn kann es dann haben, die Ankunft des Uebermenschen zu predigen? Könnten wir nicht ebenso gut suchen, so glücklich wie möglich zu werden, und "Adel" Adel sein lassen? Um der Werte willen etwa? Aber die Werte sind ja nach Nietzsche relativ. Was bedeuten Werte in einem Lehrsystem, das einer letzten Grundlage und Berechtigung entbehrt? Der Aufstieg des Lebens geschieht in Nietzsches Philosophie in der Richtung auf den Uebermenschen zu. Dieser ist die schönste Blüte der Kultur, die Ueberhöhung des Menschen; der Uebermensch steht im Lichte der Zukunft in seinem Glanze, stark, unabhängig, geistig gebildet, edel, aber Mensch für sich selbst, der selbstsüchtige ‚Herr’ angetan mit dem Panzer der Härte, frei von Sanftmut und der Entartung des Christentums. Aber warum sollten wir für das Erscheinen eines solchen Menschen arbeiten? Warum sollten Millionen und Millionen dem Egoismus im großen Stile geopfert werden, wie edel auch immer und wie frei von Kleinheit er auch immer sein möge? Der Uebermensch ist nur der natürliche Mensch, der in den xten Grad erhoben ist: in ihm sind die höchsten Möglichkeiten des Menschen, seine höchste Berufung nicht verwirklicht. Er kann als Ideal nicht aufrecht erhalten werden, ohne gleichzeitig den Menschen zu erniedrigen, zu verkleinern und zu ersticken. Wie verschieden ist der ‚Held’ von Henri Bergson, der vorwiegend der christliche Heilige und Mystiker ist! Diese Uebermenschen Bergsons sind ein großes Heer, in dem die Begründer und die Reformer der Religion zu finden sind, die Mystiker und die Heiligen, die stillen Helden des moralischen Lebens, die wir auf unserem Weg getroffen haben und die in unseren Augen den Größten gleichberechtigt sind. Es sind Eroberer, aber Eroberer, weil sie den natürlichen Widerstand gebrochen haben. Es sind Menschen der Tat, und nicht, lediglich Passive, ,Entartete’, weil sie mit dem Leben erfüllt sind, das von Gott kommt. ‚Sicher ihrer selbst, weil sie in sich etwas Besseres fühlen als sich selbst. Sie erweisen sich als große Männer der Tat, zur Ueberraschung derjenigen, für die Mystik nichts anderes als Visionen, Entzückungen und Ekstasen bedeutet. Durch sie hindurch floß ein Strom, der über sie hinaus auf die Mit-Menschen zielte. Die Notwendigkeit auszubreiten, was sie empfangen haben, erfaßt sie wie ein Ansturm der Liebe’ (Bergson). Sie sind Gefäße eines ungeheuren Stromes von Leben, ‚von ihrer vermehrten Vitalität strahlte eine außerordentliche Energie aus. Kühn, eine Gewalt des Begriffes und der Vorstellung; man denke nur einmal an das, was an Tat durch einen heiligen Paulus, eine heilige Theresia, eine heilige Katharina von Siena, einen heiligen Franziskus, eine Jeanne d'Arc und wieviele andere geleistet worden ist!’ (Bergson).

Und diese Uebermenschen, diese Heroen Bergsons, sind gewappnet nicht mit dem Panzer der Härte und des Hochmuts, sondern mit dem Mantel einer warmen und strahlenden Liebe, ‚einer Liebe, die jeder von ihnen mit seiner Persönlichkeit tränkt. Einer Liebe, die in jedem von ihnen ein ganz neues Gefühl ist, fähig dazu, das menschliche Leben in einen ganz anderen Klang zu versetzen; einer Liebe, die jeden für sich selbst geliebt werden läßt, so daß durch ihn und für ihn andere Menschen ihre Seele der Menschenliebe öffnen wollen’. ,Einer Liebe, die ebensogut durch das Medium einer Person geleitet werden kann, die sich ihnen angeschlossen hat oder doch ihrem ewig jungen Andenken und die ihr Leben nach ihrem Muster geformt hat. Laßt uns noch weiter gehen. Wenn ein Wort eines großen Mystikers oder eines Nachfolgers von ihm in dem einen oder anderen von uns ein Echo findet, könnte es da nicht geschehen, daß auch in uns ein noch schlummernder Mystiker geweckt wird?’ Und diese Liebe ist eine Liebe zur Menschheit, zu allen Menschen, eine Liebe, die ein Anteil an der Liebe Gottes selbst zu den Menschen ist, ‚denn. die Liebe, die einen verzehrt (so ist die Liebe der Heiligen :und Mystiker), ist nicht einfach die Liebe eines Menschen zu Gott; ist vielmehr die Liebe Gottes zu allen Menschen. Durch Gott, in der Stärke Gottes, liebt er die ganze Menschheit mit göttlicher Liebe. Das ist nicht die Brüderlichkeit, die uns von den Philosophen zur Pflicht gemacht wird im Namen der Vernunft nach dem Grundsatze, daß alle Menschen durch die Geburt an einer vernünftigen Wesenheit teilhaben: ein so edles Ideal muß unbedingt unsere Achtung fordern; nach dem Maße unserer Fähigkeit können wir danach trachten, es in die Wirklichkeit umsetzen, wenn es nicht zu ermüdend für Individuum und Gemeinschaft wird. Aber wir werden uns niemals leidenschaftlich daran verlieren oder, wenn wir es doch täten, so geschähe es doch nur deswegen, weil wir in irgendeinem Winkel oder einer Ecke unserer Zivilisation den berauschenden Duft eingeatmet haben, der dort von der Mystik zurückgeblieben ist. Die mystische Liebe zur Menschheit ist etwas sehr Verschiedenes. Sie ist nicht die Ausweitung eines Instinktes; sie entspringt nicht einer Idee; sie gehört weder dem Sinnenbereich noch dem Vernunftbereiche an; sie ist dem Begriffe nach beides und in Wirklichkeit viel mehr, denn solch eine Liebe liegt an der Wurzel von Gefühl und Wille wie auch von allen anderen Dingen selbst. Da sie mit der Liebe Gottes zu seinem Werke zusammenfällt, mit der Liebe, die die Quelle von allem ist, vermag sie jedem, der recht nach ihr fragt, das Geheimnis der Schöpfung zu verraten. Sie ist in ihrem Wesen viel mehr metaphysisch als moralisch. Was sie mit Gottes Hilfe erstrebt, ist: Vervollkommnung der menschlichen Art, aus der Menschheit das zu machen, was sie geradlinig werden würde, wäre sie imstande, ihre endgültige Gestalt ohne Zutun des Menschen selbst zu erreichen’ (Bergson). Wahrlich die schenkende Tugend ist in der Philosophie Bergsons viel stärker ausgeprägt als in der Philosophie Nietzsches. Die Menschheit im allgemeinen ist für den Bergsonschen Uebermenschen nicht nur Mittel und Stoff, sondern Gegenstand seiner Liebe. Er will dazu beitragen, sie über sich selbst hinauszuheben und jene Möglichkeiten zu verwirklichen, die ihr von Gott gegeben wurden. Es kann keine Frage sein, wo der größere Seelenadel liegt, bei Bergson oder bei Nietzsche. Der Uebermensch Nietzsches verblaßt zu einem furchtbaren Gespenst, einer Ungeheuerlichkeit, neben dem edelgesinnten liebenden und lebendigen Helden Bergsons, der nicht nur eine Phantasie-Gestalt der Zukunft ist, sondern tatsächlich gelebt hat und unter den Menschen gewandelt ist. Nietzsche war besessen von einem Menschenideal; er war nicht mit dem wirklichen Menschen in seiner Kleinheit und seinem Elend zufrieden. Alle Achtung darum für ihn, denn er war von Natur aus Idealist und sogar religiös, wenn auch nicht dem offenen Bekenntnis nach. Aber er verfälschte die Stellung des Menschen und das Ziel des Menschen und seine Philosophie trotz aller Ansprüche auf das Gegenteil und ist so radikaler Pessimist. Seine ersehnte Kultur ist nur eine Blase auf dem Fluß der ewigen Wiederkehr, eine vorübergehende Erscheinung ohne dauernden Wert: Echte Kultur findet ihre Berechtigung und ihren Charakter in ihrer Beziehung zu Gott und göttlicher Berufung – sagen nicht die Väter und die Theologen, daß Gott Mensch wurde, damit der Mensch Gott werde? – ihr Wert ist ewig. Denn, der Mensch selbst geht aus vom schöpferischen Leben und ist dazu bestimmt, zu jenem schöpferischen Leben zurückzukehren gemeinsam mit seinen Mitmenschen, in Gemeinschaft einer lebendigen Liebe. Nur durch die Erkenntnis dieser göttlichen Berufung kann die Menschheit noch einmal auf den rechten Weg eines Aufstieges geführt werden und, wenn sie das Leid, das vom Leben hier und jetzt untrennbar ist, mit aufnimmt, zum Glanze der göttlichen Glorie und des Lebens übergehen."

Zu den bislang noch nicht voll geklärten Dokumenten des Nietzsche-Lebens gehörten die Krankheitsakten. Verständnis und Wertung der Krankheit sind keineswegs bedeutungslos bei dem Lebensphilosophen, der erklärt hatte, er mache sich aus einem Philosophen nur so viel, als dieser imstande sei, seine Philosophie zu leben. Schon 1902 hatte der Leipziger Nervenarzt P. Möbius nach Einsichtnahme in die Krankenakten eine ruhig besonnene, auch taktvolle, und im wesentlichen richtige Deutung der Krankheit Nietzsches gegeben. Sie wurde von allen Nietzscheverehrern verächtlich abgetan. Jahrzehnte lang waren die Krankenakten verschollen, bis 1930 Podach sie – noch immer taktvoll einiges Unschöne auslassend – veröffentlichte. Nun legt sie W. Lange-Eichbaum in ihrer brutalen Realistik vor und scheut sich nicht, sie psychologisch-psychiatrisch soweit möglich zu deuten: Wäre diese Schrift vor 20 Jahren erschienen und hätte sie einen minderbekannten Verfasser, so hätte – das ist keine Frage – ein Sturm der Entrüstung von offenen und geheimen Nietzsche-Verehrern sie als Pamphlet abgetan. Aber Lange-Eichbaum hat sich durch sein bahnbrechendes Werk "Genie, Irrsinn und Ruhm" als unbestreitbar bester Kenner der Materie erwiesen. Die entscheidenden Punkte der Krankheitsdiagnose stehen heute unbezweifelbar fest, mögen im einzelnen noch gewisse Abschattungen des Urteils erfolgen.

Nietzsche hatte einmal eine sehr deutliche psychopathische Belastung. Als Anzeichen der Psychopathie nennt Lange-Eichbaum: "das ,Sensitive’, eine erhöhte Ernpfindlichkeit und Reizbarkeit (später bis zu Wutanfällen), eine Maßlosigkeit des Gefühlslebens mit Neigung zu Gefühlsrausch, die Unstetheit des ganzen Wesens, eine Natur ‚ohne Bestand’, ewig wechselnd, ohne Ausdauer, ein wahrer Proteus: dazu eine hyperästhetische Schizoidie bei chronischer Neigung zur Verstimmtheit und depressiver Auffassung, dabei aber eine kompensatorische darstellerische Heiterkeit (Schauspielerei vor sich und andern), auch gewisse hysterische Züge, maßloses Geltungsbedürfnis, gesteigertes Selbstbewußtsein und Ichsucht, Autismus, daneben erotische Abwegigkeit (hat nie eine Frau geliebt, kannte nur das Bordell oder ganz platonische Frauenfreundschaften). Nietzsche war dermaßen eitel, daß er sich (in Venedig) die Stirn höher rasierte. Die Quellen zu seinen Hauptgedanken hat er immer verleugnet und nie zitiert (Spitteler, Rée 1885, Renan, Stirner, E. v. Hartmann; Dühring usw.). Ueberhaupt waren wohl die Ressentiment-Instinkte gegenüber großen Leistungen und Einfällen, die er gern selber seine eigenen genannt hätte, recht ausgesprochen. Dazu kam eine merkwürdige Hinterhältigkeit: er fühlte sich gern unter einer geistigen Maske. 1874 wurden die Hauptgedanken zu seinem berühmten Angriff ‚Der Fall Wagner’ niedergeschrieben, aber 1876 erschien seine Vierte Unzeitgemäße, in der Wagner in den Himmel gehoben wurde. Mit feinem Fraueninstinkt hat ihn Cosima Wagner später immer abgelehnt" (24).

"Nietzsche hat sich als Student der Theologie mit 20 Jahren in einem Bordell syphilitisch infiziert ... Die Lues hat ihn von seinem 20. Lebensjahr an nie wieder verlassen. Sie war seine getreue Begleiterin in qual- und schmerzensreichen 15 Jahren von 1865 bis 1880. Nie, auch später nicht, weicht diese düstere Parze ihm von der Seite, die scharfe Schere in der Hand und immer bereit, seinen Lebensfaden zu durchschneiden. Dann führte sie ihn, verkleidet als seine Muse; acht reiche Jahre voll von Schaffensrausch die Leiter zum Ruhme, hinauf, nach dem ihn so sehr gedürstet hatte, und krönte ihn mit dem goldenen Dornenreif des Genies. Aber mit tückischer Grausamkeit verwehrte sie ihm den Genuß dieses Gipfelrausches und stieß ihn von der Höhe hinab in einen schauervollen Abgrund des geistigen Todes, den sein Leib noch 12 Jahre überlebte" (48).

Die Enthemmungen des letzten Wahnes lassen deutlich die treibenden Tiefen-Impulse hervortreten. "Er wollte das Reich Deutschland mit einem eisernen Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskrieg provozieren. Er wollte Europa regieren und fühlte sich bereits als den ‚Tyrannen von Turin’ ... Er sprach in Jena monatelang im affektierten Leutnantston ... Herbst 1887 schreibt Nietzsche ...: ,Vorzug für militärische Worte’ ... Hier geistert sehr deutlich ein politisch-militärischer Größenwahn." (46). "Es kann für den erfahrenen Psychiater nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der Uebermensch zuletzt ein Ausdruck seines Größenwahns gewesen sein muß" (61). "Ausgerechnet die geisteskranken Produkte Nietzsches haben auf dem Umwege über einen beschränkten und zügellosen Politiker namenloses Leid über Millionen von Menschen, ja über die ganze Erde gebracht" (38f). "Der Titel seines Hauptwerkes als Schlagwort, als Kampfdevise umstrahlt von dem Glanz seiner Welt-Autorität, ist geeignet, unermesslichen Schaden anzurichten ... Nietzsche kann unter Umständen eine ernste Gefahr bedeuten" (46).

Man sage nicht, solche Schärfen seien unsachlich und feindselig, deshalb falsch. Wer Nietzsche das Schwert scharfer Absage zugesteht, der muß es billigerweise auch dem Gegner zugestehen, vor allem wenn dieser Gegner mit der erdrückenden Wucht sachlicher Argumente vorrückt.

 

Die Sache mit dem "scharfen Schwert", das Siegmund bemüht, mag ja in Ordnung gehen – aber wo sind die "sachlichen Argumente"? Alles, was Lange-Eichbaum hier vorträgt, sind völlig unwissenschaftliche Interpretationen und Unterstellungen – kulminierend in der Feststellung, dass der "geisteskranke" Nietzsche indirekt schuld am Zweiten Weltkrieg sei ... Kruder geht’s nimmer – und Siegmund nickt mit dem Kopf dazu.

Und was den Vergleich Bergsons mit Nietzsche angeht: Sowohl Siegmund als auch Copleston verschweigen uns völlig den eigentlichen, beide Denker verbindenden Begriff: die Dynamik der Entwicklung ins Offene. So einfach lässt sich Bergson in den Zwei Quellen der Moral und der Religion nicht für die katholische Lehre und Kirche vereinnahmen, wie dies Copleston meint vorführen zu sollen. Auch Bergson will – wie Nietzsche – die verkrustete Rationalität aufsprengen, das Intuitive und Irrationale für das reale Handeln fruchtbar machen. Bergson steht vor der gleichen Frage wie Nietzsche: Wie kann der Mensch das "Ende der Metaphysik" und den sich daraus ergebenden Nihilismus überwinden? Statische Religion, wie sie Rom und Copleston vertreten, ist der Gegensatz zum "mystischen Heroen" auch eines Bergson.

Beide Denker gehen im übrigen von einer Art "Urprinzip" aus, und ihr Denken folgt dabei evolutionären Pfaden (– obwohl beide Denker den Darwinismus eigentlich ablehnen ... – wobei allerdings Bergson hier in seiner Nähe zum Christentum – "allumfassende Liebe", "Gott" – eine unwissenschaftliche Teleologie hineindenkt): Was bei Nietzsche "Wille zur Macht" heißt, ist bei Bergson der "élan vital" – und wo bei Bergson "Gott" dynamischer Ausgang und mystisches Ziel dieser Höherentwicklung ist, dort ist bei Nietzsche allein der Mensch für deren Möglichkeit zuständig, einschließlich des Scheiterns. Wird man in dieser Hinsicht der Nietzscheschen Auffassung den Vorzug geben, so stimmt andererseits die Ausgestaltung des "Urprinzips" bei Bergson besser mit einer evolutionären Auffassung überein als der einseitige "Wille zur Macht" Nietzsches, der alles der Entwicklung hin zum "Übermenschen" aufopfert: Nach allem was wir sehen und wissen, wohnt aller Natur vor allem auch ein "Wille zum Leben", zum "Überleben" ein, ein beharrendes Moment (das "Konservative"), das erst die Basis abgibt, aus welcher heraus einer "Höher" zu erwachsen vermag. Diese beharrende Basis verdächtigt Nietzsche der Decadence und des Ressentiment, wohingegen Bergon in seinem "élan vital" das beharrende wie das steigernde Element als zusammengehörig und wechselwirkend aufnimmt, die sich insgesamt dem Offenen zu stellen haben.

 

Anmerkungen:

*Frederick Copleston, Friedrich Nietzsche – Philosopher of Culture, London 1942, 217 S.

Zu Frederick Copleston aus der englischen Wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/Frederick_Copleston: Fr. Frederick Charles Copleston, SJ, CBE (born April 10, 1907, Taunton, Somerset, England – died February 3, 1994, London, England) was a Jesuit priest and historian of philosophy. (Eingesehen 14.04.2008)

** Wilh. Lange-Eichbaum, Nietzsche – Krankheit und Wirkung, Hamburg 1946. Lettenbauer, 95 S.


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