Karl Jaspers über Kierkegaard und Nietzsche
Zusammenstellung: Helmut Walther (Nürnberg)


Der besondere Kierkegaard-Link bei Virtusens: www.kierkegaard.de


Aus den Vorlesungen "Über Vernunft und Existenz"

Gehalten 1935 an der Universität Groningen (Holland)

Die geschichtliche Bedeutung Kierkegaards und Nietzsches

Einleitend möchte ich kurz die damalige Situation Jaspers schildern, der seit 1920 an der Universität Heidelberg Philosophie lehrte und seither mit Heidegger in ununterbrochenem Briefwechsel(1) stand. Noch am 20.04.1933 hatte er an Heidegger geschrieben: "Sie sind bewegt von der Zeit –, ich bin es auch. Es muß sich zeigen, was eigentlich in ihr steckt." Heidegger hielt am 27.05.1933 seine berüchtigte Rektoratsrede in Freiburg ("Die Selbstbehauptung der deutschen Universität"). Doch er kümmerte sich nicht nur um die eigene Universität, sondern wollte das Universitätswesen insgesamt auf das Führerprinzip festlegen, und so hielt er auch in Heidelberg, an der Universität Jaspers, eine weitere Rede, anläßlich derer ihn Jaspers einlud, bei ihm zu übernachten, was er auch annahm. Am 30.6.1933 sprach er dort über "Die Universität im Neuen Reich", Jaspers saß unter den Zuhörern. Der Inhalt der Rede ist bei Victor Farías(2) nachzulesen, hier nur ein kurzes Zitat:

Es gehe nicht um den internationalen Fortschritt der Wissenschaft, vielmehr sei "dagegen ... ein scharfer Kampf zu führen im nationalsozialistischen Geist, der nicht ersticken darf durch humanisierende, christliche Vorstellungen." Nun, alle jüdischen Universitätslehrer waren damals bereits suspendiert ... Dieser Kampf wird nach Heidegger "gekämpft aus den Kräften des neuen Reichs, das der Volkskanzler Hitler zur Wirklichkeit bringen wird. Ein hartes Geschlecht ohne den Gedanken an Eigenes muß ihn bestreiten, das aus ständiger Prüfung lebt und zu dem Ziel, dem es sich verschrieb. Der Kampf geht um die Gestalt des Lehrers und Führers an der Universität."

Nach dieser Rede und dem schriftlichem Erhalt der Freiburger Rektoratsrede samt Widmung schrieb Jaspers am 23.08.1933 an Heidegger:

Lieber Heidegger!              Heidelberg 23/8 33

Ich danke Ihnen für Ihre Rektoratsrede. Es war mir lieb, daß ich sie nach der Zeitungslektüre nun in authentischer Fassung kennenlernte. Der große Zug Ihres Ansatzes im frühen Griechentum hat mich wieder wie eine neue und sogleich wie selbstverständliche Wahrheit berührt. Sie kommen darin mit Nietzsche überein, aber mit dem Unterschied, daß man hoffen darf, daß Sie einmal philosophisch interpretierend verwirklichen, was Sie sagen. Ihre Rede hat dadurch eine glaubwürdige Substanz. Ich spreche nicht von Stil und Dichtigkeit, die – sowie ich sehe – diese Rede zum bisher einzigen Dokument eines gegenwärtigen akademischen Willens macht, das bleiben wird. Mein Vertrauen zu Ihrem Philosophieren, das ich seit dem Frühjahr und unseren damaligen Gesprächen in neuer Stärke habe, wird nicht gestört durch Eigenschaften dieser Rede, die zeitgemäß sind, durch etwas darin, was mich ein wenig forciert anmutet und durch Sätze, die mir auch wohl einen hohlen Klang zu haben scheinen. Alles in allem bin ich nur froh, daß jemand so sprechen kann, daß er an die echten Grenzen und Ursprünge rührt. ...

Wenn es Ihnen möglich wäre, im Oktober noch einmal wieder über Heidelberg zu kommen, würde ich sehr froh sein. Inzwischen ist viel geschehen und manches klar geworden. Ich spräche gern mit Ihnen, falls Ihnen an der Kenntnis meiner konkreten Erfahrungen und Meinungen gelegen ist. ...

Herzliche Grüße

Ihr K. Jaspers.

Heidegger war vorerst nichts daran gelegen ... er schrieb erst wieder 1935 an Jaspers, nachdem er 1934 das Freiburger Rektorat niedergelegt hatte:

Lieber Jaspers!              Freiburg i. Br., 1. Juli 35.

Auf meinem Arbeitstisch liegt eine Mappe mit der Aufschrift »Jaspers«. Ab und zu fliegt ein Zettel hinein; auch angefangene Briefe liegen drinnen, Stücke einer Auseinandersetzung gelegentlich des ersten Versuchs, den III. Band der »Philosophie« zu fassen. Aber es ist noch nichts Rechtes. Und da kommen schon Ihre Vorträge*, in denen ich den Vorläufer zur >Logik< vermute. Ich danke Ihnen herzlich für diesen Gruß, der mich sehr freute; denn die Einsamkeit ist nahezu vollkommen. Irgendwer berichtete mir gelegentlich, daß Sie an einem Nietzschebuch** arbeiteten, so darf ich mich darüber freuen, wie sehr das Strömen bei Ihnen auch nach dem großen Werk anhält.

Bei mir ist es – um davon zu reden – ein mühsames Tasten; erst seit wenigen Monaten habe ich den Anschluß an die im Winter 32/3 (Urlaubssemester) abgerissene Arbeit wieder erreicht; aber es ist ein dünnes Gestammel, und sonst sind ja auch zwei Pfähle – die Auseinandersetzung mit dem Glauben der Herkunft und das Mißlingen des Rektorats – gerade genug an solchem, was wirklich überwunden sein möchte.

Die pflichtmäßige Äußerung in den Vorlesungen bewegt sich in Auslegungen; aber das ist nur eine neue Gelegenheit, um zu erfahren, wie groß der Abstand ist zu den Möglichkeiten eines wirklichen Denkens.–

* Vernunft und Existenz
** Jaspers‘ "Nietzsche" erschien 1936

Für sich selbst notierte Jaspers die damaligen Geschehnisse wesentlich eindeutiger und offener:

»Ende März 1933 war Heidegger zum letzten Mal zu einem längeren Besuch bei uns. Trotz des in den Märzwahlen siegreichen Nationalsozialismus unterhielten wir uns wie früher. Er kaufte mir eine Platte mit Gregorianischer Kirchenmusik, die wir uns anhörten. Schneller als ursprünglich geplant reiste Heidegger ab. >Man muß sich einschalten<, sagte er angesichts der schnellen Entwicklung der nationalsozialistischen Realität. Ich wunderte mich und fragte nicht.«

Zwanzig Jahre später notiert Jaspers aus der Erinnerung dazu:

»Im Mai war er noch einmal kurz und zum letzten Mal bei uns, wegen eines Vortrags, den er, nun als Rektor der Universität Freiburg, vor den Heidelberger Studenten und Professoren hielt, als Kamerad Heidegger begrüßt vom Vorsitzenden der Heidelberger Studentenschaft Scheel. Es war ein in der Form meisterhafter Vortrag, im Inhalt ein Programm der nationalsozialistischen Universitätserneuerung. ... Ihm dankte ein gewaltiger Applaus der Studenten und einiger weniger Professoren. Ich saß vorn am Rande mit weit vorgestreckten Beinen, die Hände in den Taschen, und rührte mich nicht.

Unoffen waren meinerseits die Gespräche nachher. Ich sagte ihm man habe erwartet, daß er für unsere Universität und ihre große Überlieferung sich einsetzen würde. Keine Antwort. Ich sprach über die Judenfrage, über den bösartigen Unsinn von den Weisen von Zion, worauf er: >Es gibt doch eine gefährliche internationale Verbindung der Juden.< Bei Tisch sagte er in etwas wütigem Ton, daß es so viele Philosophieprofessoren gäbe, sei ein Unfug, man solle in ganz Deutschland nur zwei oder drei behalten. >Welche denn?< fragte ich. Keine Antwort. >Wie soll ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?< – >Bildung ist ganz gleichgültig<, antwortete er, >sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an!<

Heidegger selbst schien sich verändert zu haben. Schon bei der Ankunft entstand eine uns trennende Stimmung. Der Nationalsozialismus war zu einem Rausch der Bevölkerung geworden. Ich suchte Heidegger zur Begrüßung oben in seinem Zimmer auf. >Es ist wie 1914 ... < begann ich, und wollte fortfahren: >wieder dieser trügerische Massenrausch<, aber angesichts des den ersten Worten strahlend zustimmenden Heideggers blieb mir das Wort im Hals stecken. Dieser radikale Abbruch machte mich außerordentlich betroffen. Mit keinem andern Menschen hatte ich solches erfahren. Es war um so erregender, als es Heidegger gar nicht zu merken schien. Er bezeugte es zwar dadurch, daß er mich seit 1933 nie mehr besuchte, auch bei meiner Entfernung aus dem Amt 1937 kein Wort fand. Aber ich hörte noch 1935, er habe in einer Vorlesung von seinem >Freunde Jaspers< gesprochen. Ich zweifle, ob er jenen Abbruch heute begriffen hat.

Ratlos war ich. Nichts hatte Heidegger mir berichtet von seinen nationalsozialistischen Neigungen vor 1933. Ich hätte meinerseits mit ihm sprechen sollen. In den letzten Jahren vor 1933 waren seine Besuche selten geworden. Jetzt war es zu spät. Angesichts des selber vom Rausche ergriffenen Heidegger habe ich versagt. Ich sagte ihm nicht, daß er auf falschem Wege sei. Ich traute seinem verwandelten Wesen gar nicht mehr. Ich fühlte für mich selbst die Bedrohung angesichts der Gewalt, an der Heidegger nun teilnahm, und dachte, wie schon manchmal in meinem Leben, an Spinozas caute.

Hatte ich mich geirrt durch all das Positive, das zwischen uns gewesen war? War ich selber schuld, daß ich nicht, gegründet auf dies Positive, die radikale Auseinandersetzung mit ihm suchte? War dies vor 1933 mitbestimmt durch meine Schuld, daß ich nicht rechtzeitig die Gefahren gesehen, den ganzen Nationalsozialismus zu harmlos genommen hatte, obgleich Hannah Arendt mir schon 1932 deutlich genug sagte, wohin es gehe?

Im Mai 1933 reiste Heidegger das letzte Mal ab. Wir haben uns nicht wiedergesehen.«

1937 erhielt Jaspers, da seine Frau Jüdin war, faktisch Lehrverbot in Deutschland, indem er in den Ruhestand versetzt wurde, ohne daß Heidegger sich dazu in irgendeiner Weise äußerte.

Bewußt habe ich die Zeitumstände einbezogen, unter denen die Vorträge von Jaspers entstanden; unterscheidet sich doch seine Interpretation Nietzsches himmelweit von derjenigen, die im Dritten Reich offiziell gepflogen wurde – und selbst von den leider so leicht mißbrauchbaren Passagen, mit denen sich Elisabeth Förster-Nietzsche dem Regime andiente, ließ er sich nicht seinen Blick auf Nietzsche verwirren.

(1) Martin Heidegger / Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, Hg. von W. Biemel und H. Saner, Klostermann/Frankfut a. M., Piper/ Müchen-Zürich, 1990

(2) Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, S. Fischer Verlang, Frankfurt 1989, S. 197 ff.

 

Nietzsche wollte übrigens noch selbst Kenntnis vom Werk Kierkegaards nehmen, nachdem Georg Brandes, der Nietzsche in Dänemark bekannt gemacht hatte, auf diesen aufmerksam gemacht hatte. Nietzsche schrieb ihm im Jahre 1888, also kurz vor seinem Zusammenbruch, in diesem Zusammenhang:
"Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgenommen, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen ... Dies wird für mich, im besten Sinn des Wortes, von Nutzen sein, – und wird dazu dienen, mir meine eigne Härte und Anmaaßung im Urtheil ‚zu Gemüthe zu führen‘.– (KSB 8, 259)"

Ein Wort noch zu Jaspers tief eindringender Auffassung von Nietzsche und Kierkegaard: Indem er deren Ausnahme-Individualität im übergeschichtlich-umgreifenden Rahmen nachdenkt, bleibt hier die ethische Dimension völlig außen vor. So sehr ich selbst mit dieser Deutung der beiden Denker im "Rahmen des Kreisbogens der Metaphysik" übereinstimme – der Leser dieser Deutung sollte vor allem im Hinblick auf Nietzsche sich immer auch der Konsequenzen eines solchen "transzendenten" Denkens bewußt sein, wenn die "Normalität" der Menschen aus der Perspektive der "Ausnahme" heraus nur noch abgewertet und angegriffen werden kann. Unter dieser Voraussetzung halte ich den Gedankengang von Jaspers für den wichtigsten Beitrag zur Einordnung der beiden Denker in die kulturelle Entwicklung des Denkens. Doch lassen wir nun Jaspers selbst zu Wort kommen:

Die geschichtliche Bedeutung Kierkegaards und Nietzsches

Zu zeigen, wie die in sich vieldeutige Scheidung von Vernunft und Nichtvernunft im Grunde jedes Denkens zur Erscheinung kommt, würde eine Darstellung der Philosophiegeschichte aus einem in ihr ständig gegenwärtigen Prinzip erfordern. Wir erinnern an wenige herausgegriffene Punkte:

Den Griechen war dieses Seinsproblem schon mythisch gegenwärtig. Die Klarheit der griechischen Götter hatte um sich als die Grenze ihres Wissens und Vermögens die erhabene Unbegreiflichkeit der Moira.

Die meisten der Philosophen berühren beiläufig, aber in gewichtiger Weise, das ihrer Vernunft nicht Zugängliche:

Sokrates hörte, wenn er handeln wollte, die abratende Stimme des unbegriffenen Daimonion.

Plato kennt den Wahnsinn, der als Krankheit weniger ist als Vernunft, als gottgewirkt aber mehr – nur durch ihn kommen die Dichter, die Liebenden, die Philosophen zum Schauen des Seins.

Nach Aristoteles wird im Zusammenhang der menschlichen Dinge das Glückhaben zwar durch vernünftige Überlegung bewirkt, aber nicht nur: es tritt das Glück gegen die Berechnung und ohne sie ein. Für Aristoteles gibt es Menschen, die ein Prinzip haben, das besser ist als überlegende Vernunft; sie sind Alogoi: ihr Unternehmen scheint ihnen ohne und wider die Vernunft zu geraten.

Diese Beispiele stehen neben der allgemeinen Form griechischen Denkens, das dem Sein den Schein entgegensetzt (Parmenides), dem Seienden das Leere (Demokrit), dem eigentlichen Sein das Nichtsein (Plato), der Form die Materie (Aristoteles).

Auf dem Boden des Christentums entwickelt sich der Gegensatz von Vernunft und Nichtvernunft als Gegensatz von Vernunft und Glaube im Inneren des einzelnen Menschen: das der Vernunft nicht Zugängliche wird nicht mehr nur als das Andere betrachtet, sondern es ist selbst die Offenbarkeit des Höheren. Im Betrachten der Welt gilt das Unvernünftige nicht mehr als dummer Zufall oder blinde Unordnung, oder als wunderliches, die Vernunft übertreffendes Prinzip, sondern allumgreifend als Vorsehung. Alle Grundgedanken des vernünftig nicht einsehbaren Glaubens können nur in vernunftwidrigen Antinomien ausgesprochen werden; jede vernünftige Eindeutigkeit der Glaubensinterpretation wird eine Häresie.

In den neueren Jahrhunderten vollzog sich dagegen mit Descartes und allen, die ihm folgten, eine radikale Begründung der Vernunft auf sich selbst allein, wenigstens im philosophischen Erdenken des Seins, das der Einzelne für sich vollzieht. Während Descartes noch Gesellschaft, Staat und Kirche unangetastet ließ, entstand in der Folge die Haltung der Aufklärung: Mit dem, was ich gültig denke, und was ich empirisch forschend erkenne, kann ich die richtige Welteinrichtung erreichen. Das vernünftige Erkennen im Sinne von voraussetzungsloser Allgemeingültigkeit ist die zureichende Grundlage des menschlichen Lebens überhaupt. Gegen diese Vernunftphilosophie, ob sie nun als Rationalismus oder als Empirismus klassifiziert wird, geschah von Anfang an der Gegenschlag durch Männer, die, selbst durchaus im Besitz dieser Vernünftigkeit, zugleich deren Grenze und das Andere sahen, worauf es vor aller Vernunft ankommt und was diese selbst erst ermöglicht und bindet. Gegen Descartes steht Pascal; gegen Descartes, Hobbes, Grotius steht Vico; gegen Locke, Leibniz, Spinoza steht Bayle.

Das Philosophieren des 17. und 18. Jahrhunderts scheint in dieser großen Antithese sich zu vollziehen. Aber die Denker standen unversöhnbar, die Gedanken sich ausschließend einander gegenüber.

Es war im Unterschied von dieser Denkwelt der erstaunliche Versuch der Philosophen des deutschen Idealismus, die Versöhnung herbeizuführen, indem sie in der Vernunft selbst mehr als Vernunft sahen. Über alle bisherigen Möglichkeiten hinausgreifend hat die deutsche Philosophie in ihrer großen Zeit einen Vernunftbegriff entwickelt, der, historisch eigenständig, in Kant einen neuen Ausgang schuf, dann in einen phantastischen Bau durch Hegel sich verlor, aber auch ihn selbst schon wieder durchbrach in Fichte und Schelling.

Wir überblicken das Denken der Jahrtausende: Jederzeit scheint uns – wie auch immer das der Vernunft Andere auftritt – doch dies Unvernünftige im Gange des vernünftigen Begreifens entweder in Vernunft verwandelt, oder an seinem Ort als Grenze anerkannt, aber dann in seiner Auswirkung durch Vernunft selbst aufgefangen und begrenzt, oder als Quelle einer neuen besseren Vernünftigkeit erfahren und entfaltet.

Es ist, als ob im Grunde des Denkens dieser Zeiten noch in aller Unruhe die Ruhe der nie im Ganzen und radikal in Frage gestellten Vernunft liege. Alles Seinsbewußtsein gründete sich zuletzt doch in der Vernunft oder in Gott. Alle Infragestellungen sind noch umfangen von der fraglosen Selbstverständlichkeit; oder sie sind ganz individuelle, geschichtlich wirkungslose Durchbrüche, die ihr eigenes Selbstverständnis nicht erreichten. Alle Gegenwirkungen gegen die Vernünftigkeit sind nur wie ein ferner Donner, der Gewitter ankündigt, die sich entladen können, aber es noch nicht tun.

So kann die große Geschichte der abendländischen Philosophie von Parmenides und Heraklit bis zu Hegel wie eine durchgehende und abgeschlossene Einheit erscheinen. Ihre großen Gestalten werden noch heute in der Überlieferung bewahrt und gegen den Zerfall des philosophischen Denkens als das wahre Heil der Philosophie wiedererweckt.

Seit einem Jahrhundert werden im Wechsel die Einzelnen zum Gegenstand besonderen Studiums und der Wiederherstellung ihrer Lehre. Man kennt die Gesamtheit der vergangenen Lehren, im Sinne der Lehrstücke, vielleicht besser als irgendeiner der früheren großen Philosophen sie kannte. Aber das Bewußtsein der Verwandlung in bloßes Wissen um Lehren und um Geschichte, der Loslösung vom Leben selbst und von der tatsächlich geglaubten Wahrheit hat diese Überlieferung, so großartig sie ist und soviel Befriedigung sie geschaffen hat und heute schafft, doch auch im letzten Sinn fragwürdig gemacht, wenn nämlich mit ihr die Wahrheit des Philosophierens schon ergriffen oder gar in ihr beschlossen sein soll.

Denn in der Wirklichkeit des abendländischen Menschen ist in aller Stille etwas Ungeheures geschehen: ein Zerfall aller Autoritäten, die radikale Enttäuschung eines übermütigen Vertrauens zur Vernunft, eine Auflösung der Bindungen, die alles, schlechthin alles möglich zu machen scheint. Das Operieren mit den alten Worten kann wie ein bloßer Schleier erscheinen, der die zum Ausbruch bereiten Kräfte des Chaos unserem ängstlichen Auge verdeckt, ohne andere Macht als die einer noch eine Zeitlang fortzusetzen den Täuschung. Das leidenschaftliche Beschwören dieser Worte und Lehren, wahrhaftig und gut gemeint, scheint ohne eigentliche Wirkung, ein ohnmächtiger Ruf zu bleiben. Philosophieren, das echt ist, müßte der neuen Wirklichkeit gewachsen sein und selbst in ihr stehen.

Die gegenwärtige philosophische Situation wird durch die Tatsache bestimmt, daß zwei Philosophen, Kierkegaard und Nietzsche, die, zu ihren Lebzeiten nicht gerechnet, dann noch lange in der Philosophiegeschichte ohne Geltung blieben, in ihrer Bedeutung ständig wachsen. Während alle Philosophen nach Hegel ihnen gegenüber immer mehr zurücktreten, stehen sie als die eigentlich großen Denker ihres Zeitalters heute im Grunde schon unbezweifelt da – ihre Wirkung wie die Gegnerschaft gegen sie beweisen es. Warum sind die beiden die nicht mehr ignorierbaren Philosophen unserer Zeit?

In der Situation sowohl des Philosophierens wie des wirklichen Lebens des Menschen treten Kierkegaard und Nietzsche auf wie der Ausdruck des Verhängnisses, das als solches damals noch niemand – außer in augenblicklichen, schnell wieder vergessenen Ahnungen – bemerkt, das aber in ihnen schon sich versteht.

Die Frage, was dieses Verhängnis eigentlich sei, ist heute noch offen; sie wird durch einen Vergleich der beiden Denker zwar nicht beantwortet, aber deutlicher und dringender. Der Vergleich ist um so wichtiger, weil kein Einfluß von dem Einen zum Anderen gewesen sein kann; und weil ihre Verschiedenheit das Gemeinsame um so eindrucksvoller macht. Denn ihre Verwandtschaft, auf deren Grund ihre Verschiedenheit in zweitrangiger Bedeutung gesehen werden kann, ist im Ganzen ihres Lebensweges und bis in Einzelheiten ihres Denkens so zwingend, daß die Notwendigkeit der geistigen Situation ihres Jahrhunderts ihr Wesen hervorgebracht zu haben scheint. Mit ihnen geschah ein Ruck des abendländischen Philosophierens, dessen endgültige Bedeutung noch nicht abzuschätzen ist.

Das ihnen Gemeinsame ist ihr Denken und ihr Mensch sein, beides in unlösbarem Bezug auf den Augenblick dieses Zeitalters und von ihnen selbst so verstanden. Wir wollen ihr Gemeinsames daher vergegenwärtigen erstens in ihrem Denken, zweitens in der Wirklichkeit ihrer denken den Existenz, drittens in der Weise ihres Selbstverständnisses.

Ihr Denken schafft eine neue Atmosphäre. Sie gellen über alle vor ihnen noch selbstverständlichen Grenzen hinaus. Es ist als ob sie vor nichts mehr im Gedanken zurückschrecken. Alles Bestehende wird gleichsam verzehrt in einer schwindelerregenden Bewegung durch die Saugkraft: bei Kierkegaard eines außerweltlichen Christentums, das wie das Nichts ist und nur in Verneinung (dem Absurden, dem Märtyrersein) und im negativen Entschluß sich zeigt; bei Nietzsche eines Vakuums, aus dem mit verzweifelter Gewaltsamkeit neues Sein sich gebären soll (die ewige Wiederkehr und die entsprechende Dogmatik Nietzsches).

Beide haben die Vernunft aus der Tiefe der Existenz her aus in Frage gestellt. Noch niemals ist der durchgehende Widerstand gegen die bloße Vernunft auf so hohem Niveau faktisch vollzogener Denkmöglichkeiten so radikal gewesen. Diese Infragestellung ist nirgends Vernunftfeindschaft – beide suchen vielmehr alle Weisen der Vernünftigkeit sich grenzenlos anzueignen; sie ist nicht Gefühlsphilosophie – denn beide drängen unablässig zum Begriff als Ausdruck; sie ist erst recht nicht dogmatischer Skeptizismus – vielmehr geht ihr gesamtes Denken auf die eigentliche Wahrheit.

In geistig großartiger, den Ernst des Philosophierens ein Leben lang durchführender Gestalt bringen sie nicht einige Lehren, nicht eine Grundposition, nicht ein Weltbild, sondern eine neue denkende Gesamthaltung des Menschen im Medium unendlicher Reflexion, die sich bewußt ist, als Reflexion keinen Boden gewinnen zu können. Kein Einzelnes kennzeichnet ihr Wesen, keine bestimmte Lehre oder Forderung ist als einzelne und feststehende aus ihnen zu entnehmen.

Aus dem Bewußtsein ihrer Wahrheit ist beiden die Wahrheit in der naiveren Gestaltung wissenschaftlichen Wissens verdächtig. Sie bezweifeln nicht die methodische Richtigkeit wissenschaftlicher Einsicht. Aber Kierkegaard wundert sich angesichts der gelehrten Professoren: sie leben zumeist hin und sterben in der Einbildung, daß es so fortgehe und, wenn es ihnen vergönnt würde, länger zu leben, daß sie in einem fortgesetzten direkten Steigen immer mehr und mehr begreifen würden; sie erleben nicht die Reife, für die ein kritischer Punkt kommt, wo es umschlägt, wo es gilt, von nun an in steigendem Begreifen mehr und mehr zu begreifen, daß da etwas ist, das man nicht begreifen kann. Er meint, es sei die furchtbarste Weise zu leben: die ganze Welt zu bezaubern durch seine Entdeckungen und seine Geistreichheit, die ganze Natur zu erklären und sich selbst nicht zu verstehen. Nietzsche ist unerschöpflich in der zersetzenden Analyse der Typen der Gelehrten, die keinen eigentlichen Sinn ihres Tuns haben, nicht sie selbst sein können und doch mit ihrem am Ende nichtigen Wissen das Sein selbst zu fassen meinen.

Die Infragestellung jeder sich in sich schließenden Vernünftigkeit als Mitteilbarkeit der Wahrheit im Ganzen macht beide zu radikalen Gegnern des »Systems«, d. h. der Gestalt der Philosophie, die sie in den Jahrtausenden hatte, und die im deutschen Idealismus zu ihrem letzten Glanz führte. Das System ist ihnen Ablenkung von der Wirklichkeit, darum Lüge und Täuschung. Kierkegaard begreift, daß das Dasein ein System für Gott, aber nicht für einen existierenden Geist sein kann; System und Abgeschlossensein entsprechen einander, aber Dasein ist gerade das Entgegengesetzte. Der Philosoph des Systems ist als Mensch wie einer, der ein Schloß baut, aber im Schuppen nebenan wohnt: dieses phantastische Wesen lebt nicht selbst in dem, was es denkt – aber eines Mannes Gedanken müssen der Bau sein, in dem er wohnt, sonst ist es verkehrt. Die Grundfrage der Philosophie, was sie selbst und was Wissenschaft sei, wird neu und unerbittlich gestellt. Nietzsche will besser zweifeln als Descartes, sieht in Hegels scheiterndem Versuch, Vernunft in die Entwicklung zu bringen, gotische Himmelsstürmerei. Der Wille zum System ist ihm ein Mangel an Rechtschaffenheit.

Was nun aber eigentlich Wissen sei, wird von beiden auf dieselbe Weise ausgesprochen. Es ist ihnen nichts als Auslegung. Sie verstehen auch ihr eigenes Denken als Auslegen.

Die Auslegung aber findet kein Ende. Das Dasein ist für Nietzsche unendlicher Auslegungen fähig. Was geschehen und getan ist, ist für Kierkegaard immer noch einem neuen Verstehen zugänglich: wie es ausgelegt wird, wird es eine neue Wirklichkeit, die noch verborgen war; das Leben in der Zeitlichkeit kann daher dem Menschen niemals recht verständlich werden, kein Mensch kann absolut sein Bewußtsein durchdringen.

Beide verwenden das Gleichnis der Auslegung für das Wissen vom Sein aber auch so, als ob das Sein im Auslegen des Auslegens entziffert würde. Nietzsche will den Grundtext homo natura von Übermalungen befreien und in seiner Wirklichkeit lesen. Kierkegaard gibt seinen Schriften keine andere Bedeutung, als daß sie die Urschriften der individuellen, humanen Existenzverhältnisse wieder lesen wollen.

Mit diesem Grundgedanken hängt es zusammen, daß beide – die offensten und unbekümmertsten Denker – für Verborgenheit und Maske eine verführende Bereitschaft haben. Maske gehört ihnen notwendig zum Wahrsein. Indirekte Mitteilung wird ihnen die einzige Form der Mitteilung eigentlicher Wahrheit; und indirekte Mitteilung gehört als Ausdruck zur Unentschiedenheit dieser Wahrheit im Zeitdasein, in dem sie im Werden aus dem Ursprung jeder Existenz noch ergriffen werden muß.

Beide stoßen zwar in ihren Gedankengängen auf den Grund, der im Menschen das Sein selbst wäre: Kierkegaard stellt gegen die Philosophie, die von Parmenides über Descartes bis Hegel sagt: Das Denken ist das Sein, den Satz: Wie du glaubst, so bist du, das Glauben ist das Sein. Nietzsche erblickt den Willen zur Macht. Aber Glaube wie Wille zur Macht sind bloße signa, ihrerseits nicht geradezu zeigend, was gemeint ist, sondern selbst wieder einer grenzenlosen Ausdeutung fähig.

Beiden ist dabei der entscheidende Antrieb die Redlichkeit. Dieses Wort ist ihnen gemeinsam der Ausdruck der letzten Tugend, der sie sich unterwerfen. Sie bleibt ihnen das Minimum an Unbedingtheit, die im verwirrenden Fraglichwerden aller Gehalte noch möglich ist. Aber sie wird ihnen auch die schwindelerregende Forderung einer sich selbst noch in Frage stellenden Wahrhaftigkeit, die das Gegenteil ist von der billigen Gewaltsamkeit, die das Wahre eindeutig in barbarischer Fraglosigkeit zu besitzen meint.

Man kann fragen, ob in solchem Denken denn überhaupt noch etwas gesagt wird. In der Tat sind Kierkegaard und Nietzsche sich bewußt, daß das Verständnis ihres Denkens nicht schon dem Menschen als Menschen, der nur denkt, zugänglich ist. Es kommt darauf an, wer es ist, der versteht.

Sie wenden sich an den Einzelnen, der von sich aus mitbringen und hervorbringen muß, was sie nur indirekt sagen können. Für Kierkegaard gilt das von ihm zitierte Wort Lichtenbergs. Solche Werke sind Spiegel: wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apostel heraussehen. Ihn zu verstehen, nennt Nietzsche eine Auszeichnung, die man sich verdient haben muß. Er erklärt es für unmöglich, dort Wahrheit zu lehren, wo die Denkweise niedrig ist. Beide suchen die zu ihnen gehörenden Leser.

Die Weise des so gekennzeichneten Denkens ist begründet in der Existenz Kierkegaards und Nietzsches, sofern diese in einer ihnen eigentümlichen Weise zu dem gegenwärtigen Zeitalter gehört. Daß ihnen kein einzelner Gedanke, kein System, keine Forderung für sich entscheidend ist, folgt daraus, daß beide Denker nicht mehr ein Zeitalter auf seinen Gipfel bringen, daß sie keine Welt erbauen und nicht eine vergehende Welt noch einmal im Bilde schaffen. Sie fühlen sich nicht als positiver Ausdruck ihres Zeitalters; sie drücken vielmehr negativ durch ihr Sein aus, was es ist – das von ihnen schlechthin verworfene, im Verfall durchschaute Zeitalter. Ihre Aufgabe scheint zu sein, die Erfahrung dieses Zeitalters im eigenen Wesen zu Ende zu vollziehen, seine Wirklichkeit selbst vollkommen zu sein, um sie zu überwinden. Es gelingt ihnen zunächst ungewollt, dann bewußt dadurch, daß sie nicht Repräsentanten ihrer Zeit, sondern die Anstoß und Ärgernis erweckende Ausnahme sind. Das ist näher zu sehen.

Beide werden ihrer Aufgabe schon am Ende ihrer Jugend, wenn auch noch unbestimmt, bewußt. Eine den ganzen Menschen ergreifende, stille, oft nicht mehr bewußte, dann durch sie selbst wieder erzwungene Entscheidung treibt sie in die radikalste Einsamkeit. Ohne Amt, ohne Ehe, ohne tätige Wirksamkeit im Dasein scheinen sie doch als große Realisten mit der eigentlichen, in der Tiefe geschehenden Wirklichkeit Fühlung zu haben.

Diese Wirklichkeit treffen sie in ihrer Grunderfahrung des Zeitalters als des Ruins. im Rückblick auf die Jahrtausende bis an den Anfang des Griechentums spüren sie das Ende dieser ganzen Geschichte; am Wendepunkt machen sie aufmerksam auf den Augenblick, ohne Sinn und Weg der Geschichte im Ganzen überblicken zu wollen.

Man hat dieses Zeitalter wirtschaftlich, technisch, historisch-politisch, soziologisch verstehen wollen. Kierkegaard und Nietzsche dagegen meinen einen gleichsam substantiellen Vorgang im Wesen des Menschen selbst wahrzunehmen.

Kierkegaard sieht die gesamte Christenheit, wie sie heute wirklich ist, als eine ungeheure Täuschung, in der Gott zum Narren gehalten werde. Dieses Christentum habe nichts zu tun mit dem Christentum des Neuen Testaments. Es gibt nur zwei Wege – entweder durch Kunstgriffe die Täuschung aufrechterhalten und den Zustand verdecken dann wird alles zu nichts; oder redlich die Jämmerlichkeit eingestehen, daß gegenwärtig in Wahrheit kein einziges Individuum mehr geboren wird, das zu einem Christen im Sinne des Neuen Testaments taugte, daß niemand von uns dazu taugt, sondern eine fromme Abschwächung des Christentums lebt; bei diesem Eingeständnis wird sich zeigen, ob in dieser Redlichkeit etwas Wahres ist, ob das den Beifall der Vorsehung hat; wo nicht, so muß wiederum alles brechen, damit in diesem Schrecknis wieder Individuen entstehen, die das Christentum des Neuen Testaments tragen können.

Nietzsche faßt den geschichtlichen Tatbestand der Zeit in das eine Wort: Gott ist tot.

Beiden gemeinsam ist also eine geschichtliche Aussage über die Zeit in ihrem substantiellen Grunde. Sie erblicken das Nichts als bevorstehend, beide noch mit dem Wissen um die Substanz des Verlorenen, beide mit der Haltung: nicht das Nichts zu wollen. Wenn Kierkegaard die Wahrheit oder die Möglichkeit der Wahrheit des Christentums voraussetzt, Nietzsche dagegen die Gottlosigkeit nicht nur als Verlust feststellt, sondern gerade als die größte Chance ergreift, so ist ihnen doch gemeinsam der Wille zur Substanz des Seins, zu Rang und Wert des Menschen. Sie machen keine politischen Reformprogramme, überhaupt keine Programme, richten sich nicht auf etwas Einzelnes, sondern wollen durch ihr Denken bewirken, daß etwas geschehe, was sie in keiner Bestimmtheit voraussehen. Für Nietzsche ist diese Unbestimmtheit seine »große Politik« auf lange Sicht, für Kierkegaard das Christwerden in neuer Gestalt der Gleichgültigkeit allen Weltseins. Beide sind angesichts des Zeitalters ergriffen von dem Gedanken: was aus dem Menschen wird.

Sie sind selbst die Modernität in einer sich überschlagenden Gestalt; sie haben sich scheiternd überwunden, weil sie sie bis zum Ende durchgelebt haben. Wie aber beide das Zeitalter in seiner Not nicht passiv, sondern selbsttuend erfahren dadurch, daß sie ganz tun, was die meisten nur halb mit sich geschehen lassen, das sehen wir erstens an ihrer grenzenlosen Reflexion, dann im Gegenstoß dazu als ihr Drängen an die Ursprünge, und schließlich in der Weise, wie sie ins Bodenlose sinkend den Halt in der Transzendenz ergreifen.

Das Zeitalter der Reflexion ist seit Fichte charakterisiert worden als das Räsonieren ohne Bindung, als das Zersetzen aller Autorität, als das Preisgeben der Gehalte, die dein Denken Maß, Ziel und Sinn geben, so daß es nunmehr ohne Hemmung als das beliebige Spiel des Intellekts die Welt mit Lärm und Staub erfüllt.

Kierkegaard und Nietzsche aber gehen nicht gegen die Reflexion an, um sie zu vernichten, sondern um sie zu überwinden dadurch, daß sie sie selbst grenzenlos vollziehen und beherrschen. Der Mensch kann nicht, ohne sich selbst zu verlieren, zurückgehen in eine reflexionslose Unmittelbarkeit, sondern er kann den Weg nur zu Ende gehen, um, statt der Reflexion zu verfallen, vielmehr in ihrem Medium auf den Grund seiner selbst zu kommen.

Ihre »unendliche Reflexion« hat daher einen zweifachen Charakter. Sie kann ebensowohl der völlige Ruin werden, wie sie Bedingung echter Existenz ist. Beide sprechen es aus, Kierkegaard am deutlichsten:

Die Reflexion ist nicht in sich zu erschöpfen, nicht durch sich selbst aufzuhalten. Sie ist treulos, denn sie verhindert jede Entscheidung; sie ist nie fertig und kann am Ende »dialektisches Geschwätz« werden – so heißt sie ihm auch das Gift der Reflexion. Daß sie aber möglich, ja notwendig ist, liegt selbst in der grenzenlosen Vieldeutigkeit allen Daseins und Tuns für uns begründet: alles kann der Reflexion immer auch noch etwas Anderes bedeuten. Diese Situation vermag einerseits die Sophistik des Daseins und vermag der existenzlose Ästhetiker, der alles nur immer auf neue Weise interessant genießen will, zu nutzen: wenn er einen noch so entscheidenden Schritt tut, so behält er sich doch die Möglichkeit vor, die Sache so zu deuten, daß mit einem Schlage alles verändert ist. Diese Situation ist aber andrerseits wahrhaft zu ergreifen mit dem Wissen darum, daß wir, sofern wir redlich sind, in dem »Meere von Reflektion« leben, »wo keiner einem einfach zurufen kann, wo alle Seemarken dialektisch sind«.

Ohne die unendliche Reflexion würden wir in die Ruhe eines Festen, das als Bestand in der Welt absolut wäre, geraten, d. h. abergläubisch werden. Eine Atmosphäre der Unfreiheit entsteht mit solcher Fixierung. Die unendliche Reflexion ist daher gerade durch ihre grenzenlos bewegende Dialektik Bedingung der Freiheit. Sie sprengt jedes Gefängnis des Endlichen. Erst in ihrem Medium kann etwa aus der unmittelbaren Leidenschaft, die als fraglose noch unfrei ist, die unendliche Leidenschaft werden, in der die unmittelbare durch die Frage hindurch festgehalten und eigentlich treu wird als frei ergriffene.

Damit aber diese Freiheit nicht in leerer Reflexion zu Nichts wird, sondern sich erfüllt, muß die unendliche Reflexion »stranden«. Dann erst geht sie von Etwas aus oder erschöpft sich selbst in der Entscheidung von Entschluß und Glauben. So unwahr das willkürliche und gewaltsame Anhalten der Reflexion ist, so wahr der Grund, aus dem sie selbst beherrscht wird durch ein der Existenz Entgegenkommendes, worin diese sich erst geschenkt wird, so daß sie der unendlichen Reflexion, indem sie sich ihr ganz über liefert, auch ganz Herr ist.

Die Reflexion, die ebenso zum Nichts zersetzen, wie Bedingung der Existenz werden kann, ist von Kierkegaard und Nietzsche als solche übereinstimmend bezeichnet. Aus ihr haben sie ihr in den Werken mitgeteiltes Denken in einem fast unübersehbaren Reichtum vollzogen. Dieses Denken ist daher seinem Sinn nach Möglichkeit – das »Stranden« kann darin angezeigt und ermöglicht, aber nicht schon getan werden.

So sind beide in ihrem Denken sich ihres Wissens auch um die Möglichkeiten des Menschen bewußt, dessen, was sie nicht selbst schon sind, wenn sie es denken. Bewußt in der Möglichkeit wissen – ein Analogon des Dichtens – ist nicht unwahr, sondern erweckende und infragestellende Reflexion. Möglichkeit ist die Form des Wissendürfens von dem, was ich nicht schon bin, und die Vorbereitung des Seins selbst.

Kierkegaard nennt sein Verfahren des öfteren eine »experimentierende Psychologie«, Nietzsche sein Denken »versucherisch«.

Darum lassen sie, was sie selbst sind, und was sie zuletzt denken, gern bis zur Unkenntlichkeit verhüllt und in der Erscheinung bis zur Unfaßbarkeit zusammensinken. Kierkegaards Pseudonym schreibt: »Das Etwas ..., das ich bin, das ist gerade ein Nichts«; es gewährt ihm eine hohe Befriedigung, seine »Existenz auf dein kritischen Nullpunkt zu halten, ... zwischen Etwas und Nichts, als ein bloßes Vielleicht«. Und Nietzsche nennt sich gern einen »Philosophen des gefährlichen Vielleicht«!

Reflexion ist beiden insbesondere Selbstreflexion. Sich selbst verstehen ist ihnen der Weg der Wahrheit. Aber sie erfahren beide, wie auf diesem Wege die eigene Substanz verschwinden, das freie, schaffende Selbstverständnis durch ein unfreies Sichdrehen um das eigene empirische Dasein ersetzt werden kann. Kierkegaard kennt das Entsetzliche, wenn alles »vor einem krankhaften Grübeln über die eigene jämmerliche Geschichte verschwindet«! Er sucht den Weg »zwischen diesem Verzehren seiner selbst unter Betrachtungen, als wäre man der einzige Mensch, der jemals gewesen ist, und – einem ärmlichen Trost über ein allgemeines menschliches commune naufragium?« Er kennt die »unglückliche Relativität in allem, die unendlichen Fragen darüber, was ich bin«. Nietzsche aber spricht es aus.

»Zwischen hundert Spiegeln
vor dir selber falsch ...
in eignen Stricken gewürgt
Selbstkenner!
Selbsthenker! ...
Zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt,
ein Fragezeichen«

Das Zeitalter, sich in der Vielfachheit seines Reflektierens und rationalisierenden Sprechens selbst nicht mehr zurechtfindend, drängt aus der Reflexion zu den Ursprüngen. Kierkegaard und Nietzsche scheinen auch hier vorwegzunehmen; erst spätere Generationen suchten allgemein das Ursprüngliche in der Sprachlichkeit, im ästhetischen Reiz des unmittelbar Schlagenden, in der allgemeinen Simplizität, im unreflektierten Erleben, im Dasein der nächsten Dinge. Dem scheinen schon Kierkegaard und Nietzsche zu dienen

Beide leben bewußt mit leidenschaftlicher Liebe am Quell menschlicher Mitteilungsmöglichkeiten:

Sie sind sprachschöpferisch in dem Maße, daß ihre Werke zu den Gipfeln des Schrifttums ihres Volkes gehören; und sie sind sich dessen bewußt. Sie sind es in der hinreißenden Weise, die sie zu den gelesensten Schriftstellern macht, obgleich ihr Gehalt von gleichem Gewicht, ihr echtes Verständnis von gleicher Schwere ist wie die irgendeines der großen Philosophen. Aber beide kennen auch schon die Verselbständigung des Sprachlichen und verachten das Literatentum.

Sie sind bis zum Rausch von der Musik ergriffen; aber beide warnen vor der Verführung durch die Musik und gehören mit Plato und Augustin zu ihren existentiellen Verdächtigern.

Sie erreichen überall Formeln von schlagender Einfachheit; aber beide sind voll Sorge vor der Simplizität, welche, um der Schwäche und dem Durchschnitt einen obzwar trügerischen Boden zu geben, die geistlose platte Vereinfachung an die Stelle setzt der wahren Einfachheit, welche nur als Ergebnis des verwickeltsten Bildungsprozesses ohne rationale Eindeutigkeit wie das Sein selbst offenbar wird. Sie warnen, wie nie vor ihnen es Denker taten, ihre Sätze, die so apodiktisch dastehen, einfach hinzunehmen.

Sie gehen in der Tat den radikalsten Weg zu dem Ursprung, aber so, daß ihnen die dialektische Bewegung nirgends aufhört. Der Ernst wird weder aufgehoben in der Illusion dogmatischer Festigkeit eines vermeinten Ursprungs noch dadurch, daß Sprache, ästhetischer Reiz, Simplizität zum Zweck werden.

Beide gehen einen Weg, der ihnen nicht auszuhalten ist ohne einen transzendenten Halt; denn sie reflektieren nicht wie die durchschnittliche Modernität mit der selbstverständlichen Grenze der vitalen Bedürfnisse und Interessen. Sie, denen es um alles oder nichts geht, wagen die Grenzenlosigkeit. Aber dies vermögen sie nur, weil sie von Anfang an wurzeln in dem, was ihnen zugleich verborgen ist: beide sprechen in ihrer Jugend von dem unbekannten Gott. Kierkegaard schrieb noch mit 25 Jahren: »Ungeachtet ich noch weit davon entfernt bin, mich innerlich selbst zu verstehen, habe ich ... den unbekannten Gott verehrt.« Und Nietzsche schuf mit 20 Jahren sein erstes unvergeßliches Gedicht. Dem unbekannten Gott«, das schließt:

Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.«

Niemals können sie im Endlichen und Begriffenen, darum Nichtigen bleiben, weil sie grenzenlos reflektieren, aber in der Reflexion selbst können sie ebensowenig aushalten. Gerade weil er ganz durchreflektiert sei, meint Kierkegaard: »Verläßt mich das religiöse Verständnis meiner selbst, so ist mir zumute wie einem Insekte zumute sein muß, mit dem die Kinder spielen: so unbarmherzig scheint mir das Dasein mit mir umzugehen.« In der furchtbaren Einsamkeit, von schlechthin niemandem verstanden, mit keinem Menschen wahrhaft verbunden, ruft er Gott an: »Gott im Himmel, wenn da doch nicht ein Innerstes wäre in einem Menschen, wo all dieses vergessen sein kann ... wer könnte es aushalten!«

Jederzeit ist sich Nietzsche bewußt, auf dem Meer des Unendlichen sich zu bewegen, das Land für immer preisgegeben zu haben. Er weiß, daß es etwa für Dante und Spinoza noch gar nicht gab, was er als seine Einsamkeit kennt: sie hatten irgendwie einen Gott zur Gesellschaft." Aber Nietzsche, zunichte werdend in seiner Einsamkeit, ohne Menschen und ohne den alten Gott, sieht Zarathustra und denkt die ewige Wiederkehr, diesen Gedanken, der ihn ebenso erschauern läßt wie beglückt. Ständig lebt er wie ein zu Tode Verwundeter. An seinen Problemen leidet er. Sein Denken ist ein Sichaufraffen: »Wenn ich nur den Mut hätte, alles zu denken, was ich weiß.« Aber in dem grenzenlosen Reflektieren werden ihm doch die ihn so tief befriedigenden, in der Tat transzendenten Gehalte offenbar.

Beide also tun einen Sprung zur Transzendenz, aber zu einem Sein der Transzendenz, wohin ihnen in Wahrheit wohl niemand folgt: Kierkegaard zum Christentum, aufgefaßt als absurde Paradoxie, als der negative Entschluß des völligen Weltverzichts und als notwendiges Märtyrersein, Nietzsche zur ewigen Wiederkehr und zum Übermenschen.

Daher kann uns gerade bei jenen Gedanken Nietzsches, die für ihn selbst die tiefsten sind, eine Leere überfallen, bei Kierkegaards Glauben eine unheimliche Fremdheit beschleichen. In den Symbolen von Nietzsches Religion, mit seinem Willen zur Immanenz – außer dem ewigen Kreislauf der Dinge: der Wille zur Macht; das Ja zum Sein; die Lust: will tiefe, tiefe Ewigkeit – ist kein transzendenter Gehalt mehr, wenn man sie unmittelbar hinnimmt. Nur auf Umwegen und mit Mühe ist aus diesen Symbolen ein wesentlicher Gehalt interpretierend zu vergegenwärtigen. Bei Kierkegaard, der die tiefen Formeln der Theologie neu beseelte, kann es wie die unerhörte Kunst eines vielleicht Ungläubigen erscheinen, sich zum Glauben zu zwingen.

Gerade bei der scheinbar völligen Wesensverschiedenheit der christlichen Gläubigkeit des Einen und der betonten Gottlosigkeit des Anderen ist die Ähnlichkeit ihres Denkens um so kennzeichnender. In einem Zeitalter der Reflexion, das unter dem Schein, als ob alles Vergangene noch bestehe, in faktischer Glaubenslosigkeit lebt, wird das Verwerfen des Glaubens und das Sichzwingen zum Glauben zu einander gehörig. Der Gottlose kann gläubig, der Glaubende ungläubig erscheinen: beide stehen in der gleichen Dialektik.

Was sie in ihrem existentiellen Denken hervorbringen, hätten sie nicht ohne den vollen Besitz der Überlieferung vermocht; beide sind erfüllt mit der auf die Antike gegründeten Bildung; beide sind christlich fromm erzogen, ihre Antriebe sind undenkbar ohne die christliche Herkunft. Setzen sie sich gegen diese Ströme der Überlieferung in der Gestalt, die sie in Jahrtausenden angenommen hat, auch leidenschaftlich zur Wehr, so finden sie doch einen geschichtlichen, ihnen untilgbaren Halt in dieser Herkunft; sie verbinden sich einem ihren eigenen Glauben erfüllenden Ursprung: Kierkegaard dem neutestamentlichen Christentum, wie er es versteht, Nietzsche einem vorsokratischen Griechentum.

Aber nirgends, weder in der Endlichkeit, noch in einem bewußt erfaßten Ursprung, noch in einer bestimmt ergriffenen Transzendenz, noch in einer geschichtlichen Herkunft, ist der endgültige Halt für sie. Es ist, als ob ihr Da sein, weil ein die ganze Verlorenheit des Zeitalters bis zum Ende vollziehendes, darum zerbrechendes Dasein wäre, in dessen Zerbrechen selbst eine Wahrheit kund würde, die ohne das nicht Sprache hätte.

Gewinnen sie auch die unerhörte Souveränität ihres Wesens, so doch zugleich damit die ihnen verhängte weltlose Einsamkeit; sie sind wie ausgestoßen.

Ausnahmen sind sie in jedem Sinne. Sie blieben leiblich zurück hinter ihrem Wesen: ihre Physiognomie verwirrt durch verhältnismäßige Unauffälligkeit, prägt sich nicht ein als Typus menschlicher Größe. Es ist, als ob beiden in der bloßen Vitalität etwas mangele. Es ist, als ob sie ewig jung als in die Weit verirrte wirklichkeitslose, weil weltlose Geister seien.

Menschen der Umgebung fühlten sich in ihrer Gegen wart auf eine rätselhafte Weise angezogen, für einen Augenblick wie in ein höheres Dasein gehoben, aber niemand hat sie eigentlich geliebt.

In ihrem Leben und Verhalten begegnen wunderliche, fremde Züge. Man hat sie leichthin geisteskrank genannt. Ohne daß die einzige Höhe ihres Denkens und der Adel ihres Wesens dadurch beeinträchtigt würde, vielmehr so, daß er erst ganz zutage tritt, sind sie in der Tat Gegenstand einer psychiatrischen Analyse, bei der eine typische Diagnose und Rubrizierung überall mißlingt.

Sie sind unter keinen früheren Typus (Dichter, Philosoph, Prophet, Heiliger, Genie) zu bringen; mit ihnen ist eine neue Gestalt menschlicher Wirklichkeit in die Geschichte getreten -sie sind ein gleichsam vertretendes Schicksal, Opfer, deren Weg aus der Welt hinaus zu Erfahrungen für andere führt. Sie sind mit dem restlosen Einsatz ihres ganzen Wesens wie eine moderne Gestalt der Märtyrer, die zu sein sie jedoch gerade negieren. Durch ihr Sein als Ausnahme erfüllen sie ihre Aufgabe.

Beide sind unersetzlich als Scheiternde, die es gewagt haben, an denen wir uns orientieren, durch die wir Kunde erhalten von etwas, von dem wir ohne solches Opfer nie vernommen hätten, von etwas, das uns wesentlich erscheint, ohne es bis heute zureichend fassen zu können, Als ob die Wahrheit selbst spräche, die eine in der Tiefe unseres Seinsbewußtseins angreifende Unruhe stiftet.

Auch in dem äußeren Gang ihres Lebens sind erstaunliche Ähnlichkeiten. Beide kamen schon in den vierziger Jahren ihres Lebens zum plötzlichen Ende. Kurz vorher ohne Wissen ihres Endes – schritten sie zum öffentlichen, leidenschaftlichen Angriff, Kierkegaard auf die Christenheit in der Gestalt der Kirche und der allgemeinen Unredlichkeit, Nietzsche auf das Christentum selbst.

Beide wurden im ersten Auftreten literarisch berühmt, in der Folge aber blieben ihre neuen Bücher ohne Absatz; sie mußten, was sie schrieben, auf eigene Kosten drucken lassen.

Auch das Schicksal, einen Widerhall ohne jedes Verständnis zu finden, war ihnen gemeinsam. Sie waren der Zeit, aus der ihnen nichts entgegenkam, eine bloße Sensation. Die Verführung durch Schönheit und Glanz der Sprache, durch die dichterischen und literarischen Qualitäten, durch das Aggressive ihrer Inhalte versperrte den Weg zu ihren eigentlichen Antrieben. Beide wurden nach ihrem Ende bald vergöttert von denen, mit denen sie am wenigsten zu tun haben. Das Zeitalter, das sie selbst überwinden wollten, konnte sich in ihren beliebig herausgegriffenen Gedanken gleichsam austoben.

Die Modernität gerade in ihrer Verwahrlosung hat sich an ihnen genährt: Aus ihrer Reflexion wurde, statt im Ernst der unendlichen Reflexion zu bleiben, ein Mittel der Sophistik in beliebigem Sprechen; ihre Worte wie ihre ganze Erscheinung wurden als großartiger ästhetischer Reiz genossen; sie lösten den Rest aller Bindungen bei den anderen auf, die nicht zum Ursprung wahren Ernstes geführt werden, sondern für ihre Willkür freie Bahn gewinnen wollten. So wurde ihre Wirkung gegen den Sinn ihres Wesens und Denkens eine grenzenlos zersetzende.

Ihre Aufgabe wird ihnen selbst von Jugend an deutlicher in der ständig begleitenden Reflexion; beide geben im Rückblick am Ende noch einmal ein Selbstverständnis durch eine Totalinterpretation ihres Werkes, die in dem Grade zwingend ist, daß die Nachwelt sie in der Tat auch so verstehen wird, wie sie verstanden werden wollten; all ihr Denken bekommt noch einmal einen neuen Sinn über den unmittelbar verstehbaren hinaus; dieses Bild ihrer selbst ist untrennbar von ihrem Werk; denn wie sie sich verstanden haben, das ist nicht ein Hinzukommendes, sondern ein wesentlicher Zug ihres gesamten Denkens.

Eines der beiden gemeinsamen Motive für das umfassende Aussprechen ihres Selbstverständnisses ist der Wille, nicht verwechselt zu werden. Verwechselt zu werden, bezeichnen sie als ihre tiefe Sorge. Aus ihr heraus suchen sie für ihre Gedanken nicht nur immer neue Mitteilungsformen, sondern auch die direkte Kundgabe des Sinns des Ganzen, wie er sich ihnen am Ende zeigt. Ihr ständiges Bemühen geht darauf, wegen der Mißverstehbarkeit des von ihnen Gesagten ein rechtes Verständnis mit allen nur möglichen Mitteln vorzubereiten.

Da beide eine Hellsicht für die Zeit haben – sie sehen mit einer sie bezwingenden Gewißheit, deutlich bis in die einzelnsten Züge des gegenwärtigen Daseins, was vor sich geht. das Ende eines Jahrtausende lang zusammenhängenden Lebens –, da sie aber zugleich wahrnehmen, daß es keiner sieht außer ihnen, daß sie ein Bewußtsein des Zeitalters haben, das noch keiner sonst hat, das aber bald andere und alle haben werden, so geraten sie notwendig in ein unerhört gesteigertes Selbstbewußtsein: es muß mit ihrer Existenz eine ganz besondere Bewandtnis haben. Nicht die einfache geistige Überlegenheit – Kierkegaard über alle Menschen, die ihm begegneten, Nietzsche über die meisten –, die sie bemerken müssen, ist es, sondern etwas Ungeheures, das sie je für sich zu einem einzig-einsamen weltgeschichtlichen Wesen macht.

Aber dieses Weltbewußtsein, wirklich begründet, augenblicksweise ausgesprochen, dann wieder gedämpft, ist bei Kierkegaard jederzeit gemäßigt durch die Demut seiner christlichen Haltung, bei beiden durch das psychologische Wissen um ihr menschliches Mißratensein. Das Erstaunliche ist ihnen dann wieder, daß gerade die Weise ihres Mißratenseins selbst die Bedingung ihrer eigentümlichen Größe ist. Denn diese ist ihnen nicht Größe schlechthin, sondern eine einmalige, der Situation des Zeitalters eigen zugehörige.

Merkwürdig ist, wie beide auch für diese Seite ihres Wesens zu ähnlichen Gleichnissen kommen. Nietzsche vergleicht sich dem »Krikelkrakel, den eine unbekannte Macht übers Papier zieht, um eine neue Feder zu probieren«; der positive Wert seiner Krankheit ist sein ständiges Problem. Kierkegaard meint wohl »ausgestrichen zu werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht wie ein mißglückter Versuch«, er fühlt sich wie eine Sardine, die an den Rand der Büchse geraten und zerdrückt ist; ihm kommt der Gedanke, »daß in jeder Generation zwei oder drei sind, die an die andern geopfert werden, in schrecklichen Leiden entdecken sollen, was den andern zugut kommt ...« Er fühlt sich wie eine »Interjektion in der Rede ohne Einfluß auf den Satz«, wie einen »Buchstaben, der verkehrt gedruckt ist in der Zeile«, vergleicht sich mit Geldzetteln aus dem verrückten Geldjahr 1813, in dem er geboren wurde: »Es ist etwas an mir, als wäre ich etwas Großes, aber auf Grund der verrückten Konjunkturen gelte ich nur wenig.«

Beide sind sich ihres Seins als »Ausnahme« bewußt. Kierkegaard entwickelt eine Theorie der Ausnahme, durch die er sich selbst versteht, während er das Allgemeine oder das Menschliche am Menschen liebend als das Andere, ihm Versagte darstellt. Nietzsche weiß sich als Ausnahme, spricht »zugunsten der Ausnahme, vorausgesetzt, daß sie nie Regel werden will«, und verlangt vom Philosophen gerade deshalb, »weil er die Ausnahme ist, die Regel in Schutz zu nehmen«

Beide wollen daher nichts weniger als paradigmatisch für andere sein. Kierkegaard sieht sich wie »eine Art Probemensch«-. »Im humanen Sinn kann sich niemand nach mir bilden ... Ich bin ein Mensch, wie er in einer Krisis notwendig werden könnte – ein Versuchskaninchen sozusagen für das Dasein.« Nietzsche wehrt von sich ab, die ihm folgen wollen: »Folge nicht mir nach, sondern dir!«

Dieses Ausnahmesein, ihnen ebenso qualvoll wie einzig als Anspruch ihrer Aufgabe, kennzeichnen sie weiter übereinstimmend als ein reines Geistsein, als ob sie des eigentlichen Lebens verlustig wären. Kierkegaard sagt, er sei »leiblich beinahe in jeder Hinsicht der Bedingungen beraubt, um für einen ganzen Menschen gelten zu können«; gelebt habe er eigentlich nicht, außer als Geist; Mensch sei er nicht gewesen, am allerwenigsten Kind und Jüngling. Ihm fehle »die tierische Bestimmung im Verhältnis zum Menschsein«. Seine Schwermut gehe bei ihm »bis zur Grenze des Schwachsinns«, sei »etwas, das er verbergen könne, solange er unabhängig sei, aber das ihn unbrauchbar mache zu einem Dienst, wo er nicht selber alles bestimme«. Nietzsche hat die Erfahrung seines reinen Geistseins, »durch Überfülle von Licht, durch seine Sonnennatur, verurteilt zu sein, nicht zu lieben«, erschütternd hinausgesungen im »Nachtlied« des Zarathustra: »Licht bin ich: ach, daß ich Nacht wäre! ... Ich lebe in meinem eigenen Lichte. . .«

Die mit dem Ausnahmesein verknüpfte furchtbare Einsamkeit ist beiden gemeinsam. Kierkegaard weiß, daß er keine Freunde haben kann; Nietzsche hat an seiner wachsenden Einsamkeit mit hellem Wissen gelitten bis zu der Grenze, daß er meinte, es nicht mehr ertragen zu können. Wiederum kommt beiden dasselbe Gleichnis Nietzsche vergleicht sich der Tanne in der Höhe am Abgrund: »Einsam! Wer wagte es auch, hier Gast zu sein ... Ein Raubvogel vielleicht. der hängt sich wohl ... schadenfroh ins Haar ...« Und Kierkegaard: »Wie eine einsame Tanne, egoistisch abgeschlossen und nach dem Höheren gerichtet, stehe ich da, werfe keinen Schatten, und nur die Waldtaube baut ihr Nest in meinen Zweigen.«

Zu der Verlorenheit ihres Daseins, dem Mißratensein und Zufälligen steht bei beiden in großartigem Kontrast ihr im Lauf des Lebens wachsendes Bewußtsein von Sinn, Bedeutung und Notwendigkeit aller sie treffenden Ereignisse:

Kierkegaard nennt es Vorsehung. Er erkennt das Göttliche hieran, »daß alles, was da geschieht, gesagt wird, vorgeht usw., ominös ist; das Faktische verwandelt sich beständig dazu, daß es etwas weit Höheres bedeutet«. Das Faktische ist ihm nicht etwas, von dem loszukommen, sondern das zu durchdringen ist, bis Gott selber die Erklärung gibt. Was er selber tut, auch dessen Sinn wird erst später offenbar: Es ist »das Mehr, das ich nicht mir selbst verdanke, sondern der Vorsehung. Es zeigt sich beständig so, daß, was ich nach der größtmöglichen Überlegung tue, ich doch hintennach immer weit besser verstehe.«

Nietzsche sieht den Zufall. Es kommt ihm darauf an, die Zufälle auszunutzen. Die »erhabene Zufälligkeit« beherrscht ihm das Dasein. »Der Mensch der höchsten Geistigkeit und Kraft fühlt sich jedem Zufall gewachsen, aber auch ganz in den Schneeflocken der Zufälle drin.« Diese Zufälligkeit aber wird für Nietzsche immer mehr zu einem verwundert hingenommenen Sinn: »Was ihr Zufall heißt ihr selber seid das, was euch zufällt!« Das Leben hindurch finden sich bei ihm Andeutungen, wie ganz bestimmte ihn betreffende Ereignisse ihm in der größten Zufälligkeit gerade einen geheimen Sinn zeigen, und am Ende schreibt er: »Es gibt keine Zufälle mehr.«

Wie aber an der Grenze des Lebensmöglichen nicht das Schwersein, sondern gerade die vollkommene Leichtigkeit zum Ausdruck ihres Wissens wird, dafür diente beiden zum Bilde das Tanzen. Nietzsche ist im letzten Jahrzehnt seines Lebens Tanzen in immer anderer Gestalt das Gleichnis für sein Denken, wo es ursprünglich ist. Und Kierkegaard »Dazu habe ich mich ausgebildet ... allezeit leicht in des Gedankens Dienst tanzen zu können.. . Mein Leben setze ich sofort ein, sowie eine Schwierigkeit sich zeigt. Da geht das Tanzen leicht; denn der Gedanke an den Tod ist eine flinke Tänzerin; jeder Mensch ist für mich zu schwer ...« Nietzsche sieht seinen Erzfeind im »Geist der Schwere« – in Moral, Wissenschaft, Zweckhaftigkeit usw., aber ihn überwinden heißt nicht, ihn abwerfen, um im Leichtsinn der Willkür beliebig zu werden, sondern durch das Schwerste zum eigentlichen Aufschwung zu kommen, dessen Gelingen der freie Tanz ist.

Das Wissen um ihr Ausnahme-sein verwehrt beiden das Auftreten als Prophet. Zwar scheinen sie wie jene Propheten Wesen, die aus uns unzugänglicher Tiefe sprechen; aber in einem dem Zeitalter entsprechenden Sinn. Kierkegaard vergleicht sich einem Vogel, dem Regenprophet »Wenn in der Generation ein Ungewitter anfängt, sich zusammenzuziehen, so zeigen sich solche Individualitäten, wie ich bin.« Sie sind Propheten, die sich als Propheten verbergen müssen. Sie werden ihrer Aufgabe bewußt in einer ständigen Rückkehr aus dem Äußersten ihrer Forderung zur Abwehr jeder Auffassung, die in ihnen Vorbild und Weg sieht. Kierkegaard wiederholt ungezählte Male, er sei nicht Autorität, weder Prophet, noch Apostel, noch Reformator, nicht einmal die Autorität eines Amtes. Seine Aufgabe sei, aufmerksam zu machen. Er sei ein Polizeitalent, ein Spion im Dienste der Gottheit. Er enthüllt, aber er sagt nicht, was getan werden soll. Nietzsche will »das höchste Mißtrauen gegen sich erwecken«, erklärt es als »zur Humanität eines Meisters gehörig, seine Schüler vor sich zu warnen«. Was er will, läßt er Zarathustra sagen, der seine Jünger verläßt. »Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra!« Und noch im Ecce homo sagt Nietzsche: »Zuletzt ist nichts in mir von einem Religionsstifter ... Ich will keine Gläubigen ... Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tages heilig spricht ... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst . .. Vielleicht bin ich ein Hanswurst.«

Es ist bei beiden eine verwirrende Polarität zwischen dem Schein eines unbedingten und bestimmten Forderns und der Scheu, dem Zurück, dem Schein des Nichtwagens andrerseits. Das Versuchen, das Vielleicht, das Mögliche ist die Weise ihres Sagens; die Unbereitschaft, Führer zu sein, bleibt ihrer Haltung eigen. Aber beide leben in der heimlichen Sehnsucht, das Heil bringen zu wollen, wenn sie es könnten, und wenn es vor ihrer menschlichen Redlichkeit sich als solches bewähren würde. Dem entspricht bei beiden, wie sie am Ende ihres Lebens wagemutig, fast verzweifelt und dann in völliger Ruhe zum öffentlichen Angriff ausholen, nunmehr ihre Zurückhaltung im Erdenken des Möglichen aufgebend an den Willen zur Tat. Kierkegaards Angriff auf die Christenheit des kirchlichen Christseins, Nietzsches Angriff auf das Christentum überhaupt, beide von plötzlicher Gewaltsamkeit und erbarmungsloser Entschiedenheit, entsprechen einander. Beide Angriffe sind rein negative Aktionen, Taten der Wahrhaftigkeit, nicht des Aufbaus einer Welt.

Was Kierkegaard und Nietzsche bedeuten, wird erst kund durch das, was aus ihnen in der Folge wird. Die Wirkung beider ist unabsehbar groß – größer noch im allgemeinen Denken als im Fach der Philosophie –, aber unendlich zweideutig.

Was Kierkegaard eigentlich bedeutet, ist weder in der Theologie noch in der Philosophie klar:

Die moderne protestantische Theologie in Deutschland scheint, wo sie eigen ist, zumeist unter dem bestimmenden, direkten oder indirekten, Einfluß Kierkegaards zu stehen Kierkegaards, der jedoch als die praktisch-aktive Summe seines Denkens im Mai 1855 unter dem Motto »Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei« (Matth. 25, 6) ein Flugblatt aussandte, in dem es heißt – »Dadurch, daß du nicht mehr an dem öffentlichen Gottesdienst teilnimmst, wie er jetzt ist ... dadurch hast du beständig ... eine große Schuld weniger. du nimmst nicht daran teil, Gott dadurch für Narren zu halten, daß man für neutestamentliches Christentum ausgibt, was es doch nicht ist.«

In der modernen Philosophie sind durch Kierkegaard entscheidende Antriebe zur Entwicklung gekommen. Wesentlichste Grundbegriffe gegenwärtigen Philosophierens, zumal in Deutschland, gehen auf Kierkegaard zurück Kierkegaard, dessen ganzes Denken jedoch die bisherige systematische Philosophie aufzulösen scheint, jede Spekulation verwirft und der, wenn er die Philosophie anerkennt, höchstens sagt: »Die Philosophie kann auf uns achtgeben – aber nicht nähren.«

– Es könnte sein, daß Theologie wie Philosophie, wenn sie Kierkegaard folgen, sich irgend etwas Wesentliches verschleiern, um seine Begriffe und Formeln für die eigenen ganz anderen Zwecke zu verwenden

– es könnte sein, daß innerhalb der Theologie auch eine ungläubige Theologie sich mit den raffinierten Kierkegaardschen Denkmitteln in dialektischen Paradoxien eine Weise der Glaubensaussagen herstellt, die es mit ihrem Verstande vereinbart, daß sie sich für christlich gläubig hält

– es könnte sein, daß ein Philosophieren an der Hand Kierkegaards sich heimlich nährt von der christlichen Substanz, die es im Sprechen ignoriert.

Was Nietzsche bedeutet, ist ebensowenig klar geworden. Seine Wirkung in Deutschland wird von keinem anderen Philosophen erreicht. Aber es scheint, daß jede Haltung, jede Weltanschauung, jede Gesinnung sich ihn als Gewährsmann holt. Es könnte sein, daß wir alle noch nicht wissen, was dieses Denken im Ganzen in sich schließt und bewirkt.

Es ist daher die Aufgabe, zur Redlichkeit darüber zu kommen, für jeden, der Kierkegaard und Nietzsche auf sich von Einfluß werden läßt: Wie geht er eigentlich mit ihnen um, wie steht er zu ihnen, was sind sie ihm, was macht er aus ihnen?

Das Gemeinsame ihrer Wirkung, zu bezaubern und dann zu enttäuschen, zu ergreifen und dann unbefriedigt stehen zu lassen, als ob Hände und Herz leer blieben, ist nur der klare Ausdruck für ihren eigenen Willen: es kommt alles darauf an, was der Leser in seinem inneren Handeln durch sich selbst aus ihrer Mitteilung macht, wenn ihm keine Erfüllung wird wie sonst durch bestimmte Erkenntnisse, durch ein Kunstwerk, durch ein philosophisches System, durch eine gläubig hingenommene Prophetie. Sie heben jede Befriedigung auf.

Sie sind in der Tat die Ausnahme, ohne Vorbild einer Nachfolge zu sein. Wo immer jemand Kierkegaard oder Nietzsche nachgemacht hat, und sei es auch nur im Stil, ist er lächerlich geworden. Was beide taten, war selbst schon augenblicksweise gerade an der Grenze vorbeigegangen, wo das Erhabene ins Lächerliche umschlägt – was sie taten, war nur einmal möglich. Zwar ist alles Große von einer Einmaligkeit, die niemals identisch wiederholt werden kann. Aber es ist im Verhalten zu dieser Einmaligkeit etwas wesentlich Anderes, ob wir in aneignender Wiederherstellung unserer selbst in ihr leben, oder in Distanz der uns zwar verwandelnden, aber zugleich entfernenden Orientierung.

Sie entlassen uns, ohne uns ein Ziel zu geben und ohne uns bestimmte Aufgaben zu stellen. Ein jeder kann durch sie nur werden, was er selbst ist. Aber was das in den Nachfolgenden ist, ist bis heute nicht entschieden. Die Frage ist, wie zu leben sei für uns, die wir nicht Ausnahme sind, aber im Blick auf diese Ausnahme unseren inneren Weg suchen.

Wir sind in der geistigen Situation, daß die Abwendung dieses Blicks schon der Keim der Unredlichkeit wird. Es ist, als ob erst sie uns ganz aus einer Gedankenlosigkeit herauszwingen, die ohne sie selbst beim Studium der großen Philosophen für uns noch zu bleiben scheint. Wir können nicht mehr ruhig in der Kontinuität der überlieferten Begriffsbildung fortgehen. Denn durch Kierkegaard und Nietzsche ist eine Weise der Denkerfahrungen der Existenz wirksam geworden, deren Folgen noch nicht allseitig an den Tag gekommen sind. Sie haben eine noch undurchschaute, aber fühlbare Frage gestellt, die noch offen ist. Es ist durch sie zum Bewußtsein gebracht und bewirkt, daß kein selbstverständlicher Boden mehr für uns ist. Es gibt nicht mehr einen unangetasteten Hintergrund unseres Denkens.

In der Beschäftigung mit ihnen ist für den Einzelnen gleich groß die Gefahr: ihnen zu verfallen, und – sie nicht ernst zu nehmen. Es ist unausweichlich ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Beide haben keine Welt erbaut, scheinen alles aufzuheben und sind doch positive Geister. Es ist ein eigentümliches neues Verhältnis zum schaffenden Denker von uns zu verwirklichen, wenn wir uns ihnen wirklich nähern, anders als allen Großen.

Wird angesichts des Zeitalters und des durch Kierkegaard und Nietzsche geschaffenen Denkens die Frage gestellt: was nun? so verweist Kierkegaard ins absurd Christliche, vor dem die Welt versinkt; Nietzsche weist ins Ferne, Unbestimmte, das nicht als Substanz erscheint, aus der wir leben könnten. Ihre Antworten hat niemand angenommen; es sind nicht die unsern. Es ist an uns, zu sehen, was im Hinblick auf sie durch uns aus uns wird. Dies ist jedoch auf keine Weise vorher zu entwerfen oder festzustellen.

So würden wir irren, wenn wir meinten, aus weltgeschichtlicher Übersicht der Entwicklung des menschlichen Geistes ableiten zu können, was jetzt zu geschehen habe. Wir stehen nicht außerhalb wie ein so gedachter Gott, der das Ganze vorwegnehmend erblickte. Für uns kann keine Gegenwart durch eine vermeintliche Weltgeschichte, aus der sich unser Ort und unsere Aufgabe ergibt, ersetzt werden. Auch diese Vorlesung wollte nicht das Ganze überblicken, sondern in Erinnerung an das Vergangene die Situation aus sich heraus fühlbar machen. Niemand weiß, wohin es mit dem Menschen und seinem Denken hinaus soll. Da das Dasein, der Mensch und seine Welt nicht am Ende sind, kann es ebensowenig eine fertige Philosophie wie eine Antizipation des Ganzen geben. Wir Menschen planen endliche Zwecke. Es kommt immer auch ganz Anderes, als irgend jemand wollte, dabei heraus. Ebenso ist das Philosophieren ein die Innerlichkeit des Menschen bewirkendes Tun, das seinen letzten Sinn nicht wissen kann, daher auch die gegenwärtige Aufgabe nicht als ein Besonderes aus dem vorweggenommenen Ganzen abzuleiten vermag, vielmehr sie aus dem jetzt erfahrenen Ursprung und noch unklar gewollten Gehalt zum Bewußtsein bringt. Philosophie ist als Denken jederzeit zugleich das sich für diesen Augenblick vollendende Seinsbewußtsein, das weiß, daß es in seinem Ausgesprochensein als ein Endgültiges keinen Bestand hätte.

Entgegen einer vermeintlichen Überschau über die geistige und wirkliche Gesamtlage philosophieren wir in dem Bewußtsein einer Situation, die wieder an die letzten Grenzen und Ursprünge des Menschseins führt. Die darin erwachsenden Aufgaben für das Denken kann heute niemand in Vollständigkeit und Bestimmtheit entwickeln. Wir leben gleichsam in der Brandung der Möglichkeiten, ständig bedroht, umgeworfen zu werden, aber stets bereit, uns trotzdem wieder zu erheben, – im Philosophieren bereit, in der Gegenwart des Infragestellenden unsere wirklichen, d. h. das Menschsein in uns hervorbringenden Gedanken zu voll ziehen, die uns dann möglich sind, wenn der Horizont grenzenlos, die Wirklichkeiten klar, die eigentlichen Fragen offenbar werden. Aus den Aufgaben, die so dem Denken sich aufzwingen, greife ich für die nächsten drei Vorlesungen eine heraus:

Das uralte Problem des Philosophierens, das in dem Verhältnis des Vernünftigen zum Nichtvernünftigen zur Erscheinung kam, ist durch Aneignung der Überlieferung im Blick auf Kierkegaard und Nietzsche in gegenwärtiger Gestalt neu zu sehen.

Wir formulierten dieses Grundproblem: Vernunft und Existenz. Die abkürzende Formel soll keine Antithese bedeuten, vielmehr eine Zusammengehörigkeit, die zugleich über sich hinausweist.

Die Worte Vernunft und Existenz sind gewählt, weil uns in ihnen am eindringlichsten und reinsten anzusprechen schien die Frage nach der Erhellbarkeit des Dunkels, dem Ergreifen des Ursprunges, aus dem wir leben, ohne daß er sich durchsichtig machen könnte, wenn er auch das Maximum an Rationalität fordert.

Das Wort Vernunft trägt für uns die Kantische Weite, Helle und Wahrhaftigkeit; das Wort Existenz ist durch Kierkegaard in eine Sphäre gehoben, durch die es in unendlicher Tiefe erscheinen läßt, was sich allem bestimmten Wissen entzieht; das Wort ist nicht abzubrauchen, weil es nur eines der vielen Worte für Sein ist, es also entweder gar nichts bedeutet oder sogleich den Kierkegaardschen Anspruch erhebt.

... Die Philosophie, wo sie gelingt, ist jenes einzige Denken, in dem logische Abstraktheit und wirkliche Gegenwart gleichsam identisch werden. Die Grundantriebe lebendigen Philosophierens können sich wahrhaft nur in reiner Formalität kundgeben. Es sind gedankliche Operationen, deren Begreifen und Mitmachen ein inneres Handeln des ganzen Menschen bewirken kann: das Sich-selbst-hervorbringen aus dem Ursprung der gedanklichen Möglichkeiten, um des Seins im Dasein innezuwerden.

...Den Mut zu dem, was über die eigenen Kräfte geht, darf man daraus nehmen, daß es menschliche Aufgaben sind, und daß der Mensch das Wesen ist, sich Aufgaben über seine Kräfte hinaus zu stellen, dann aber daraus, daß, wer auch nur einen Augenblick leise den echten philosophischen Ton gehört zu haben glaubt, nicht müde werden kann, ihn mitteilen zu wollen.


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