Nietzsches "Geburt der Tragödie" – eine Geburt auch aus dem Geiste Feuerbachs?
Die Entstehungsgeschichte der "Geburt" Nietzsches erstes Buch, seine erste Veröffentlichung außerhalb der Philologenzunft, erscheint recht unvermittelt auf der Bühne, scheinbar ohne Vorläufer, ohne sich an einer damals aktuellen Diskussion zu beteiligen und hatte für ihn doch weitreichende persönliche Konsequenzen. Das Werk entstand zu einer Zeit intensiven Kontakts mit Richard Wagner, mit dessen Werken Nietzsche mindestens seit 1864 vertraut war. Wie er schon in seinem ersten Brief an Wagner vom 22.05.1869 darlegt, sah er sich in der Lage," den einheitlichen tiefethischen Strom zu fühlen, der durch Leben Schrift und Musik geht, kurz, die Atmosphäre einer ernsteren und seelenvolleren Weltanschauung zu spüren."1 Eine dieser Wagner’schen Schriften, die Leben und Musik zum Thema haben, ist das "Kunstwerk der Zukunft" von 1851. Dieses hat Wagner ausdrücklich Feuerbach gewidmet, als von dessen Geist erfüllt. (siehe Anmerkung Nr.7). Damit stellt sich die Frage, welche zeitgeschichtlichen und philosophischen, besonders Feuerbach‘schen und nietzscheanischen Spuren lassen sich in Nietzsches Erstling "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" wiederfinden? Kurz der biographische Zusammenhang: Die Beziehung zu Wagner und Cosima von Bülow enthielt damals die unterschiedlichsten Komponenten, von Verehrung für den Meister und Plänen für die Kulturerneuerung in Deutschland, über Besorgungen für Cosimas Weihnachtsdekoration bis hin zu Diskussionen über Gott und die Welt, sprich Griechen, Deutsche, Schopenhauer usw.(Cosimas Tagebücher zeichnen davon ein lebendiges Bild – es gibt 31 Eintragungen zu Nietzsche von 1869 bis 1873.)2 Im Jahre 1870 trat Nietzsche erstmals in Basel an die Öffentlichkeit mit zwei Vorträgen im Basler Museum über die griechische Tragödie, nämlich "Das griechische Musikdrama" (KSA 1, 515-532) am 18. Januar 1870 und "Socrates und die Tragoedie" (KSA 1, 533-549) am 1. Februar 1870. Im Sommer folgte "Die dionysische Weltanschauung" (KSA 1, 553-577, Juli/August 1870). In den Jahren 1870/71 entstanden Pläne der Freunde für Nietzsches Lebensweg, wobei eine gewisse Asymmetrie der Vorstellungen nicht zu übersehen ist. Während Wagner Nietzsche als Erzieher Siegfrieds, als Hausphilosoph und als Redakteur der Bayreuther Blätter verplant, sieht sich Nietzsche als Entwickler von Ideen, die Wagner dann künstlerisch umsetzt, als (Mit-)Stifter einer neuen Kulturperiode und als deren Philosoph, als Autor und Herausgeber eines Reformationsjournals. Als eine Vorübung dazu ist wohl das Weihnachtsgeschenk an Cosima von Bülow aus dem Jahre 1870 zu betrachten. "Die Geburt des tragischen Gedankens" (KSA 1, 581-599), entstanden im Juli/August 1870. Cosima kommentiert dieses Werk folgendermaßen: "Besondere Freude gewährt es mir, daß R’s Ideen auf diesem Gebiet ausgedehnt werden können" (CW, 26.12.1870). Ein Stück darüber hinaus geht "Sokrates und die griechische Tragoedie" (KSA 1, 603-640), eine Überarbeitung des obigen Vortrages, als Privatdruck erschienen Juni 1871. Es entspricht den Kapiteln 8-15 der endgültigen "Geburt" mit wenigen Ausnahmen wortwörtlich. Im Jahre 1871 begann das Zerren an den Fesseln des Philologenberufs bei Nietzsche. Im Januar bewirbt er sich auf den philosophischen Lehrstuhl in Basel; Anfang Februar erfolgt die erste Beurlaubung. Er hält sich 6 Wochen in Lugano auf und verfasst dort das Vorwort zur "Geburt" an R. Wagner. In einem Brief an Rhode vom 19.3.1871 schreibt Nietzsche, dass seine "kleine Schrift über Ursprung und Ziel der Tragödie fast fertig" sei und dass sie seine "Entfremdung von der Philologie" zeige und er "sich in sein Philosophentum" hineinlebe.3 Dabei ist der Titelentwurf – übrigens einer von vielen, aber der, den er dem Freund gegenüber gewählt hat – nicht zu übersehen: "Ursprung und Ziel der Tragödie" geht über eine philologische Untersuchung hinaus, zielt schon aufs Philosophieren. Welcher analysierende Philologe wollte ein Ziel der Tragödie angeben? "Die Geburt der Tragödie" wird ca. Ende März 1871 fertiggestellt (KSB 3, 189-190), Anfang April den Wagners vorgelesen (CW 7.4.1871). Nach der Einarbeitung der Wagner-Passagen bietet er das Manuskript Ende April unter dem Titel "Musik und Tragödie" dem Leipziger Verleger Engelmann an, der es ablehnt und das Manuskript Ende Juni zurückgibt. Am 13. Oktober 1871 erfolgt die Übergabe des Manuskripts der "Geburt der Tragödie" an den Leipziger Verleger Wagners, Fritzsch, unter Nachlieferung der fehlenden Teile bis zum 12. Dezember. Über Weihnachten meidet Nietzsche Tribschen, um seine 6 Vorträge über die Zukunft der Bildungsanstalten zu fertigen. Am 2. Januar 1872 erscheint "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" im Verlag von E. W. Fritzsch, Leipzig und Nietzsche kann stolz Wagner sein Buch präsentieren, ein Buch, über dessen Grundaussagen sich beide einig waren. Sie waren sich einig in ihrer Gefolgschaft für Schopenhauer und in ihrer Einschätzung der deutschen Musik, besonders der Bedeutung Beethovens und der Ablehnung der damals zeitgenössischen, "modernen", sprich französischen, Oper. Wagners Schriften zu den Themen des Buches lagen schon eine Weile zurück (Kunst und Revolution 1849, Das Kunstwerk der Zukunft 1851, Oper und Drama 1851), aber Nietzsche kannte sie alle. Außerdem waren, wie aus Cosimas Tagebüchern hervorgeht, "Oper und Drama" und Wagners Schriften zu Beethoven häufige Gesprächsthemen der beiden, auch weil Wagner etwa zu dieser Zeit an einer Beethoven-Festschrift arbeitete. So liegt es nahe, dass auch andere Wagner’sche Thesen im Schwange waren. In Tribschen wurde das Werk denn auch enthusiastisch begrüßt. Wagner schreibt an Nietzsche Anfang Januar 1872: "Lieber Freund! Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen ... Zu Cosima sagte ich, nach ihr kämen gleich Sie: dann lange kein anderer bis zu Lenbach ..."4 In der deutschen Kulturlandschaft, in der Nietzsche auf eine erschütternde Wirkung gehofft hatte, traf ihn zunächst nur Schweigen – und dann die vernichtende Philologenkritik eines U. Wilamowitz-Möllendorff, der Ende Mai 1872 in einer "Zukunftsphilologie" betitelten Schrift hart mit dem Autor ins Gericht ging, bzw. ihn "unmöglich" machte. Inhaltsübersicht Wie sah nun diese kleine Schrift aus? Die Schrift enthält, unabhängig von ihrer Kapitaleinteilung, inhaltlich vier Teile mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Der erste Teil ist eine von fundierter Griechenkenntnis getragenen Darstellung und Bebilderung der wesentlichen Begriffe "apollinisch", "dionysisch", "Musik", "Epos" und "Lyrik". Darauf folgt die dezidierte Darstellung des Ursprungs der Tragödie aus dem Chor. Dabei wird immer wieder auf den vorhandenen oder nicht vorhandenen Unterschied zwischen Leben und Kunst, Natur- und Menschenwelt bei den alten, vorsokratischen Griechen hingewiesen und dieser genau erläutert. Bei der Darlegung von Ursachen und Wirkungen der Tragödie greift Nietzsche immer wieder auf die Grundunterscheidungen des Anfangs zurück, bzw. erklärt diese nochmals anhand anderer Beispiele (was viele Wiederholungen zur Folge hat...). Besonders betont er dabei die Bedeutung des Dionysischen und der Kraft der Musik für die Tragödie. Den Abschluss dieses griechisch-historischen Teils bildet die Beschreibung des weiteren Schicksals der alten attischen Tragödie, wie sie mit Sophokles ihren Weiterentwickler und mit Euripides ihren Überwinder, sozusagen ihren Vernichter findet. Die zeitliche, gedankliche und ansatzmäßige Nähe von Euripides und Sokrates wird ausführlich belegt und das Ende der alten attischen Tragödie mit dem Einbruch der Rationalität, "des theoretischen Menschen" mit Sokrates, zwingend begründet. Dies bedeutete, nach Nietzsche, das Ende der Musik und des Chores in ihren alten Funktionen und Wirkungen, das Ende des Mythos als eigentlichem Gegenstand der Tragödie. Nun werden im dritten Teil die "langen Schatten des Sokrates" ausführlich beschrieben, d.h. eine grundsätzliche Kulturkritik der Moderne mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit und Mythosferne geleistet. Seit Sokrates gebe es den "theoretischen Menschen", der in der Überzeugung lebe, mit Hilfe der Kausalität bis zum Urgrund des Seins vordringen zu können, um dieses zu erkennen und zu korrigieren. Nachdem dieser Versuch über lange Jahrhunderte durchgeführt worden sei, habe sich aber herausgestellt, dass dies ein Wahn sei und die Wissenschaft immer wieder ins "Unaufhellbare" starre. Dies sei der Punkt, an dem für die sich am Ende befindende Wissenschaft die Kunst wieder notwendig werde, als Heilmittel und Schutz. Da die Tragödie zu Grunde gegangen sei am Entschwinden des Geistes der Musik, könne sie nur aus diesem wiedergeboren werden. Als Überleitung zum vierten Teil der Abhandlung wechselt Nietzsche nochmals die Argumentationsebene und fasst den bisherigen Ablauf der Kulturentwicklung am Beispiel der "leitenden Illusion" in drei Grundarten der Kultur zusammen, der sokratischen, der hellenischen und der buddhaistischen Kultur. Die als sokratisch-alexandrinisch diagnostizierte moderne Kultur wird als ihrem Ende entgegensehend und an die Grenzen ihres Optimismus geführt dargestellt, so dass sie nun an der Schwelle zur tragisch-buddhaistischen Kultur stehe, deren höchstes Ziel die Weisheit sei, dem Gesamtbild der Welt liebend zugewandt das Leid zu bejahen und zu ergreifen. Auch für die Entwicklung der Musik wird deren Geschichte unter der kulturellen Vorherrschaft des theoretischen Menschen dargelegt, vor allem am Beispiel der Oper. Hier wird der – als falsch gewertete, nun an sein Ende gelangte – Optimismus der sokratisch-alexandrinischen Kultur an der Entwicklung der Oper von der Renaissance bis zur Idylle des 19. Jahrhunderts in höchst sarkastischer Rede nachgewiesen. So gelangt Nietzsche in diesem vierten Teil zum Ziel seiner Argumentation, der Wiedergeburt der Tragödie aus dem dionysischen Grund des deutschen Geistes, welchen er in der Musik durch die Größen Bach, Beethoven und Wagner repräsentiert sieht. Am Punkte dieser Wiedergeburt müsse man von den Griechen lernen. Hier hätten sich apollinischer Schein und dionysischer Urgrund der Musik erneut zu vermählen, um dem modernen Menschen wieder eine "Schau", eine Verbindung zum Mythos jenseits der Theorie zu ermöglichen – und so die Kultur zu erneuern. Die Tragödie befriedige das Bedürfnis nach Mythos, das in der modernen Gesellschaft versteckt ist, aus der Musik heraus. Als historisches Beispiel einer erlösenden Wirkung der deutschen, dionysischen Kraft wird Luther angeführt, in zweifacher Hinsicht: Die Reformation als Beispiel für die Kraft, sein Choral als tiefe, mutige, seelenvolle "Zukunftsweise". Das gelungene Beispiel für eine neue Tragödie ist für Nietzsche Wagners "Tristan". Nach einigen einigermaßen mysteriösen Gedanken zum Zusammenhang von Volk, Staat und Tragödie kommt Nietzsche zu dem Schluss, dass die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei. Die musikalische Dissonanz zeige das Streben ins Unendliche, die Verbindung von Apollinisch und Dionysisch könne nur in der neuen Oper wirken, so wie früher in der alten attischen Tragödie. Deshalb sei hiermit die Tragödie wiedergeboren. Welches Ziel Nietzsches – außer dem einer Werbeschrift für Wagner, was die "Geburt der Tragödie" vor allem im vierten Teil ist – lässt sich nun aus dem ganzen Text herauslesen? Er geht hier offensichtlich ein Stück auf dem Weg in Richtung Kulturerneuerer, Philosoph einer neuen Kulturperiode. Sein Thema ist die Zukunft der Kultur oder Kultur der Zukunft in Deutschland am Beispiel der Tragödie. Hiermit ist Nietzsche ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts und reiht sich ein bei "Philosophie der Zukunft" / Feuerbach, "Kunstwerk der Zukunft" / Wagner, "Zukunftsmusik" / Liszt. Dieses Ziel wird schon im Vorwort an Richard Wagner angedeutet: "... denen möchte vielmehr...deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir es zu tun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt, hingestellt wird." 5 Nietzsche und Feuerbach Inwieweit ist nun Nietzsches Erstling dem "Philosophen der Zukunft", nämlich Feuerbach, verpflichtet? Nietzsche selbst erwähnt Feuerbach nur zweimal in späteren Texten, immer im Zusammenhang mit Wagner. Anhand von Briefstellen, z. B. dem Geburtstagswunsch von 1861, kann man aber erschließen, dass er selbst sein Werk gelesen und verarbeitet hat. Einen Brief vom 27.04.1862 an seine "Germania"-Freunde Krug und Pinder, der Gedanken zum Christentum zum Inhalt hat, schließt er mit dem abgewandelten Feuerbach-Satz: "Der Mensch erkennt in sich den Anfang, die Mitte und das Ende der Religion." (Feuerbach: "Der Mensch ist der Anfang der Religion ... / Wesen des Christentums, Ende des 1.Teils)6. Von solch relativ frühen und deshalb grundlegenden Lektüre- und Denkerfahrungen ist es umso wahrscheinlicher, dass sie im Werk auftauchen. Weiterhin ist Wagners "Kunstwerk der Zukunft" von Feuerbach so beeinflusst, dass er es diesem gewidmet hat und in der Widmung dezidiert die Übertragung Feuerbach‘scher Gedanken auf die Kunst nachgewiesen hat7. So ist dies eine zweite Quelle der Beeinflussung. (Nietzsche kannte das "Kunstwerk der Zukunft" mindestens seit 1864.) Die drei Hauptpunkte, an denen Nietzsche sein Erneuerungswerk beginnt, sind m.E. die Musikkritik, die Kulturkritik und der Entwurf für eine neue Kulturepoche. Die musikkritischen Teile nehmen hauptsächlich Bezug auf Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" und Wagners Beethoven-Schriften und brauchen uns im Zusammenhang mit Feuerbach nicht zu interessieren. (Wie aus Wagners Widmung des "Kunstwerks der Zukunft" an Feuerbach hervorgeht, hatte dieser keine Kunstbezüge eingearbeitet) Anders steht es mit der Kulturkritik. Unsere Kultur basiert nach Nietzsche auf der Entwicklung des "theoretischen Menschen" im Gefolge Sokrates’ und er weist viele Fehlformen kultureller Erscheinungen nach, wie die Idylle in der Oper, die Wissenschaftsgläubigkeit der Zeit, der Glaube an die Machbarkeit der Welt ("Korrektur des Seins"), die Auflösung des Mythos und damit die Beliebigkeit der Werte, modern gesprochen. Aus dieser Bestandsaufnahme resultiert einerseits das Bedürfnis nach Mythos und Kunst, andrerseits sei der "theoretische Mensch" gar nicht fähig, diese aufzunehmen, da er als Zuschauer und Zuhörer immer nur oder zuvörderst Kritiker ist. An diesem Punkte setzt dann Nietzsches Wagner-Empfehlung ein. Diese Kulturkritik hat aber Vorläufer, am deutlichsten in Wagners "Kunstwerk der Zukunft". Darin weist dieser für den gesamten Kanon der klassischen Künste deren Vereinzelung nach bzw. welche Einbußen und Verkrüppelungen sie dadurch erlitten. Er zeigt, dass all diese Künste auch in der Moderne, zu Zeiten des "wissenschaftlichen Menschen", wie es bei ihm heißt, betrieben werden, aber wie? Er sieht eine völlige Degeneration der Künste, z. B. der Malerei zur Dekoration, der Tanzkunst zum Ballett etc. Besonders in der Musik habe das katastrophale Folgen, da die drei bei den Griechen vereinten Künste Tanz, Musik und Dichtung auseinandergerissen wurden. In moderner Zeit würden sie entweder einzeln praktiziert oder mit Musik kombiniert, diese aber missbrauchend, so dass eben Ballett oder Rezitativ entstehen konnten, als "musikbeleidigende" Formen. Beide Argumentationsreihen, die von Nietzsches "theoretischem Menschen" und die von Wagners "wissenschaftlichem Menschen" gehen m.E. auf Feuerbach zurück, bzw. sind von ihm inspiriert. Wie Feuerbach für den Philosophen die Totalität des Menschen einfordert und ihm anempfiehlt: "denke als lebendiges, wirkliches Wesen ...denke in der Existenz, in der Welt."8, so fordert es Wagner für den Künstler – und Nietzsche für den Zuschauer, den Rezipienten. Noch ein zweiter Wirkungsstrang Feuerbach’schen Gedankengutes lässt sich nachvollziehen. Bei Feuerbach stützt sich die "neue Philosophie auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung ...sie bejaht nur in und mit der Vernunft, was jeder Mensch – – der wirkliche Mensch – im Herzen bekennt."9 Dieser Sensualismus setzt die Empfindung, das Gefühl, letztlich den Leib, also die ganze Existenz des Menschen in ihr Recht, auch in der Philosophie. Parallel dazu steht bei Nietzsche der ganze Mensch im Vordergrund, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt. Er zielt darauf, den theoretischen Menschen mit Hilfe des Dionysischen wieder zu vervollständigen, und zwar mittels der Kunst. Das Dionysische mit seiner selbst am Schmerz perzipierten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschoß der Musik und des tragischen Mythos ... Jenes Streben ins Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich perzipierten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben."10 Hier wird also gegen Ende des Textes noch einmal auf die Notwenigkeit der tragischen Kultur hingewiesen, ohne nochmals "buddhaistisch" verbrämt zu werden. Und es scheint schon eine von Nietzsches Hauptthesen aufzublitzen, der "amor fati", das Bejahen des Lebens, trotz oder wegen des tragischen Geschicks. Wie wir in der Tragödie den Helden untergehen sehen, das Leben aber als Urstrom erhalten bleibt und dadurch Tröstung bietet, so soll auch dies die Haltung im wirklichen Leben sein. Nietzsche stellt nun hier die Zukunftsperspektive in den Raum, dass durch die Wiedergewinnung des Dionysischen die trockene, kritikerhafte, "verkopfte" Kultur des theoretischen Menschen, die er abgewirtschaftet sieht, wieder einen Anspruch, einen "Zug zum Unendlichen" bekommt, der damit dieser Kultur erst ihr Lebensrecht gibt. Nur im Dionysischen schafft sie wieder eine Verbindung zum Urgrund des Seins und gewinnt dadurch Realität – mittels, aber auch jenseits der Vernunft. In Nietzsches Argumentation ist das Apollinische die Kraft der Individuation, das Dionysische die Verbindung zum Urgrund. Dies ist nicht nur eine direkte Parallele zu Feuerbachs Sicht von "Herz und Liebe" des "wirklichen Menschen" einerseits und der diese "bejahenden Vernunft" andererseits – wobei "Herz" und "Dionysos" jeweils das eigentlich tragende Element sind –, sondern erinnert auch daran, wie dieser im "Wesen des Christentums" dem menschlichen Individuum in seiner Beschränktheit die Gattung gegenüberstellt. Bei Feuerbach ist das Ziel des Individuums die Selbstverwirklichung in Richtung auf das Gattungswesen, dessen Vollkommenheit es wahrnimmt als Gegenstand "des Gefühls, des Gewissens oder des denkenden Bewusstseins".11 Zu solcher Vollkommenheit möchte Nietzsche mit Hilfe der tragischen Kultur, mit Hilfe der Tragödie beitragen, wobei das Dionysische den Urgrund des Seins, quasi ein "Gattungswissen", per Mythos zu Gefühl und zu Bewusstsein, per rauschhaftem Tanz zu Empfindung und Tat bringt. Das Apollinische wiederum liefert das Maß und die Form, um die Gattungsbezüge darstellbar und fürs Individuum nachvollziehbar, erlebbar zu machen, ohne Schaden zu nehmen Am Rande sei bemerkt: Dieses Begriffspaar "Apollinisch – Dionysisch", das als zentrale Argumentation Nietzsches "Geburt der Tragödie" durchzieht, ist – auch in seinem Zusammenhang mit dem griechischen Theater – nicht von Nietzsche geprägt oder (wieder-)erfunden worden, sondern war im 19. Jahrhundert wohl intellektuelles Rüstzeug für Theater-, Mythen-, oder Griechen-Theoretiker. So begegnet uns in der Korrespondenz Wagner – Nietzsche der Hinweis auf "den Creuzer"12. Der "Creuzer" meint das Hauptwerk des Altertumsforschers und Rektors der Heidelberger Universität Georg Friedrich Creuzer (1771 – 1858): "Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen", das in den Jahren 1810 bis 1822 entstanden ist. Dieses Buch, das Nietzsche mehrfach in der Basler Universitätsbibliothek entliehen hat, enthält, wie H. Pfotenhauer in seinem 1985 erschienen Buch "Die Kunst als Physiologie" darlegt, bereits eine deutliche Entgegensetzung des Apollo- und des Bakchos-Mythos.13 So ist es nicht verwunderlich, dass das Dionysische sowohl schon bei den Gesprächen mit Wagner an verschiedenen Stellen eine Rolle spielt, als auch bei Nietzsche selbst schon relativ früh auftaucht. Letzterer verwendet schon in der Besprechung des Chorliedes aus Oedipus Rex von 1864 die Begriffe "Bacchus", "Dithyrambus", anschließend Apollo als Gott der Musik14. Nietzsche hat also wohl dieses Begriffspaar vorgefunden, es aber auf ganz eigene Weise verwendet und weiterausgebaut: Zum einen als Haupterklärungspunkt für die in der griechischen Tragödie in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien wirksamen Mechanismen, zum andern wurde bei ihm das Dionysische zu einem Hauptanliegen seiner Kulturveränderungspläne. Dabei erinnert die Ablehnung des "sokratischen Menschen" und die Forderung nach der Wiedergewinnung der ursprünglichen naturnahen Kräfte auch für die Kultur sehr an einen zentralen Satz Feuerbachs: "Ich bin, ist Sache des Herzens, ich denke – Sache des Kopfes...Fühlen ist nur mein Sein. Denken ist mein Nichtsein, ....die Vernunft das Nichts der Persönlichkeit."15 Da Nietzsche, zumindest in der "Geburt der Tragödie", nicht nur auf die Komplettierung des modernen Menschen, sondern vor allem auf eine Erneuerung der Kultur zielt, ist es ihm auch um das Dionysische in seiner mythenschaffenden Wirkung zu tun. Dazu schreibt er gegen Ende des Textes: "Musik und tragischer Mythos sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und voneinander untrennbar."16 In diesem Zitat wird Nietzsches "Volksbezug" deutlich, und zwar als ein anderer, als ihn Feuerbach und, letzterem folgend, Wagner im "Kunstwerk der Zukunft" verwendet. Während Feuerbach auf eine neue Praxis im Umgang der Menschen miteinander zielt und Wagner aus dem "geläuterten, weil wieder ursprünglichen Volke" die Impulse und das Verständnis für eine neue, wiedervereinigte Kunst erwartet, setzt Nietzsche seine Erwartungen nur in das "deutsche Volk", aber recht eigentlich in den deutschen Geist, der sich in der Musik von Bach, Beethoven und Wagner ausdrückt und in der Rückbesinnung auf seine Mythen, die zu jener Zeit auch gerade Wagner leistet. Hier ist also, trotz des Begriffs "Volk" keinerlei reformatorischer (Feuerbach) oder revolutionärer (Wagner) Impetus vorhanden – im Gegenteil wird die reale Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft, die sich gerade abzeichnet, als fehlerhafte Folge des Sokratismus beschrieben. Welche Hauptspuren finden sich insgesamt in der "Geburt der Tragödie"? Feuerbach und Nietzsche "gehen ... von der Selbststätigkeit alles Lebens aus, also von einer ‚inneren Kraft‘, und stellen im Gegensatz zur metaphysischen Essenz die Existenz des Individuums in den Mittelpunkt"17. Von da aus gelangen sie zu einer Vernunft- und Kulturkritik. Nietzsche führt so zwar die Feuerbach’sche Antimetaphysik und Kulturkritik fort und dessen Lebensbejahung weiter, zeigt sich aber in seinem veröffentlichten Erstlingswerk weithin auf Bahnen eigenen Denkens, die sich allerdings oft unter manch anderen Einflüssen, besonders von Schopenhauer und Wagner verbergen. Nach seiner "Freigeisterei" werden ihn die Grundgedanken dieses seines Erstlings, die Erneuerung der Kunst und die ästhetische Rechtfertigung der Welt, weiter ausführlich beschäftigen. Am Schluss sei Nietzsche selbst noch einmal zitiert mit seiner späteren Bewertung der "Geburt der Tragödie"18: "Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, bilderwütig und bilderwirrig...ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend ... welches aber ... sich gut genug darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu suchen." (S.11/12) "... trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, ... wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren vor mir steht, – vor einem ... Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch sich zum ersten Male herangewagt hat – die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens." (S.11) "Aber es gibt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische Problem, wie es mir aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb!" Aus dieser Selbstreflexion Nietzsches ist zu ersehen, dass Nietzsche 16 Jahre später die Feuerbach‘schen, Creuzer‘schen und "amor fati" – Spuren noch gelten ließ, Schopenhauer und Wagner aber ablehnte. Anmerkungen: Als Werkausgabe wurde verwendet: Friedrich Nietzsche Werke I bis V, Hrsg. K .Schlechta, Ullstein Verlag 1977, Band 1, S.21 – S. 134
1 in "Nietzsche und Wagner – Stationen einer epochalen Begegnung", Band 1 und 2, Hrsg.:D. Borchmeyer und J Salaquarda, Insel Verlag, S. 12 7 Widmung an L. Feuerbach, abgedruckt in R. Wagner: Gesammelte Werke, Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, Hrsg.: D. Borchmeyer, Insel Verlag 1983, Band 6, S.190/191 8 L. Feuerbach, Die Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Gesammelte Werke, Hrsg.: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften durch W: Schuffenhauer, Bd. 9, S.334 9 ebenda, S. 319 10 Nietzsche Werke, Band I, S.131 11 L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums, obige Ausgabe, 12 siehe Notizen und Briefausschnitte in " Nietzsche und Wagner.- Stationen....", z.B. Band 1, S. 224 13 siehe Internetseite www.recenseo.de Werner Brück: Nietzsche, Wittgenstein, Bachmann – In einer Anmerkung wird verwiesen auf das Buch Pfotenhauers als Quellenangabe. "Pfotenhauer schreibt 1985 hierzu: "Auch hier [bei Creuzer; d.V.] wird ein Gegensatz des Bakchos-Mythos zu dem des Apollo gesehen ... Der apollinische Einfluß läutere den bacchischen Orgiasmus und verkläre ihn ... Nietzsche braucht diese Auffassung, die bei Creuzer als ein Dokument gesehen wird für die rudimentär-philosophischen, für die humanisierenden Leistungen des Mythos, nur zu ästhetisieren. So taugt das Apollinische dann zusammen mit dem Dionysischen zur dialektischen Konstruktion gegenseitig sich bedingender Gegensätze." – Pfotenhauer, Helmut: Die Kunst als Physiologie – Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion. Stuttgart, 1985. S. 36." – Internetseite der Universität Heidelberg 14 in "Gedanken über die chorische Musik in der Tragödie mit Anwendung auf dieses Chorlied (Primum Oedipodis regis carmen choricum)" vom April 1864, in BAW II S. 364 – 397 15 zitiert nach "Feuerbach und Nietzsche" von H. Walther, Internet-Homepage der Ludwig-Feuerbach-Gesellschaft (www.ludwig-feuerbach.de) 16 Nietzsche, Werke, Bd.I, S.133 17 zitiert nach: "Feuerbach und Nietzsche", siehe Anmerkung 15 18 Nietzsche, Werke, Bd I, S. 11, S.12, S.16 |
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