Hermann Josef Schmidt, Der alte Ortlepp war’s wohl doch
Alibri Verlag Aschaffenburg, 2. stark veränderte Auflage 2004, ISBN 3-932710-69-X, 562 S., 44.- €
Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/2004

Kurz vor Redaktionsschluß ging der Redaktion die zweite Auflage des bereits in A&K 1/2002, S. 203, angesprochenen Buches des Mitherausgebers von Aufklärung & Kritk zu; Hermann Josef Schmidt, der sich vor allem der Nietzscheforschung widmet, stieß dabei auf jenen freiheitlich gesonnenen Dichter Ernst Ortlepp und dessen enge Verbindung zu dem Pforta-Schüler Nietzsche. Aufklärung & Kritik hat diesem Thema im Nietzsche-Sonderheft Nr. 4/2000 zwei Beiträge gewidmet (S. 69 ff. und 80 ff.) sowie in der Ausgabe 2/2003 (S. 270 ff.) Ortlepps Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts vorgestellt.

Einerseits diese Verbindung zu Nietzsche zu erforschen und andererseits dem in Vergessenheit geratenen Dichter wieder angemessene Beachtung zu verschaffen, ist der doppelte Zweck dieser um etwa 120 Seiten erweiterten zweiten Auflage; der Autor "rekonstruiert Ortlepps letztes Lebensjahrzehnt, veranschaulicht das Leben in Schulpforta und die um Ortlepp zentrierte Subkultur. Die Auseinandersetzung mit konventionellen Interpretationen, die die Bedeutung dieser Zeit und des "alten Ortlepp" für Nietzsches Entwicklung unterschätzen, mündet in eine grundsätzliche Kritik der Nietzsche-Forschung. Schmidts Revision des tradierten Ortlepp-Bildes, fundiert durch umfassendes Hintergrundwissen und abgesichert durch Archivfunde, verdeutlicht, daß es noch viel zu entdecken gibt." (Umschlagseite)

Die genannte Erweiterung ist vor allem der Dokumentation zugute gekommen, die nunmehr Gedichte Ortlepps aus den Jahren 1819-1864 bringt, wobei der Schwerpunkt auf den Naumburger Jahren Ortlepps liegt, also der Zeit, in der er vermutlich mit dem jungen Nietzsche in mehr oder weniger enger Verbindung stand. Da all diese letzteren (vor allem Festtags-)Gedichte im Naumburger Kreisblatt erschienen, ist davon auszugehen, daß sie auch dem Knaben zur Kenntnis gelangen mußten. Insbesondere wird er sicher die jährlichen Gedichte Ortlepps jeweils zum 15. Oktober zu "Sr. Majestät dem König zur Allerhöchsten Geburtstagsfeier" gelesen haben – hatte sein eigener Vater ihn doch deshalb Friedrich Wilhelm benannt, weil er selbst an diesem Geburtstag des Preußenkönigs das Licht der Welt erblickt hatte – welche "Verbindung" Nietzsche zeitlebens nicht ganz unwichtig war.

In versteckter Form – offene Kritik hätte ja keinesfalls auf Veröffentlichung rechnen dürfen – nutzte Ortlepp sogar diese Festtagsgedichte, um seiner Zeit die Wahrheit zu sagen, so etwa im "Liedesgruß zum großen Weimar-Feste" von 1857, wo es mitten im Loblied auf Weimar unversehens heißt:

"Zwar lastet schwer des Dichterschicksals Wolke
Ringsum auf den Talenten dieser Zeit,
Der große Geist wich von dem Volke,
Wo meistens Hunger stirbt Unsterblichkeit; ..." (S. 405)

Und wenig später (21.11.1857) in "Zum Todtenfeste":

"Was bietet uns doch diese niedre Welt
Als Angst und Sorge, Krankheit, Noth und Schmerzen,
Und wenn sich Armuth noch dazu gesellt,
Wie tobt’s und stürmt’s da in den bangen Herzen!" (S. 409)

Das sind durchaus auch Beschreibungen seiner Zeit und der Lebenssituation, in die sich der Dichter selbst geworfen erlebt:

"Ja, wie in alten Tagen
Der Geist der Armuth Joch
Und Schimpf oft hat ertragen,
So ist es heute noch;
Indes sich spreizt im Lande
Des Glücks, der Thorheit Sohn,
Verkommt Genie zur Schande
Der deutschen Nation." (S. 484)

Hier der unglückliche Dichter, dort der begabte Schüler in Naumburg und Pforta – Hermann Josef Schmidt weiß uns beide nicht nur persönlich nahe zu bringen, sondern leuchtet auf dem Hintergrund der Mitte des 19. Jahrhunderts die Verstrickung beider sowohl in die politischen wie traditionellen Bedingungen ihrer Zeit aus, der jüngere übernimmt den Stab vom Älteren, auf dem ein Vers Ortlepps stehen könnte:

"Ein hoher Geist kennt Ruhe nicht,
Er strebt, er jagt, er kämpft und ficht."

Helmut Walther (Nürnberg)
September 2004