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Schloss Moritzburg, Zeitz

ROLAND RITTIG / RÜDIGER ZIEMANN

ERNST ORTLEPP

DOKUMENTE SEINES LEBENS UND SEINES WERKES

in den Beständen des Museums Schloss Moritzburg Zeitz

Herausgegeben zur Förderung des Schlosses Moritzburg Zeitz E.V.
Internet-Publikation mit freundlicher Genehmigung der Autoren

(Seite 4-6)

Auch ein Bewohner des Zeitzer Schlosses

Über den Dichter Ernst Ortlepp

 

Auf dem Titelblatt seiner Ortlepp-Biographie verkündete F Walther Ilges 1900, er werde von einem »Verschollenen« berichten. Nun ist wieder ein Jahrhundert vergangen, und es wäre leichtsinnig, der Behauptung von Ilges einfach zu widersprechen. Wir können ihr aber auch nicht unbedenklich zustimmen. Ortlepps Name hat einen sicheren Platz in den Personenverzeichnissen der Goethe- und der Nietzscheausgaben und in der Ausgabe der Briefe Richard Wagners gefunden. Dem Historiker, der über die Kultur- und Zensurpolitik der Heiligen Allianz arbeitet, wird es kaum entgehen, daß sich 1835 der Staatskanzler Fürst Metternich wenige Wochen vor dem Verbot der Schriften des Jungen Deutschland ganz persönlich und mit größter Entschiedenheit für die Verfolgung des Gedichts Fieschi einsetzte. Gewiß ist man auf ältere Lexika angewiesen, wenn man von dem Titelhelden nichts weiß, den Ortlepp mit Verständnis – und jedenfalls nicht feindselig – behandelte. Man kann aber auch Treitschke lesen; in seinem Buch spürt man noch den Schrecken, mit welchem die Bewahrer des alten Europa auf jenen erfolglosen Königsmörder und sein fürchterliches Beispiel sahen. Die jüngeren Beschäftigungen mit der schwierigen Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen erneuerten auch die Erinnerung daran, daß unter den europäischen Dichtern, die den polnischen Freiheitskampf von 1830/31 unterstützten, der »verschollene« Ortlepp eine hervorragende Rolle spielte.

Naumburg, 21. Dec. Der besonders der Straßenjugend unserer Stadt und in den benachbarten Ortschaften bekannt gewordene Dichter Ortlepp aus Schkölen, welcher bekanntlich in den letzten Monaten Tag für Tag die Gassen wankend und lärmend durchzog, ist kürzlich vom hiesigen Kreisgericht wegen Straßen=Scandals und Vogabondirens zu 14 Tagen Gefängniß verurtheilt und nach Verbüßung dieser Strafe zum zweiten Male nach der Corrections-Anstalt Zeitz abgeführt worden, von wo er, nach länger als einjährigem Aufenthalte erst in der Mitte dieses Sommers unverändert zurückgekehrt war.

Naumburger Kreisblatt, 22.Dezember 1860

Den Polenliedern verdankte es Ortlepp, daß seiner in der großen Frankfurter Ausstellung zum 150. Jahresgedenken der Revolution von 1848 Erwähnung getan wurde, während man seinen aktuellen poetischen Beitrag zu den Ideen von 1848 wohl nicht mehr für sehr wichtig ansah. Germania, eine Dichtung, welche »dem deutschen Parlament gewidmet« war, konnte 1848 in Frankfurt nur im Selbstverlag des Autors erscheinen. Wenn Paul Mitzschke betont: »Ortlepp hatte sich in den Wirren des Jahres 1848 als treu monarchisch gesinnt erwiesen und auch in seinen Gedichten aller Zeiten vielfach einen begeisterten vaterländischen Ton zur Ehre Preußens angeschlagen«, so geht er doch recht frei mit der Wahrheit um. »Monarchisch gesinnt« ist die Germania-Dichtung schon, aber der Monarch, den sie rühmt, ist der vom Parlament eingesetzte Ersatz-Kaiser, der Reichsverweser Erzherzog Johann. Vermutlich war Ortlepp der einzige deutsche Dichter, der diese seltsame historische Gestalt in Gedichten feierte.

So ist nicht zu bestreiten, daß Ortlepp, der einst – wie er selbst betont – der »Erste« war, »der der politischen Poesie wieder Bahn brach«, auf diesem Gebiet nach 1848 mit gewissem Recht zu den »Verschollenen« gezählt wurde. Auch gegen Ende des Jahrhunderts, als vor allem die Arbeiterbewegung sich vieler Dichter der dreißiger und der vierziger Jahre wieder erinnerte, entstand keine Ortlepp-Renaissance. Ortlepp war zu sehr einen eigenen Weg gegangen. Sein Bild einer vom Geist bestimmten künftigen Gesellschaft schien neutral gegenüber der Alternative Monarchie oder Republik. Und Ortlepp unterscheidet sich von seinen Zunftgenossen auch darin, daß er in der überkommenen Kunst und in den ererbten Ideen überall das Erhaltenswerte, die noch zu erreichenden Muster sah.

Er war nach 1848 noch nicht »verschollen«, denn die Werke, die er als Übersetzer und Herausgeber schuf, blieben längere Zeit gegenwärtig. Eine Shakespeare-Übersetzung wurde durch den Reclam-Verlag verbreitet. Ortlepp legte die erste vollständige deutsche Überset zung der Gedichte Byrons vor, und diese Texte benutzte man noch lange mindestens dann, wenn eine Ausgabe komplettiert werden sollte.Auf die Ausgabe der Sämmtlichen Werke des sächsischen Aufklärers Rabener verweisen heute die Fachbibliographien. Die Reihe ließe sich eindrucksvoll erweitern, für Ortlepp aber wogen diese Arbeiten wenig gegenüber dem poetischen Werk, dem Werk des Dichters. Das Gespräch mit Goethe, das oft genug wie eine heitere Anekdote nacherzählt wurde, ging um die Eigenart des Ortleppschen Dichterverständnisses und um die Differenz zwischen diesem Dichterverständnis und dem Goethes, des Dichters, in dem auch für Ortlepp das absolute Dichterideal inkarniert schien. Aus diesem Gespräch von 1828 wird immer wieder ein rokokohaft hübscher Satz Goethes zitiert: »Jedes Gedicht ist gewissermaßen ein Kuß, den man der Welt gibt, aber aus bloßen Küssen werden keine Kinder.« Goethes Tagebucheintragung erläutert uns, worum es ging: Ortlepp, dem »ein gewisses poetisches Talent« nicht abzusprechen sei, habe sich »in die ästhetischsentimentalen Grillen so verfitzt, daß er kein Verhältnis zur Außenwelt finden kann«. Noch einmal sieht sich Goethe mit dem Poesieverständnis konfrontiert, mit dem er schon in den Fällen Kleists und Hölderlins nicht zurechtkam, an dessen Gründen er sich aber auch im Werther-Roman und im Tasso-Drama abgearbeitet hatte. Für Ortlepp ist Dichtersprache göttliche Rede, ist der Dichter der eigentliche Repräsentant der Menschheit; nur mit dem Musiker könnte er sich diesen Platz teilen. Wie Richard Wagner, mit dem Ortlepp nach den Leipziger Jahren offenbar keinen Kontakt mehr hatte, glaubte er an eine Verpflichtung der Menschheit gegenüber denen, die ihr die Kunstwerke und -werte geben.

»Eine edle Verschmelzung des politischen und religiösen Momentes« sah Ortlepp in seiner politischen Dichtung erreicht oder doch angestrebt. Eine Verschmelzung bringt immer etwas hervor, in dem die ursprünglichen Charaktere der Elemente nicht mehr rein zu erkennen sind. Ortlepp wollte Politik und Religion in ein Drittes aufheben, das edler sein sollte. Schon Novalis sah im Dichter den echten Priester. Ortlepp stellte ihn und das Lied, das Wort, mit ähnlicher Entschiedenheit ins Zentrum seiner Bilder von Menschheit. Politik wird zum Schaffen von Gerechtigkeit und Größe, nicht zum Etablieren von Akteuren und Strukturen, und Religion hat Menschlichkeit zu wirken; wo sie sich dieser Aufgabe nicht stellen will, ist sie fehl am Platze. »Gott ist nur Gott des Guten«.

Ortlepps poetische Konzeption ist hier nicht zu bewerten. Es spricht immerhin für sie, daß sie das Dichterwerk auch nach dem Scheitern aller frühen Hoffnungen noch tragen konnte. Im Gedicht Das Lied wird es ausgesprochen: Das Lied gibt auch dem noch alles, der vor dem Nichts steht. Die Daten der glücklicheren Lebensjahre Ortlepps findet der Leser in der Biographie, die hier zum ersten Male veröffentlicht wird. 1853 wies man den Dichter auch aus Württemberg aus; er kehrte in seine mitteldeutsche Heimat zurück. Die Klänge aus dem Neckarthal von 1852 und die Klänge aus dem Saalthal, die 1856 folgten, setzen einige Akzente seiner Poesie anders: Die große Geschichte und die Mahnung an die Zeitgenossen sind nicht verschwunden, neben ihnen aber beanspruchen die kleinen, doch soliden Werte des Regionalen nun mehr Platz. Der Vorgang ist nach den Enttäuschungen nach 1848 nicht selten, es beginnt der Aufstieg dessen, was man dann unter dem Begriff der »Heimatkunst« zusammenfaßte und recht verschieden bewertete.

Die meisten Berichte über das letzte Lebensjahrzehnt Ortlepps betonen das Bild eines verkommenen Alkoholikers. Es ist ja gesichert, daß die Behörden mehrfach Maßnahmen gegen ihn ergriffen; ihnen ist Ortlepps späte Verbundenheit mit Zeitz zu verdanken, in des sen »Korrektionsanstalt« er mehr als ein Jahr zubrachte. Wo man davon berichtet, wird den Beweggründen der Behörden nie gründlich nachgefragt. Es ist auch bekannt, daß noch der Sechsundfünfzigjährige das Philologenexamen ablegte, das für den Dienst an den höheren Lehranstalten notwendig war. Man gab Ortlepp ein solches Amt nicht, und das wird dann wieder schnell mit seiner wenig mondänen Erscheinung erklärt. Die Bilder sind immer auch Abbilder derer, die sie machen. Poetische Arbeiten aus den letzten Jahren, die in dieser Edition vorgestellt werden, könnten helfen, ein reicheres Bild des alternden Dichters zu gewinnen.

Wer diese Gedichte 1:1 christlich liest, verfehlt wohl das Eigentliche: Man sehe nur, wie er sich in Strophe 2 mit Jesus vergleicht – und in welchem Ton er diesem gegenüber auftritt ... Es ist offensichtlich so, daß Ortlepp, um seine Einblatt-Gedichte überhaupt verkaufen zu können, sich an vorgegebene Muster hält, jedoch an passender Stelle feine Widerhaken einbaut, die zeigen, was er wirklich denkt. (H. Walther)

Diese Hoffnung ist um so besser gegründet, als das Echo einer dieser Arbeiten seit sechs Jahrzehnten in Darstellungen der Entwicklung Friedrich Nietzsches eingegangen ist. Der Portenser Nietzsche hat den Portenser Ortlepp gekannt; wir wissen es aus einem Brief vom 4. Juli 1864:

Der alte Ortlepp ist übrigens todt. Zwischen Pforta und Almrich fiel er in einen Graben und brach den Nacken. In Pforta wurde er früh morgends bei düsterem Regen begraben; vier Arbeiter trugen den rohen Sarg; Prof. Keil folgte mit einem Regenschirm. Kein Geistlicher.
Wir sprachen ihn am Todestag in Almrich. Er sagte, er gienge sich ein Logis im Saalthale zu miethen.

Dieser Text lehnt sich an den Schluß des Werther-Romans an, des Romans über einen, der auch »kein Verhältnis zur Außenwelt finden« konnte, wie einst Goethe über Ortlepp notierte. So sicher dieser Text bezeugt, daß Ortlepp den jungen Nietzsche beeindruckte, so unsicher sind alle Annahmen über Richtung und Inhalt seines Einflusses. Auch das sorgt 200 Jahre nach der Geburt Ortlepps und 100 Jahre nach dem Tode Nietzsches weiterhin dafür, daß Ortlepp nicht ganz »verschollen« ist.


Droyßig, der Geburtsort Ernst Ortlepps
Lithographie um 1860 von Hans A. Willard (1832-1864)

 

Internet-Bearbeitung: Helmut Walther (Nürnberg)


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