Das Internet ist eine segensreiche Erfindung: es erlaubt die Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg.
So hat sich hier für die wohl wichtigste Freundschaftsbeziehung im Leben Nietzsches, diejenige mit Franz Overbeck, als Co-Autor Tadeusz Zatorski bereit erklärt, seine Besprechung
eines Buches von Urs Sommer zur Verfügung zu stellen, in der das Verhältnis der beiden bei der Arbeit an ihren jeweiligen "Erstlingen" gezeigt wird. Im Mai 2008 ist im Verlag J.B. Metzler „Franz Overbeck: Werke und Nachlaß. Band 8“ erschienen. Lesen Sie dazu den längeren interessanten Artikel der Berliner Literaturkritik mit Zitaten aus Briefen an Heinrich von Treitschke. Weitere Informationen zu Franz Overbeck bei virtuSens The internet is a great invention: it facilitates international co-operation beyond all boundaries. With respect to Nietzsche's very likely most important friendship, that with Franz Overbeck, Tadeusz Zatorski has kindly agreed to contribute his (German) review of Urs Sommer's book which discusses this friendship at the time of each scholar's writing on his first book. Read up (in German) more information about Franz Overbeck at virtuSens |
Tadeusz Zatorski (Krakau) Overbeck und der Freund |
Andreas Urs Sommer, "Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur »Waffengenossenschaft« von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck", Berlin Akademie Verlag 1997 "Ich für meine Person empfinde die Nothwendigkeit der Erfindung der Zukunft nicht und kann davon überhaupt reden vielleicht nur, weil ich in unbegreiflicher Weise die Empfindung, in der Zukunft meine Heimath zu haben, mit der Unfähigkeit verbinde ihr Prophet zu sein." So schrieb in seinen erst 1941 zum ersten Mal veröffentlichten "Selbstbekenntnissen" Franz Overbeck, Professor der Kirchengeschichte und Theologie an der Universität Basel. Von Fachkollegen wurde er jahrzehntelang mit verlegenem Stillschweigen übergangen und wenn man ihn schon überhaupt wahrnahm, dann meist höchstens als "Nietzsches Freund" – eben so, "Nietzsche und der Freund" hat seinerzeit seinen ihm gewidmeten Essay Stephan Zweig betitelt. Man erkannte hie und da seine "eigene eigentümliche geistige Leistung" an, diese sicherte ihm aber lediglich eine "Stelle in der Welt Nietzsches" (Jaspers). Zwar gab es schon immer Leute, die in ihm einen originellen und selbständien Denker sehen wollten – wie etwa Walter Nigg, Karl Löwith oder neuerdings Hans Blumenberg – sie vermochten jedoch nicht das im allgemeinen Bewußtsein sehr suggestiv geprägte Bild von "Nietzsches Sinclair" (Walter Benjamin), der nicht einmal fähig war, die Größe des genialen Freundes vollkommen zu begreifen, durch ein neues – der Wirklichkeit näheres – zu ersetzen. Und doch hat Overbeck recht bekommen: seit etwa zwanzig Jahren nimmt das Interesse an seinem Werk und seiner Person sichtlich zu, es erscheinen immer neue Bücher und unzählige Artikel über ihn und der Stuttgarter Metzler-Verlag gibt eine neunbändige Edition seiner Schriften heraus, die allerdings nur einen Bruchteil seines gesamten Nachlaßes umfassen soll. Franz und Ida Overbeck Die Freundschaft und gegenseitige Beeinflussung Nietzsches und Overbecks war schon Gegenstand von Betrachtungen und Analysen einiger Autoren, die jenes simple Schema "Genie und sein Sinclair" in Frage zu stellen wagten. Zu erwähnen sind hier vor allem die inzwischen schon bei allen Mängeln klassische Doppelbiographie von Carl Albrecht Bernoulli "Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft" aus dem Jahre 1908 sowie das vor sechs Jahren erschienene Buch von Niklaus Peter "Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur >>Christlichkeit unserer heutigen Theologie<<". Das 1997 von dem Akademie Verlag Berlin herausgegebene Buch von Andreas Urs Sommer "Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur >>Waffengenossenschaft<< von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck" nimmt also ein Thema auf, das, wie man meinen könnte, ein schon ziemlich sorgfältig "durchkämmtes" und gut erkanntes Gebiet ist. Sommer, Mitarbeiter der Universität Basel und der Princeton University, konzentriert sich aber auf einen Punkt, dem bisher, wie es scheint, weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde und an dem doch, wie in einer Linse, alle Ähnlichkeiten und Unterschiede im Denken der beiden zusammenlaufen: auf ihre Ansichten von der Rolle der Geschichtswissenschaft in der Kultur, auch im Zusammenhang mit dem von ihnen diagnostizierten Ende des Christentums. Die Wahl gerade dieses Themenkreises sowie die Verflechtung der zwei im Titel des Buches genannten Fäden scheinen nicht zufällig. So begründet es der Verfasser selbst: "Ich frage (...) nach den Konstruktionen von Geschichte und Geschichtlichkeit und nach der konkreten Applikation dieser Raster auf das historische Phänomen Christentum. Dies tue ich auch, weil dieses Christentum, in seiner kirchlich-institutionalisierten Gestalt, sobald es sich Theologie angeeignet hatte (...) selber historische Beweisführung (zu dogmatischen als auch apologetischen Zwecken) angewandt und – in jüdischer Tradition – umfassend historisch, geschichtstheologisch gedacht hat. (...) Gerade weil die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kein mythologisches Ereignis war, sondern sie an einem bestimmten Punkt in der Geschichte festgemacht werden konnte, gewann die christliche Erlösungslehre einen neuartigen Horizont" (S. 8). In diesem Kontext zitiert Sommer auch Overbeck: "Die Geschichte ist der Punkt, wo die Wissenschaft, sei es apologetisch oder kritisch, das Christenthum erst fassen kann" (S. 9). Nicht zuletzt liegt der Ursprung des Konflikts zwischen Wissen und Glauben – und zwar sowohl bei Nietzsche als auch bei Overbeck – weniger in der naturwissenschaftlichen als vielmehr in der historischen Erkenntnis (vgl. S. 31). Nicht ohne Bedeutung ist auch die Tatsache, daß der Verfasser sehr deutlich seine weltanschauliche Neutralität unterstreicht (S. 4) und diese auch wirklich wahrt. Denn wie er mit Recht feststellt, ist die Overbeck-Forschung "bis heute vornehmlich von theologischen Interessen bestimmt" und bedient sich dabei nicht immer ganz fairer Mittel, indem sie oft die "sachlichen Probleme auf biographische und in der Tendenz – ähnlich wie bei Nietzsche – auf psychopathologische" zu reduzieren sucht. Einer eingehenden Analyse unterzieht Sommer vor allem frühe Schriften Nietzsches und Overbecks: ihre Basler Antrittsvorlesungen, sowie die Zweite unzeitgemäße Betrachtung (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) und Overbecks Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Dabei soll jene Analyse mehr eine metoptische als synoptische sein, d.h., wie der Verfasser es selbst in der Einleitung erklärt (S.5/6), eine aufeinanderfolgende Analyse einzelner Schriften, die unter Hinweis auf Parallelstellen erörtert werden, ähnlichgeartete Gedanken der beiden Autoren werden allerdings selten unmittelbar konfrontiert und Vergleiche erst nach der Behandlung eines Werkes angeboten; der Leser hingegen wird aufgefordert, während der Lektüre sich "jeweils selber einen Reim auf die Entsprechung bei Nietzsche oder bei Overbeck" zu machen. Besonders wertvoll und interessant ist die Gegenüberstellung der Antrittsvorlesungen der beiden Basler Professoren. Es sind nämlich Schriften, die entstanden sind, bevor ihre Verfasser sich näher kennengelernt hatten. Dies macht es möglich, genau ihr gegenseitiges Herannahen zu verfolgen, das doch schnell auf deutlich gesetzte Grenzen stößt: es sind nicht ein Meister und ein Adept, die zueinander finden, sondern zwei selbständige geistige Größen, die sich für einen Augenblick nähern, wobei sie ihre Selbständigkeit doch sorgfältig wahren, um doch letzten Endes ihre eigenen Wege zu gehen. In Nietzsches Antrittsvorlesung Über die Persönlichkeit Homers (1869) nimmt die Homerproblematik einen exemplarischen Charakter an: "Mit ihrer Hilfe", schreibt Sommer, "will er den Sinn der Philologie als einer synthetischen, Wissenschaft und Kunst umfassenden Disziplin erweisen, an die er, sofern sie Philosophie geworden ist, am Ende sogar ein >>Glaubensbekenntnis<< (...) richtet" (S.18). Philologie soll m.a.W. etwas mehr als "reine Wissenschaft" sein, sie soll nämlich auch gewisse "pädagogische" Zielsetzungen verfolgen und dadurch primär dem "Leben" dienen, indem sie den Lebenswillen und die Lebenskraft stärkt und all dem entgegenwirkt, was diese schwächen oder beeinträchtigen könnte. Aus dieser Perspektive erscheint "reine Erkenntnis", eine interessenlose und wertfreie Wissenschaft gar als lebensfeindlich, zwischen Lebens- und Erkennniswillen besteht ein Widerspruch, der sich nicht beseitigen läßt: reine Erkenntnis zerstört ein Ideal, das dem "Leben" unentbehrlich ist. Die Frage, wie die Vergangenheit wirklich gestaltet war, kurz jede wissenschaftliche Lauterkeit, tritt so in den Hintergrund zugunsten der Pflicht, die Kluft zwischen einem idealen Bild des Altertums und dem realen zu überbrücken, wobei ganz ruhig in Kauf genommen wird, daß jene "Idealität des Griechentums nur eine Fiktion sein könnte, erfunden in pädagogischer Absicht, ohne Entsprechung in der Realität" (S. 24). Nietzsche scheint sich dabei ohne weiteres über die Gefahr von Mißbrauch und Betrug hinwegzusetzen, die in seinem Konzept der Geschichtswissenschaft verborgen steckt. Ein so "zugerichtetes" Geschichtsbild kann ja nicht nur im Dienste des Lebens stehen, sondern auch einer politischen Manipulation dienen – heutzutage, nach den Erfahrungen, die Europa mi totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts gemacht hat, ist jene Gefahr offensichtlicher denn je: Nicht ohne Grund pflegte man ja von der Sowjetunion zu sagen, daß es ein Land mit vollkommen unvoraussehbarer Geschichte sei. So konzipiert, ist "Nietzsches philosophische Philologie Religionssurrogat geworden, sie macht an der Welt Sieche wieder gesund" (S. 28). Die Anforderungen, die Overbeck an die Geschichtswissenschaft stellt, und die Erwartungen, die er mit ihr verbindet, sind scheinbar viel bescheidener bemessen. In seiner Antrittsvorlesung, der er einen programmatischen Titel gibt – Über Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie (1870) – plädiert er für eine Bibelforschung, die sich derselben Mittel wie alle anderen Geschichstwissenschaften bedienen würde, sie soll m.a.W., ohne jegliche Rücksicht auf den Gegenstand, "die ältesten Bestandttheile" des Christentums aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Tageslicht fördern. Auf diesem Wege soll das Normative des Ursprungs zu einem Maßstab aller Betrachtungen über die christliche Religion erhoben werden und diese vor unrechtmäßigen Interpretationen schützen, die im Laufe der Kirchengeschichte vorgenommen wurden. Ein so formuliertes Programm erinnert selbstverständlich in der ersten Linie an die Tübinger Schule, mit der auch Overbeck selbst des öfteren in Verbindung gebracht wurde, ohne daß er sich selbst vorbehaltlos mit ihr identifiziert hätte. Er versucht dabei zu zeigen, daß eine solche Betrachtungsweise eigentlich immer schon eines der Hauptziele der gesamten protestantischen Bibelforschung darstellte, ja, daß sie sogar keine andere Wahl hatte, als jenem Ruf Ad fontes! zu folgen (s. Overbeck-Zitat auf S. 35). So bekommt jene "rein historische Betrachtung" eine "theologieimmanente Legitimität" (S. 37), die sich nicht nur auf die Notwendigkeit berufen kann, mit der Methodologie der profangeschichtlichen Wissenschaften Schritt zu halten, sondern auch auf "ein innerlicheres Empfinden in Dingen des frommen Glaubens". Dabei ist sich Overbeck durchaus bewußt, daß eine solche Interpretationspraxis eine Todesgefahr für das Christentum als solches birgt: "Des weiteren aber könnten, wenn die Finsternis über den Ursprüngen gelichtet ist, diese Ursprünge selbst, nunmehr aufs äußerste historisiert, als geschichtliches Zufallsprodukt ihre Wirkmächtigkeit verlieren. Ihre mehr oder weniger ungebrochene Valenz könnte sich als ein großer Irrtum entpuppen, der zu eliminieren ist. Overbecks späteres Projekt einer >>profanen Kirchengeschichte<< (...) wird theoretisch den Stab auch über dem Urchristentum brechen" (S. 35). Diesen offensichtlichen Widerspruch erklärt Sommer – wohl überzeugend – durch die besondere Situation Overbecks als Theologieprofessor: "Darin mag man eine Anpassung an die Situation einer theologischen Antrittsvorlesung und an die Bedürfnisse der Zuhörer erblicken" (S. 37). Bald schon wird er übrigens viel offener – wenn auch noch nicht ganz im Klartext – sprechen. In seiner Antrittsvorlesung scheint Overbeck noch eine gewisse Heterogenität der Theologie als Wissenschaft zu akzeptieren: Einerseits kann das Christentum ohne Bezüge auf präzise in der Geschichte verorteten und als Geschichte eben – nicht als Mythos – begriffenen Lebensbahn seines Erlösers nicht auskommen, was auch eine "rein historische Betrachtung" seiner Ursprünge als Erzeugnis eines eigenartigen historischen Bewußtseins voraussetzt; andererseits können sich ja Theologen nicht von allen religiösen Banden loslösen, was ein zweideutiges Licht auf Reinheit jener Analyse werfen muß. Der Konflikt zwischen Wissen und Glauben ist also gewissermaßen vorprogrammiert, Theologie soll diesen Konflikt, soweit es geht, zu schlichten versuchen, was allerdings ein hoffnungsloses Unternehmen sein muß, wenn man bedenkt, daß eine sich als Wissenschaft verstehende Kirchengeschichte sich unbedingt gegen alle Formen der Instrumentalisierung wehren muß. So gesehen, erscheint Theologie, ähnlich wie Nietzsches Philologie, als eine synthetische Disziplin, sie soll auch "Nutzen für das Leben zeitigen, nämlich Wissen und Glauben ins Lot bringen" (S. 43). Sommer weist aber in diesem Zusammenhang auf einen subtilen aber doch entscheidenden Unterschied hin: "Während sich Nietzsche in seinem Homervortrag als Vertreter einer Disziplin zu erkennen gibt, die Kunst mit Wissenschaft, Orientierungswissen mit Verfügungswissen in Beziehung setzt, spricht Overbeck der Theologie ein solches >>Zwitterwesen<< zwar keinesfalls ab, versteht sich jedoch selber in erster Linie als Kirchenhistoriker und nicht als Theologe. Der Theologie in ihrer Zwitterhaftigkeit wird er bald jedes Existenzrecht absprechen, wogegen Nietzsche auf dem Standpunkt beharrt, die Philologie oder Philosophie habe sich beider, der kritischen und der kompositorischen Aufgabe anzunehmen, gerade weil Kultur und Kunst Funktionen erfüllen, die traditionell in den religiösen Bereich fielen. So gesehen argumentiert Nietzsche theologischer als es der Theologe Overbeck tut" (S. 43). Der Idee einer höheren Zwecken dienenden Geschichtswissenschaft bleibt Nietzsche auch in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung treu, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Die Geschichte soll dem Leben dienen, deshalb darf sie keine Inhalte vermitteln, die an sich vielleicht auch wahr sein mögen, aber doch dem Leben nicht förderlich sind. "Das Drängen nach der Adequanz von Ereignissen und des über sie Berichteten, der res gestae und der historia rerum gestarum, kurz: das Drängen nach historischer Gerechtigkeit (...) wird in seiner Lebenstauglichkeit von Nietzsche entschieden bestritten" (S. 55). Die Menschheit braucht, Nietzsche gemäß, Illusionen, die Kunst und Religion liefern, denn dort liegt ein wahres Leben, "ein Leben gegen den Zwang des Faktischen und der entsetzlichen Wahrheit" (S. 59). Vor der Zudringlichkeit der Historiker soll man übrigens auch andere Lebenskraft stärkende Phänomene in Schutz nehmen, wie z.B. Religion: "Nietzsche verlangt, man solle gefälligst den Nebel willentlicher Ignoranz über dem Lebensphänomen Religion aufsteigen lassen, damit es keinen Schaden leide" (S. 69). Dies bezieht sich allerdings nicht auf das Christentum, das er für eine lebensfeindliche Kraft hält und somit schonungs- und gnadenlos "der kritischen Historie" preisgegeben wissen will. Overbeck macht keinen Hehl daraus, daß er der Begegnung mit Nietzsche viel verdankt: Von Nietzsches Einfluß auf sein Denken schreibt er, er sei von einer "so ganz unabsehbarer Art für meinen Gelehrtenberuf; es ist der stärkste derart, der mich auf meiner Wanderschaft durch das Leben und zwar nel mezzo del cammin getroffen." Nietzsche sei es gewesen, der an seiner Christlichkeit unserer heutigen Theologie "mitgeschrieben" habe. Er meint hier vor allem die "Lection" der Geburt der Tragödie, die, wie Niklaus Peter schrieb, "gewissermassen eine gedankliche Initialzündung" für die Christlichkeit war. Ein Echo von Nietzsches Ausführungen über Mythos, dessen Umstempelung zum "einmaligen Factum mit historischen Ansprüchen" eigentlich den Prozeß des Absterbens von Religionen in Bewegung setzt, läßt sich dann auch in Overbecks Christlichkeit deutlich vernehmen, obwohl man gleichzeitig nicht vergessen darf, daß der Gedanke als solcher seit langem schon "in der Luft lag" (dessen Nachhall läßt sich auch bei Goethe und Heine heraushören, um nur diese zwei Namen zu nennen). Übrigens, als Nietzsche an der "Geburt der Tragödie" arbeitet, sind beide schon eng befreundet, so daß man ja nicht ausschließen darf, daß auch Overbeck an dem Werk des Freundes "mitgeschrieben" hatte, das er, wie er in der Christlichkeit schreibt, vor sich "entstehen sah". Und doch bleiben die Differenzen aus der Zeit vor der Begegnung bestehen. Obwohl sich beide Denker einig darüber sind, daß der herkömmliche (christliche) – historisierte – Mythos im Sterben liegt, sind die Schlußfolgerungen, die sie aus diesem Tatbestand ziehen, ganz verschieden. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß Nietzsche sich eher als Prophet fühlt, der alte Götzen zertrümmert, um neue aufzurichten. Seine Philologie gewinnt als Philosophie eine "religionsstiftende Kompetenz" und er "verspricht den Jüngern das Heil im Neopaganismus" (S. 83). Overbeck hingegen, der, wie wir schon wissen, sich für unfähig hielt, Zukunftsprophet zu werden, bleibt "nur" Diagnostiker und beschränkt sich auf eine eingehende und schonungslose Abrechnung mit dem Vergangenen. Er sieht ein, was Nietzsche nicht einsehen will: So wie keine Theologie im Stande ist, die absterbende christliche Religion zu reproduzieren, besitzt auch die Wissenschaft keine "sinnstiftende Kompetenz", und daher ist sie vollkommen unfähig, eine neue Religion ins Leben zu rufen. "Nietzsche will Grenzen überschreiten, während Overbeck ständig an die Grenzen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Verfügungsgewalt erinnert" (S.120). Was Jaspers einst einen "Alterstil voller Verklausulierungen und Vorbehalte, in dem eigentlich nichts mehr gesagt wird", nannte, erweist sich eher als Einsicht in die Zwecklosigkeit, Prophezeiungen aufzustellen, denen nur eine brutale Demystifizierung oder, noch schlimmer, eine klägliche Vulgarisierung beschieden ist: so wie im Falle der absurden Forderung Nietzsches, die Sklaverei wiedereinzuführen (s. S. 111), die ja in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts auf eine grausame und erschreckende Weise Wirklichkeit geworden ist – für Overbeck ist die Rechtfertigung der Sklaverei durch das Christentum lediglich ein Argument für "eine Legitimierung von Aufklärung und Humanität ohne Beihilfe christlicher Moral oder gar christlicher Theologumena" (ebenda). Mit dieser seiner Zurückhaltung erweist sich Overbeck als Erbe einer der bedeutendsten Traditionen der deutschen Kultur, und Sommer hat vollkommen recht, wenn er schreibt: "Overbeck bleibt als einer ihrer radikalen Söhne mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verbunden" (S.73). Es ist die Tradition der Skeptiker Lichtenberg und Lessing, die lieber wohldurchdachte Fragen stellten als vorschnelle Antworten erteilten, denn: "Der Freimaurer erwartet ruhig den Anfang der Sonne und läßt die Lichter brennen solange sie wollen und können – die Lichter auslöschen und, wenn sie ausgelöscht sind, es wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden oder wohl gar andere Lichter wieder aufstecken muß – das ist des Freimaurers Sache nicht" (Ernst und Falk, 5). Es sind eben Theologen, deren Manipulationen Overbeck bloßlegt, die auf Biegen oder Brechen einen Sinn in den Weltlauf hineinlegen und -interpretieren wollen, während er eine solche Suche nach einer allumfassenden Weltformel für eine selbstbetrügerische Illusion hält. Nietzsche hingegen, der bald einen haßerfüllten "Fluch auf das Christentum" schleudert, scheint auf diesem von Theologen eingeschlagenen Weg viel weiter zu gehen als der Theologe Overbeck. Und doch entwirft Overbeck auch ein positives Programm. Es ist ein Programm für Theologie, deren herkömmlichen Erscheinungsformen er zwar einen unerbittlichen Krieg erklärt, deren Sinn als Wissenschaft er aber auf eine eigenartige Weise verteidigt. Die einzige Theologie, der er noch ein Existenzrecht zuerkennt, soll eine "kritische Theologie" sein, die sich allerdings im klaren darüber ist, daß "ihre Ziele keineswegs >>rein religiöse<< seien". Sie habe "der Weltbildung eine Stätte neben dem Christentum möglich zu machen" (ChT, 70, zit. nach Sommer, S. 105). Ohne sich mit dem Christentum zu identifizieren und die Bereiche des Glaubens und des Wissens rigoros trennend, soll sie das Christentum "gegen die falschen Formen von Theologie beschützen" (ebenda). Sommer sieht darin eine gedankliche Inkonsequenz: "Weshalb sie das Christentum, bei dieser Nichtidentifikation, sollte schützen wollen, sagt uns Overbeck aber höchstens ansatzweise" (ebenda). Hinzu kommt, daß er, wie einst Johann Salomo Semler, zwischen einem "esoterischen" und einem "exoterischen" Standpunkt des Klerikers unterscheidet, das heißt, dieser soll auf der Kanzel genau die von seiner Kirche geforderten Ansichten vertreten, und gleichzeitig als Wissenschaftler etwas völlig anderes für wahr halten. Diese Forderung nimmt er übrigens in der 2. Auflage der "Christlichkeit" 1903 zurück. Was bleibt, ist doch das Postulat einer Theologie, deren Hauptaufgabe es ist, das Christentum "problematisch" zu machen, in welchem Postulat auch die Einsicht zum Ausdruck kommt, daß man auch im modernen Europa irgendeine Stellung zum Christentum beziehen muß. Overbeck – im Unterschied – zu Nietzsche wird dabei das Christentum nie vom ethischen Standpunkt aus angreifen, ganz im Gegenteil, das Erbe der christlichen Moral (auch die Askese!) schätzt er sehr hoch; freilich sei das Christentum "eine viel zu erhabene Sache ..., als daß es in einer im Ganzen ihm entfremdeten Welt dem Einzelnen so leicht gestattet sein sollte, sich ohne Weiteres damit zu identifizieren". Es ist nämlich Theologie, die verpflichtet sei, eben als unbeugsam rechtschaffene Wissenschaft, die etwas mehr als Selbsttäuschung im Sinne hat, "an dem Christentum eine Art jüngsten Gerichts zu üben", und zwar nicht aus Haß gegen es, sondern weil "sie bei dem Auseinanderkommen der Welt und des Christentums, etwa als Vermittlerin zu guten Diensten berufen sei dazu, daß es dabei zu einer für das Christentum leidlichen Auseinandersetzung komme". Dieses Postulat hat, wie es scheint, als Programm für Theologie als Wissenschaft bis heute seine Gültigkeit bewahrt: "So ließe sich Theologie heute womöglich als eine Wissenschaft beschreiben", schrieb seinerzeit Friedrich Wilhelm Marquardt, Nachfolger Helmut Gollwitzers auf der Professur für Systematische Theologie an der Freien Universität Berlin, "die kompetenter, weil betroffener an der Aufhebung ihrer eigenen Voraussetzungen arbeitet, als dies jeder Kritik von außen her möglich wäre. Sie wäre darin aber wirklichkeitsgerecht und Beispiel für ein Wissenschaftsethos, das radikale Selbstinfragestellung methodisch zu betreiben wagt." Sommers Buch ist keine leichte Lektüre und dem Leser fällt es mitunter schwer, im Dickicht von Assoziationen, weiterführenden Hinweisen und unzähligen Anmerkungen, die sich nicht selten zu selbständigen – übrigens durchaus lesenswerten – Kleinessays auswachsen, einen geraden Weg (wieder)zufinden. Die Mühe lohnt sich doch, denn es gewährt einen neuen Einblick in jene seltsame Freundschaft und "Waffengenossenschaft" zweier großer Denker, von denen der eine weltberühmt geworden ist, der andere hingegen für Jahrzehnte als Freund eines Genies "in einer Fußnote der Philosophiegeschichte anscheinend einen endgültigen Platz gefunden" hat. Der Verfasser tut zwar nichts, um Nietzsche zu desavouieren oder von jenem hohen Sockel zu zerren, auf den ihn die Philosophiegeschichte gestellt hat, und enthält sich grundsätzlich konsequent eigener wertender Urteile (auch dort, wo man ihm für ein solches recht dankbar wäre). Auch hier muß sich der Leser "jeweils selber einen Reim machen". Was sich da aber zusammenreimt, hört sich nicht immer an wie ein Loblied auf Nietzsche und der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch die Sympathie des Verfassers eher auf der Seite des vorsichtigen und zurückhaltenden Overbeck liegt, den es "wenigstens für eine Weile aus jener philosophiehistorischen Fußnote zu befreien gilt" (S. 15). Denn es ist eben Overbeck, der sich als Denker konsequenter und letzten Endes auch mutiger als sein himmelstürmerischer und mit dem Hammer philosophierender Freund erweist, indem er im Unterschied zu Nietzsche bereit ist, "die letzten, vielleicht nihilistischen Konsequenzen aus einer nicht mehr metaphysisch untermauerten oder überbauten Historie zu ziehen" (S. 60). Seine Haltung ist die eines modernen Wissenschaftlers, der das Erbe der Aufklärung mit dessen ganzer Dialektik ernst nimmt und für den die wissenschaftliche Lauterkeit und Rechtschaffenheit das oberste Prinzip bleibt. Auch wenn man dann – was vom rein menschlichen Standpunkt aus schwer sein kann – auf manche palliative Wirkung der Geschichte (und der Metaphysik) verzichten muß. Diese Arbeit wurde veröffentlicht in der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1999. Die Email-Adresse des Autors, Doktorand am Institut für Religionswissenschaft der Jagiellonen-Universität Krakau, lautet: zatorski@jetta.if.uj.edu.pl Franz Overbeck im Alter |