Man muß nicht in allen Einzelheiten, insbesondere was die Bewertung des Christentums anlangt, den Standpunkt des Erlanger Historikers und Religionsphilosophen Prof. Dr. H. J. Schoeps teilen – jedenfalls trifft seine Nietzsche-Darstellung in weiten Teilen zu; das sympathetische Mitgehen mit dem sich dem Nihilismus aussetzenden Menschen wird ebensowenig geleugnet, wie andererseits die Irrtümer des Künders des Übermenschen herausgestellt werden. Der Text von Schoeps und seine Fragestellungen haben bis heute – denke ich – nichts von ihrer Aktualität verloren.

 

Hans Joachim Schoeps

Was ist der Mensch

Philosophische Anthropologie als Geistesgeschichte der neuesten Zeit

Musterschmidt-Verlag Göttingen 1960

(Kapitel IV, S. 97 ff.)

Friedrich Nietzsche oder das Ringen um eine neue Welt

"Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Tauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind etwas, das Eis und andere allzu dünne ‘Realitäten’ aufbricht."
Fröhliche Wissenschaft

"Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends Halt.
(Aus dem Gedicht: "Vereinsamt")

Wer will es Zufall nennen, daß Friedrich Nietzsche, der Künder des 20. Jahrhunderts, auch noch physisch dessen Anbruch erleben mußte, obwohl er schon elf Jahre vorher in das wohltätige Dunkel der geistigen Umnachtung eingegangen war. Als er am 25. August 1900 dieser Welt auch leiblich abstarb, ahnten schon hier und dort vereinzelte Geister, daß wir am Vorabend einer großen Wende stehen, daß die "Götzendämmerung" schon begonnen habe und "wie man mit dem Hammer philosophiert". Ein fernes unterirdisches Rollen bereitete den Feinhörigen schon auf die "Umwertung aller Werte" vor. Und die wenigen Freunde und Geistesverwandten, die Nietzsche bereits anders als ästhetisch zu lesen und seine Gedanken nachzudenken verstanden, sahen bereits die fernen neuen Ufer dämmern. Sie begriffen sein Leben als ein Ringen um eine neue Welt.

Noch einmal hatte Jacob Burckhardt in unnachahmlich aristokratischer Geisteshaltung die Götter der vergangenen Zeit beschworen und sie in seine Gegenwart hereingezogen. Noch einmal war die große Möglichkeit, zeitfern zu leben in einsamer Höhe, hell aufgeleuchtet. Aber der Aufstieg auf die hohen, schneebedeckten Firne war ein verzweifeltes Unterfangen geworden. Die Zahl der Bergsteiger ward immer kleiner. Die Eisdecke trug nicht mehr. Friedrich Nietzsche, der die Firne der vergangenen Gebirgswelt kannte, stieß – während das gebildete Bürgertum sich auf den Hügeln des Flachlandes noch vergnügte, schrille Kassandrarufe aus: Hütet euch, der Tauwind weht. Und wenige Jahrzehnte später gingen auch schon die ersten Lawinen donnernd zu Tal.

Das 19. Jahrhundert neigte seinem Ende zu, die alten christlichen Glaubensbestände waren aufgeweicht und hier und dort schon preisgegeben worden, aber noch wagte niemand, sich den neuen Zustand einzugestehen. Noch besaßen die alten Nomina, so inhaltslos sie auch geworden waren, ihre alte Magie und den Schutz der konventionellen Gewöhnung. So ist es Nietzsches revolutionäre Tat geworden, den Schein zu zerstören, die Masken herunterzureißen und die Wirklichkeit bei Namen zu nennen: "Das größte neuere Ereignis – daß ‘Gott tot ist’, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für das Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsere alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, ‘älter’ scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fein, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als daß auch seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: z. B. unsere ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik im Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?" (Gesammelte Werke, Großoktav-Ausgabe bei Kröner, V, 271, Die fröhliche Wissenschaft.)

Aber diese Frage war doch nur eine rhetorische gewesen. Der Frager war es gerade selber, der zum Propheten wurde, der aus Redlichkeit die Sonnenfinsternis bejahte und so zu einem der gefährlichsten Angreifer der Christenheit wurde. Von dieser Sendung war Nietzsche durchdrungen in einer so gewaltigen Selbstüberhebung, daß sie in "Ecce homo" (Warum ich ein Schicksal bin!) nahe die Grenze der Selbstauflösung streifte. "Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen –, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" (XV, 116). Und man kann ihm attestieren, daß er, der die alten Werte umzuwerten unternahm – aus "Weltanschauung", neuer Anschauung der Welt –, wirklich der alten Werte- und Ordnungswelt Dynamit gelegt hat, wie es in der Vorrede des Nachlaßtorsos "Der Wille zur Macht" heißt: "Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe los. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: Die Heraufkunft des Nihilismus" (XV, 137). Infolge seiner neuen Schau war Nietzsche bewußt Nihilist, "der erste vollkommene Nihilist Europas" (ebd.), wie er von sich selber sagte. – Der Terminus "Nihilismus", der durch F. H. Jacobi 1799 in die Philosophensprache eingeführt worden war, ist Nietzsche wohl aus Turgenjews Roman "Väter und Söhne" (1862) nahegekommen, dessen sozialrevolutionärer Held Basarow als "Nihilist" bezeichnet wird.

"Daß ich von Grund auf Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit kurzem eingestanden. Die Energie, der Radikalismus, mit dem ich als Nihilist vorwärts ging, täuschte mich über diese Grundtatsache. Wenn man einem Ziel entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß ‘die Ziellosigkeit an sich’ unser Glaubensgrundsatz ist" (XV, 158). Gewiß war es ihm nicht um "Ziellosigkeit an sich" zu tun, wohl aber um intellektuelle Redlichkeit, auch auf die Gefahr hin, daß er zu einem so genannten Zustand führt. Und diesen Zustand des 19. Jahrhunderts – mit Recht Nihilismus genannt – deckte seine Analyse dann auch auf, unabhängig von dem eigenen Willen eben als Zustand: "Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‘Warum’ (XV, 145). Diese Aussage über einen objektiven Zustand nimmt nur voraus, was über kurz oder lang bewußt werden, also auch als psychologischer Zustand eintreten muß: "Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, wenn wir einen ‘Sinn’ in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert" (XV, 148). Nun geht aber Nietzsche noch einen Schritt weiter, der über die historische Analysis hinausführt in eine neue negative Metaphysik hinein, oder – wie er glaubt – in eine Entlarvung aller Metaphysik. Nietzsche kündigt den bis dahin geglaubten obersten Werten und Allgemeinbegriffen, den Universalien, den Gehorsam auf, indem er ihr reales Vorhandensein leugnet und sie als psychologische Hilfsmittel des Menschen zur Steigerung seiner eigenen Bedeutung erklärt: "Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischem Bedürfnis die Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten", aber "erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will" (XV, 150 f.).– Und was ist nun damit erreicht? "Die ‘Kategorien’, ‘Zweck’, ‘Einheit’, ‘Sein’, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus" (ebd.). Aber – sagt Nietzsche – die Entwertung dieser Kategorien, der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All, ist kein Grund, nunmehr auch das All zu entwerten, "Der Glaube an die Vernunftkategorien ist die Ursache des Nihilismus –, wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen" (XV, 151). Das aber erzwingt das Schlußresultat, daß alle bisherigen Werte Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschaftsgebilde gewesen sind und nur fälschlich in das Wesen der Dinge projiziert werden.

Diese nihilistische Deduktion hat aber ungeheuerliche Folgen. Wer sich ihr anschließt, gelangt unweigerlich zur Negation und zur Fiktionierung aller bisherigen gültigen Werte und Moralen. Die ganze europäische Welt – nicht nur die christliche Kultur, sondern auch die spätbürgerliche Gesellschaft, läßt sich von hier aus in Asche legen. Und Nietzsche versuchte es, indem er die Zündschnur an das Gebäude der christlich-europäischen Ordnung legte und das Vorhandensein der Wahrheit leugnete, ohne die es keine allgemein geltenden Normen und Urteile geben kann: daß es keine Wahrheit gibt, daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein Ding an sich gibt" (XV, 152). Von hier aus hat Nietzsche in seinen Werken "Zur Genealogie der Moral", "Der Wille zur Macht", "Die fröhliche Wissenschaft", "Morgenröte", "Götzendämmerung" und "Der Antichrist" eine Kritik der europäischen Moralen, des Christentums und der bislang gültigen Wertordnung durchgeführt, die ebenso umfassend wie grausig ist. Denn "nunmehr würde es nichts Unsittliches mehr geben, alles würde erlaubt sein, auch die Menschenfresserei" – wie es Dostojewski für den östlichen Nihilismus ausgedrückt hat oder wie es Nietzsche in Wille zur Macht" (XVI, 93) formuliert: "Nun haben wir die Moral vernichtet .... wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden." Uns kann hier diese oft sehr ins einzelne gehende Kritik nur insoweit angehen, als sich in ihr bereits die neue Spezies Mensch ausspricht, als deren Sendboten und Vorläufer wir Friedrich Nietzsche hier zu nehmen haben, der als ein Vorweggenommener seinen Zeitgenossen zugerufen hatte: "Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben" (X, 409). Aber auch die persönlichen Gründe in der Fehlvisierung der angegriffenen Werte müssen gestreift werden, damit deutlich werde, wie weit Nietzsche wirklich Künder der Zeitenwende, legitimer Sprecher eines Neuen gewesen und bis zu welchem Grenzstein der neuen Markung der Prophet des Übergangs gekommen ist.

Es ist deutlich geworden: Auf die gleiche vorgegebene Situation haben Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche diametral verschiedene Antworten gegeben, die beide zu ihrer Zeit gleicherweise möglich waren. Burckhardt, im wesentlichen rückwärts gewandt, setzte seine Kraft darein, ein Maximum der alten Güter in die neue Zeit hinüberzuretten, während Nietzsche nach vorn gewendet die große Aufgabe sah, die morsch gewordenen alten Werte und Objekte radikal zu zerschlagen, um unter dem Schutt des Alten den innersten Lebensantrieb wieder freizubekommen für die neue Spezies Mensch; für jene neue Partei des Lebens", die dionysisch gestimmt über Person, Alltag, Gesellschaft, über den Abgrund des Vergehens hinausgreift, indem sie verzückt ja sagt "zum Gesamtcharakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, gleich-Mächtigen, gleich-Seligen" (Wille zur Macht, XVI, 387).

Die "ewige Wiederkehr" ist ein Schlüsselwort Nietzsches für die unendliche Tiefe und Mächtigkeit des Seins, das den Augenblick erfüllen und verewigen soll: die feierliche Stunde des Mittags, in der die Zeit ohne Ziel ist. Im Zarathustra heißt es: "Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit" (VI, 470). Dieses rauschhafte Lebensgefühl eines Menschen, der die Welt als ewige Lebenskraft erfährt und bejaht, hat Nietzsche nun auf den Namen eines griechischen Gottes getauft, an den Zarathustra seine trunkenen Lieder richtet: "Mein fürsprechender Instinkt des Lebens", erzählt Nietzsche in der "Geburt der Tragödie", "erfand sich eine grundsätzliche Gegenliebe und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüßte den rechten Namen des Antichrist? – auf den eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische" (I, 10). Das bedeutet also, daß Dionysos, diese für Nietzsche entscheidend wichtige Symbolgestalt, ein Pseudonym des Antichrist darstellt.

In der Hoffnung, das "große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen" zu finden, mußte Nietzsche zunächst einmal einreißen und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln psychologischer Kritik und Analyse ein nihilistisches Zerstörungswerk vollbringen. Er wußte wohl, daß dies nicht das Eigentliche sein könne, daß "der Nihilismus einen pathologischen Zwischenzustand" darstelle (XV, 152). Aber er hatte dafür auch den Glauben an die neuen Ufer, den festen Willen dorthin zu einer neuen "Vernunft des Lebens" zu gelangen. Und wenn er auch die neuen Ufer nur schauen durfte, so heben ihn doch schon die Umrisse der neuen Schau hoch über den Rang eines Verkünders des bloßen Nihilismus hinaus. Denn das Ethos seines Nihilismus war ja gerade: "das Zugrunde-gehen so (zu) leiten, daß es den Stärksten eine neue Existenzform ermöglicht" (XII, 368). Wohlgemerkt den Stärksten – und nicht jedermann. "Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen; erster Satz unserer Menschenliebe: Und man soll ihnen noch dazu helfen" (VIII, 218). Im Namen der Starken, im Namen der ekstatischen Jünger des Gottes Dionysos protestierte Nietzsche mit seiner Wendung gegen die ‘Jenseitskorruption’, die das wahre und wirkliche Leben zum Erlöschen bringt, gegen die kleinbürgerliche Bemessung des Menschen, gegen "diese kleine friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Kraftanhäufungen kennt" (XV, 326).

Die große geistige Kluft zwischen Friedrich Nietzsche und seinem Lehrer Jacob Burckhardt wird am sichtbarsten in beider Einstellung zu geschichtlicher Größe und speziell zum Phänomen des "großen Mannes". Typisch sind beider Wertungen von Rom und Hellas. Während Burckhardt nicht ruhig hätte sterben können, ohne sein großes Kolleg über die Kultur der Griechen absolviert zu haben, hielt er sich von der römischen Geschichte fern, die er als ihm "einigermaßen fremd, fast antipathisch" bezeichnet hat, weil die "mit den entsetzlichsten Mitteln" durchgeführte Welteroberung für die Völker so "unendliche Leiden" bedeutet habe (VII, 195). Er beklagt den römischen "Egoismus" der "Gewalt und Herrschsucht" und spricht abschließend kühl von dem "pflichtgemäßen Respekt", den man dem römischen Reiche schulde (VII, 247). Ganz anders hat Nietzsche geurteilt: Für ihn waren die Römer "die Starken und Vornehmen", die römischen Werte die "aristokratischen Werte" (VII, 335), während die Griechen der "imperatorischen Wirkung", des "großen Stils, der befiehlt" ermangeln. Diese Wertung hängt mit seiner grundsätzlichen Parteinahme für den "Cäsarismus" zusammen, d. h. seiner Verherrlichung des kriegerischen Machtmenschen. Nietzsche bejaht den "Barbaren in uns", auch das "wilde Tier", spricht von der großartigen "Barbarei der Gewaltmenschen", die sich über die Massenmenschen hinwegsetzen. "Die Dressierbarkeit des Menschen ist in diesem demokratischen Europa sehr groß geworden, Menschen, welche leicht lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das "Herdentier", sogar höchst intelligent, ist präpariert. "Wer befehlen kann, findet die, die gehorchen müssen" (XV, 234). Nietzsche hat schlimme Dinge gesagt, besonders im "Willen zur Macht", die, wie wir heute wissen, viel Unheil angerichtet haben. Da finden sich Äußerungen wie diese, daß "die militärische Entwicklung Europas nur "Freude" erregen könne (XV, 234); der Lobpreis der "allgemeinen Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß aufhört" (XV, 233), verbindet sich bizarr mit seiner Erwartung einer "Vermännlichung Europas" (V, 313). Auch seine zivilen Zukunftsvisionen waren ganz militaristisch: "Arbeiter sollten wie Soldaten empfinden lernen" (XVI, 197); zu ihrer Ehre wird, daß sie großen Prinzipien gehorchen dürfen. Dieses Bild einer militärisch geleiteten technischen Zivilisation hat dann bekanntlich an Oswald Spengler und Ernst Jünger intelligente Schüler gefunden.

Bezeichnend ist auch, wie Nietzsche Napoleon I. bewertet hat, für den Burckhardt nur Abscheu empfand. Für Nietzsche war das Erscheinen Napoleons das "Hauptereignis des letzten Jahrtausends" (XIV, 141). Napoleon gehöre in die Reihe der "genialen Machtmenschen", wie Cäsar, der Staufer Friedrich II. oder Friedrich der Große, die die Gegenbilder zu den Pöbelbewegungen des alten Judäa, der lutherischen Reformation und der Französischen Revolution darstellen. In bezug auf ihre geschichtliche Erscheinung stellt er fest: "Alle großen Werke und Taten waren große Unmoralitäten ... Die Unbedenklichkeit und Unmoralität ... gehört zur Größe (XV, 415), Im Fall Napoleon spricht er geradezu von einer "Synthesis von Unmensch und Übermensch’’ (VII, 337).

Was seinen eigenen Zeitgenossen Bismarck betrifft, so schätzte Nietzsche an ihm seine "rücksichtslose Außenpolitik", die ihm imponiere; er gehöre zu der "starken Art, welche befehlen kann". Andererseits erregen die konservativen Elemente bei Bismarck, sein "braver Grund von Royalismus und Christentum" seine Ironie (XIII, 350 f.). Im Unterschied zu Napoleon fehle Bismarck aber der große Gedanke; seine Reichsschöpfung entstamme einem kulturwidrigen Nationalismus. Bismarck gelte zwar diesem "Zeitalter der Massen" als groß, aber die liegen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, auf dem Bauch. Im übrigen hat ihn noch im Wahn die "Abschaffung von Bismarck und dem jungen Kaiser Wilhelm" als Wunschvorstellung verfolgt.

Aber grundsätzlich muß gesagt werden, daß man Nietzsches oft ebenso hellsichtige wie bizarre Urteile nicht politisch werten darf, denn bei aller Machtanbetung hat er zu den politischen Phänomenen kein wirkliches Verhältnis gehabt. "Ich bin der letzte antipolitische Deutsche" (XV, 13). Alles Werdende hat er begrüßt; wenn es geworden war, hat er sich abgewandt. Selber wollte er ja auch metapolitisch sein. Außerdem brechen immer wieder seine antideutschen Affekte durch, etwa wenn er die Befreiungskriege von 1813/14 zu den "großen Kulturverbrechen" zählt, die er den Deutschen nicht verzeihen könne, weil sie das geniale napoleonische Werk ganz sinnlos zerstört hätten. Für das eigentliche Ethos der Erhebungszeit hatte er gar keinen Sinn. Und so sind auch seine Urteile im Falle Napoleon ganz un-, ja antipolitisch. Er optierte für die Franzosen, weil sie wahre Psychologen und Artisten seien. Die Vaterländerei der Deutschen gehe ihm auf die Nerven. Selber nannte er sich "ein Zufall unter Deutschen", ein "bloßes Mißverständnis" und verbat es sich, mit dem deutschen Geiste in eins gerechnet zu werden" (VIII, 195 f.). Und über die neudeutsche Offizierspolitik hat er Worte gebraucht, als ob er Hitler vorausgesehen hätte: "Die öffentlichen deutschen Kundgebungen, die auch ins Ausland dringen, sind von eben jenem neuen Klange einer geschmackwidrigen Anmaßung. Fast in jeder Rede des ersten deutschen Staatsmannes ist ein Akzent, den das Ohr des Ausländers mit Widerwillen zurückweist. Aber die Deutschen ertragen ihn, sie ertragen sich selber" (V, 140). Und weiter: "Ich halte diese Rasse nicht aus, die keine Finger für nuances hat, ... die keinen esprit ... hat, ... keinen Takt, keine délicatesse. Die Deutschen haben ... bloß Tatzen" (Ecce homo – XV, 114), Diese bösen Urteile sind beliebig zu vermehren, es sind freilich unverpflichtete und ressentimentgeladene Urteile. Aber ausgerechnet Nietzsche als Kronzeugen für deutschen Nationalismus auszugeben, wie Alfred Bäumler u. a. es getan haben, ist ein schlechter Witz.

Wenn Nietzsche überhaupt politisch ernst zu nehmende Prognosen gab, dann sind sie erstaunlicherweise zugunsten der Russen ausgefallen. Bei ihnen sah schon Burckhardt wegen der "unbedingten Drillbarkeit" des russischen Volkes einen "Fond von gesunder Barbarei", eine "Fülle elementarer Kräfte" (VII, 416). Aber Burckhardt sah darin eine gefährliche Bedrohung für Europa. Nietzsche stellt das russische Reich in eine vielsagende Parallele mit dem Imperium Romanum. In seinem Nachlaß findet sich der Satz: "Ich sehe mehr Hang zur Größe in den Gefühlen der russischen Nihilisten als in denen der englischen Utilitarier." Im Osten sieht er gerade wegen der "Nähe der Barbarei" Zukunft wachsen. Rußland sei "die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann" (VIII, 151). Er fordert geradezu "ein unbedingtes Zusammengehen mit Rußland mit einem neuen gemeinsamen Programm ... Keine amerikanische Zukunft!" (XIII, 353).Möglicherweise wirken hier Urteile Bruno Bauers bei ihm nach.

Aber verlassen wir nunmehr Nietzsches Apercus über geschichtliche Erscheinungen und Entwicklungen und kehren wir zu dem Grundsätzlichen in seiner Zeitkritik zurück, wie es sich ihm aus seiner antichristlichen Position ergibt: Der entscheidende Einwand, den Nietzsche gegen seine Mitwelt formuliert, ist der der Dekadenz. Sie spricht aus allen Gestaltungen und Schöpfungen der bisherigen Spezies Mensch und insbesondere aus den obersten und vermeintlich vornehmsten. "Die obersten Werturteile sind seit langem die Werturteile Erschöpfter"; daher herrscht "eine Gesamtdekadenz des Werturteils, eine Gesamtabirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten" (XV, 167). Dekadenz – Ausdruck der Tatsache, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt – war für Nietzsche nicht eine bekämpfbare Haltung, "nichts, was man in der Hand hätte abzuschaffen", sondern "eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachstums am Leben" (ebd.). Das ganze Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts steht seinem biologischen Alter nach unter ihrem Zeichen, seine Normen und Moralen verraten Verfalllsinstinkte. "Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschaftsideale: sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter, überlebter Rassen ähnlich" (XV, 179). Ihre biologische Untauglichkeit, ihr das Leben nicht steigernder, sondern verflachender Effekt spricht gegen sie. Das Christentum enthüllt sich ihm hier – wie es in der "Genealogie der Moral" heißt als "Ressentimentbewegung", als "der große Aufstand gegen die Herrschaft vornehmer Werte". Das christliche Empfinden wird gewertet als orientalischer Sklaveninstinkt, eingepflanzt in deutsche Seelen zur Verderbung der Art, das asketische Ideal des Priestertums wird ein Dekadenzideal des "Willens zum Ende" genannt, die Reformation ein "Bauernaufstand des Geistes gegen den letzten Römerbau", Luther ein "Rüpel, der einfach nicht wußte, was eine Kirche ist" (V, 358), der Protestantismus eine "unbegabte" Form der Religion, das Neue Testament ein "kleines" Buch, und die Religionen – insbesondere die christliche – werden als bisher wirksamste im Dienste eines negativen Ideals stehende Züchtungsversuche am Menschen gekennzeichnet. Das Christentum als eine typische "Dekadenzbewegung", die man an ihren Ergebnissen erkennen und entlarven kann, lehrt für Nietzsche die "Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten" (XV, 323). Während das Wohl der Gattung vom Gesichtspunkt starker Rassenzüchtung her den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten fordert, hat das Christentum "jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten, noch gesteigert. Was ist die ‘Tugend’ und ‘Menschenliebe’ im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massenegoismus der Schwachen, welcher errät, daß, ... , wenn alle füreinander sorgen – jeder einzelne am längsten erhalten bleibt. Wenn man eine solche Gesinnung nicht als extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte" (XV, 324). So wird ihm dann folgerichtig das Christentum zum ungeheuerlichsten Verbrechen am Gesetz der menschlichen Art, zum "Kapitalverbrechen am Leben", zu einer Demonstration der Tatsache, wie die Europäer durch eine jüdisch-orientalische Erfindung, durch die Übertragung asiatischer Moralbegriffe betrogen worden sind. "Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn – aber sie nahm in Anspruch, ihn ‘verbessert’ zu haben" (VIII, 103 f.). Und was bedeutet solche "Götzendämmerung" geschichtlich für uns: "Das Christentum ist für junge, frische Barbarenvölker Gift; in die Helden-, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen z. B. die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis hineinpflanzen, heißt nichts anderes, als sie vergiften" (Menschliches, Allzumenschliches III, 123). Darüber aber zur Klarheit gekommen sein heißt: "Alle Begriffe der Kirche sind erkannt, als das, was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es gibt, zum Zweck, die Naturwerte zu entwerten. Der Priester selbst ist erkannt als das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens" (Umwertung aller Werte, VIII, 264).

Der Nationalsozialismus konnte sich in dieser Hinsicht mit Fug auf Nietzsche, diesen ersten großen Antichristen, berufen. Die schrankenlose Anerkennung des Rechts des Stärkeren hat dann zu der "Verpflichtung" geführt, die Schwachen zwecks Förderung der biologischen Entwicklung an der Fortpflanzung zu hindern, ja sie sogar als Belastung für den Fortschritt zu töten. Alle Parolen, die später in Schwung kamen, sind bei Nietzsche angelegt und oft sogar erstmalig gleich so formuliert worden, daß sie kaum mehr übertroffen werden können: "Das Christentum aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: – es ... ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandalawerte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamtaufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen, gegen die ‘Rasse’, – die unsterbliche Tschandalarache als Religion der Liebe..." (Götzendämmerung, VIII, 106). Und dieser Protest dürfte in der Tat urdeutsch sein – mindestens aber eine urdeutsche Möglichkeit sein, der Nietzsche mit gutem Grunde Ausdruck gegeben hat, wenn er erklärt: "Es wäre immer noch möglich, daß die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europas würden: wozu in hohem Maße angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete" (Fröhliche Wissenschaft, V, 176).

Wir halten inne, weil wir fragen müssen: wie kann man das Christentum so genial mißverstehen? Wie kann man sich über die geschichtlichen Ereignisse – z. B. daß die Deutschen eben ein christliches Volk geworden sind – so radikal hinwegsetzen? Die Antwort läßt sich nicht finden aus einer Betrachtung der angegriffenen Sachverhalte, sondern allenfalls nur aus einer Betrachtung des angreifenden Betrachters. Vielleicht erklärt sich vieles, wenn man auf die Verwechslungen achtet, daß der dem pietistischen Bürgerglück entlaufene Pfarrersohn aus Röcken in Sachsen zeitlebens für den Geruch der pseudochristlichen Bürgerlichkeit sächsischer Kleinstädte das Phänomen des Christentums verantwortlich gemacht hat. ("Die Kleine-Leute-Moral als Maß der Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Kultur bisher aufzuweisen hat. Und diese Art Ideal als ‘Gott’ hängenbleibend über der Menschheit!!" – XV, 288.) Offenbar gerade wegen seines großartigen Subjektivismus hat er oft nicht die Objektivierungskraft aufbringen können, um jenseits persönlicher Eindrücke und Affekte das Phänomen überhaupt zu erkennen. Seine verzerrenden Verallgemeinerungen sind daran schuld, daß er sein Leben lang gegen ein Phantom ankämpfte, das er nicht überwinden konnte, weil er ihm nicht einmal gewachsen war.

Um die entscheidenden Momente der Perspektivenverzerrung in seiner antichristlichen Polemik namhaft zu machen, kurz nur dieses: Daß das Christentum als ein geistiges Ereignis gegen die bloßen Vitalwerte steht – wen sollte das wundern, wenn man einmal die Grenzenlosigkeit des menschlichen Trieblebens erfahren und das Opfer als eine notwendige Forderung eingesehen hat? Daß die Wahrheit dieser Welt immer an das Kreuz kommen muß, sagt doch nichts gegen die Wahrheit, sondern nur etwas über den Charakter dieser Welt, in der der Geist ohnmächtig, ohne Macht, und der höhere Wert immer der schwächere ist. Wenn man diesen faktischen Befund naiv bejaht und sein "es ist gut so" hinzufügt, richtet man eben einen Hexensabbat der Begriffe an und mißversteht in seiner Verwirrung auch das Christentum, das ja gerade die bloße – in sich blinde, sinn- und schrankenlose Trieb- und Vitalgewalt dieser Welt dämpfen will. Das sind Dinge, die man recht gut auch ohne Offenbarung noch einzusehen vermag – wenn man nur bereit ist, das Wesen dieser Welt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Aber Nietzsches Polemik gegen das Christentum ist so affektgeladen, daß er die Lagerung dieser Phänomene gar nicht richtig erkennen kann. Seine ersten Reizeindrücke einer ephemeren Entartung ließen ihn auch gleich den Stab brechen über ein Phänomen selber, wiewohl er möglicherweise mit seiner antichristlichen Polemik einem Primäraffekt der deutschen Seele Ausdruck gegeben hat, die – wie oft gesagt wird – seit Zeiten der gewaltsamen Unterwerfung Widukinds nur scheinchristlich, zwangsgetauft ist und vielleicht sogar Bruchstücke vorchristlicher Herrenmoral, wie sie Nietzsche lehrt, bis heutigen Tages im Unterbewußten behalten hat. Wichtig aber hier ist nur das eine, daß Nietzsche von seiner Geschichtstunde post Christum natum formuliert und ohne Zweifel geirrt hat, wenn er den Moralismus des säkularisierten Bürgertums für das christlich Eigentliche genommen und angegriffen hat, um es mit den Mitteln seiner genialen Psychologie durch Vergleichung mit anderen Moralen aufzulösen. Durchschaut und erledigt hat er mit seiner Kritik aber nicht das Christentum, sondern immer nur das christlich-pietistische Bürgertum Sachsens. Die diesem gegenüber gewiß angebrachten Maße hat Nietzsche – als ein Opfer seiner Privataffekte peinlicherweise auch auf die Vorgänge übertragen, die 1850 Jahre früher in Galiläa spielten – und so mußte er denn die ganze christliche Geschichte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ansehen.

Ganz anders sieht das aber alles aus, wenn Nietzsche einmal auf einen Christen trifft, den er als sich selber kongenial empfindet wie den großen Franzosen Blaise Pascal. Über Pascals Jesusbild findet er die erstaunlichen Worte: "Pascals Gespräch mit Jesus ist schöner als irgend etwas im Neuen Testament. Es ist die schwermütigste Holdseligkeit, die je zu Worte gekommen ist. An diesem Jesus ist seitdem nicht mehr fortgedichtet worden; deswegen ist nach Fort Royal das Christentum überall im Zerfall" (Unschuld des Werdens – Nachlaß, ed. Bäumler II, 322). Bekanntlich hat Nietzsche Christus in Gegensatz zu den Christen gestellt und den Satz niedergeschrieben: "Im Grunde gab es nur einen Christen und der starb am Kreuz" (VIII, 255). Ganz ähnlich wie Sören Kierkegaard empört sich auch Friedrich Nietzsche gegen die Inadäquatheit des urchristlich Gemeinten zum Leben der empirischen Christen. Beide ordnen sich damit, wie besonders Ernst Benz gezeigt hat, in eine spiritualistische Tradition der deutschen Geistesgeschichte ein. Nietzsche ist nun aber noch um vieles weiter als Sören Kierkegaard gegangen, der doch zumindest am urchristlich Gemeinten festhielt, während Nietzsche gerade dieses für eine "Verleumdung des Lebens", für "extreme Unmoral" gehalten und das Christentum eine "Metaphysik für Henker" genannt hat, gegen das er deshalb seine unerhörten Angriffe richtete.

Aber vielleicht ist etwas ganz anderes hier wichtig: Nicht das Recht oder das Unrecht dieses Angriffes, sondern die Tatsache, daß dieser Angriff überhaupt möglich werden konnte. Kündigt sich nicht vielleicht in all diesen grandiosen Mißverständnissen doch eine neue Spezies Mensch an, die die christlichen Grundwahrheiten und Symbole nicht mehr verstehen kann, weil sie die Erfahrungen nicht mehr macht, die die christliche Lebensansicht und die Annahme der Offenbarung vorbereiten? Ist nicht eine Selbstaussage Nietzsches für die neu heraufkommende Menschenart geradezu symptomatisch wie die, die sich im "Ecce homo" findet: "Eigentliche religiöse Schwierigkeiten z. B. kenne ich nicht aus Erfahrung. Es ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich sündhaft sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiß ist. ... Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: er versteht sich bei mir aus Instinkt" (XV, 26).

Wir haben keinen Grund, Nietzsche dieses Bekenntnis nicht zu glauben, denn er spricht hier nur aus, was heutigen Tages – also nach einigen Jahrzehnten – Allgemeinbewußtsein breiter Schichten geworden ist. Aber etwas hatte er diesen doch voraus, daß er noch darum wußte, daß Gott tot ist und die Menschen ihn getötet haben. Denn Nietzsche hat sich "Antichrist" genannt, d. h. er blieb dem christlichen Phänomen immer noch negativ verbunden. Sein antichristlicher Protest gegen den Gekreuzigten erfolgte von Dionysos her, d. h. von der Warte eines Heidentums ante Christum natum. Dionysos gegen den Gekreuzigten ausspielen heißt aber, das Spiel immer schon verloren haben; denn im späten Abendland ist ein vorchristliches Heidentum unmöglich geworden. Dionysos als Antichrist ist für den um Geschichte Wissenden kein wirklicher Gegensatz. Ja, Nietzsche selber konnte sich das nicht ganz verhehlen: "Auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausend alter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube " ... daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist ..." (Jenseits von Gut und Böse, VII, 470). Aber neues Heidentum, das wirklich mit der Tatsache des post Christum Ernst macht, indem es vom Christlichen einfach keine Notiz mehr nimmt, also das Wahrheitsproblem nicht mehr bekämpft, sondern es ausfallen läßt, ist schon eine ganz andere Sache. So ist die "blonde Bestie", jenes Bild der großen Gesundheit, das Nietzsche visionär erschaute, bereits kein Gegenspieler mehr, sondern Repräsentant einer neuen Menschenart, die es verlernt hat, überhaupt noch Sinnfragen zu stellen. Nietzsche hat vom Christentum noch viel zuviel Notiz genommen – um neuer Heide, Heide post Christum natum zu heißen –; er hat die Wahrheitsfrage wohl verdrängen, aber zeitlebens nicht überwinden können, weswegen ihn am Ende der Blitz aus den verleugneten Hinterwelten doch noch getroffen hat. Aber er war der erste, der die neue Lebensweise postulierte: ohne Sinn, dafür aber heroisch und stark zu existieren. Das aber forderte die Aufstellung neuer Wertetafeln, eben die Umwertung aller Werte.

Alle bisherigen europäischen Moralen gehen in irgendeinem Sinne noch zurück auf die zwei Gebotetafeln vom Sinai, an deren Spitze der oberste Offenbarungssatz steht, daß Gott ein Gott der Wahrheit ist, der in der Geschichte an seinen Erwählten wahrhaftig gehandelt hat. Seitdem gibt es im Abendland keine Moral und keine Lebensordnung, die nicht die Wahrheitsfrage kennt und geoffenbarte Wahrheit als obersten Wert anerkennt. Auch noch ein Goethe kam zu der Feststellung: "Neue Erfindungen können und werden geschehen; allein es kann nichts Neues gedacht werden, was auf den sittlichen Menschen Bezug hat." Daher mußte Nietzsches Tat eine Zerschlagung dieses obersten Wertes sein und notwendig zur Ausklammerung, Verdrängung und Ersetzung der Wahrheitsfrage führen, die er unter Leugnung eines objektiven Geltungswertes in die Sphäre der Triebe einbezog. Die in Nietzsches Werken zahlreich wiederkehrenden Diffamierungen der Wahrheitsfrage als transzendierend sind höchst verräterisch. Denn mit seinen apodiktischen Setzungen, wie "Wahrheiten sind die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen" (V, 265) oder "Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte" (XVI, 19), beweist er nur, wie wenig er persönlich der Wahrheitsfrage zu entgehen vermag, wie drängend sie hinter seinen Leugnungen fortbesteht. Aber wichtig für unseren Zusammenhang ist dennoch nicht die Verdrängung der Wahrheitsfrage aus seinem Leben, die deshalb nicht gelingen konnte, weil sich verdrängte Bewußtseinsinhalte immer rächen- und je gewaltiger sie sind, um so gefährlicher –, auch nicht die durch diese Ausklammerung erfolgende Verzerrung aller Sichten und Wertungen, sondern die symptomatische Bedeutung dessen, daß für die Wahrheit als obersten Wert das Leben selber tritt. An die Stelle der Geistigkeit tritt die "Naturgeschichte in der Moral", wie die Geschichte von ihm überhaupt in Naturgeschichte aufgelöst wird. Die neue Ranggesetzgebung als Biologisierung aller Werte heißt aber, diese am "Leitfaden des Leibes" (XVI, 125) auf den Bios selber einstellen, sie ebendort festmachen und nicht in einem transzendenten Wahrheitsbereich. Denn "die Wahrheit ist häßlich" (XVI, 108). Nicht ob ein Wert wahr ist, entscheidet mehr über seine Verwirklichung, sondern ob er gesund ist, ob er der Steigerung des Lebens dienen kann: so daß ich ihn will. Diese Umzentrierung des obersten Wertes, daß für das Gesetz der Wahrheit das Recht des Lebens tritt, entscheidet über den Gang der neuen Moral vom "du sollst" zum "ich will". Nicht mehr werden sittliche Entscheidungen getroffen im Sinne der alten Wertewelt, die auf Grund der Wahrheitsforderung danach gefragt hat, ob sie gut oder böse sind, sondern nunmehr heißt die Frage, ob sie gesund oder ungesund, stark oder schwach, vornehm oder gemein sind, d. h., ob die betreffende Gestalt des Lebens, die in einer solchen Entscheidung steht, zu ihrer Vollendung gelangt, ob sie die ihr innewohnende äußerste Möglichkeit richtig auslebt. "Wille zur Macht" ist die letzte Auskunft über das Dasein. "Wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel. Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!" (XVI, 402). Daraus folgt. "Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt" (XIII, 218). Kein Mitleid, keine Rücksicht auf mindere Naturen, keine Sklavenmoral – "die vornehme Seele hat Ehrfurcht nur vor sich" – hemmt mehr den Menschen, zu seiner Vollendung zu kommen, um "das Versöhnungsfest mit der Natur zu feiern" (Geburt der Tragödie, 1, 17) und somit "auf den Namen Dionysos getauft" (VIII, 164), "Herr der Erde und Nachfolger Gottes" zu werden. – Und mit zynischer Folgerichtigkeit nennt Nietzsche die Praktiken und Methoden, die für das Einschlagen dieses Höhenweges nötig sind: "Ganz anders (sc. als die Gottesfrage, ‘eine Undelikatesse gegen uns Denker’) interessiert mich eine Frage, an der mehr das ‘Heil der Menschheit’ hängt als an irgendeiner Theologenkuriosität: die Frage der Ernährung. Man kann sie sich zum Handgebrauch so formulieren: Wie hast gerade Du Dich zu ernähren, um zu Deinem Maximum an Kraft, an virtù im Renaissancestil, von moralinfreier Tugend zu kommen" (XV, 27).

Es ist nicht zufällig, daß diese Umzentrierung der Wertewelt aus dem Logos in den Bios auch zur Aufrollung der Ernährungsfrage führt. So wenig zufällig wie die Preisung der physisch starken Männer, der Hymnus auf die "große Gesundheit" und das Loblied auf die "blonde Bestie", dieses "prachtvoll nach Beute und Sieg lüstern schweifende Raubtier" (VII, 322) als das oberste Züchtungsprodukt der in der "Umwertung aller Werte" eingetretenen Weltgeschichte. Denn "wir haben umgelernt. – Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‘Geist’, von der ‘Gottheit’ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier ..." (VIII, 229). Setzt sich dieser neue Typus durch, dessen "Wille zur Macht" nicht mehr belastet ist durch Skrupel und mitleidsvolle Verantwortung, der aus amor fati sein Schicksal erfüllt (XVI, 211), dann zerbricht die Weltgeschichte in zwei Stücke. Die Tatsachen scheren Nietzsche nicht; die Macht des Willens im Menschen der Zukunft überwindet das Christentum sowohl wie den aus seiner Schuttabräumung heute entstandenen Nihilismus. "Dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen" (VII, 396).

Aber er selber ist es nicht gewesen, für sein Leben hat er weder Gott noch das Nichts zu besiegen vermocht. Keine "blonde Bestie", kein "sieghafter Tänzer", kein Urbild der "großen Gesundheit" bietet sich unserem Auge dar, wenn wir es auf das Leben des beurlaubten Basler Professors Nietzsche richten, sondern ein schwächlicher, magenkranker, an den Nerven leidender Mensch mit einem durch Schlafmittel vollkommen zerrütteten Organismus. – Wir weisen auf diesen Kontrast seiner persönlichen Lebensumstände zu den von ihm aufgestellten Postulaten nicht mutwillig hin. Diese Postulate und Visionen behalten darum doch ihre Zukunftskraft, auch wenn der, der sie aufstellte, sie nicht auszuhalten vermochte und an ihnen zugrunde ging. Aber über sein Scheitern erklärt sich vieles, wenn man seine Lehre in bezug auf das persönliche Leben als vollständige Kontrastideologie wertet. "Es soll also keinen Mißverständnissen ausgesetzt sein, wenn das prinzipielle Auseinanderfallen von Sein und Sehnsucht in Nietzsche durch einige hergebrachte, etwas triviale Gegenüberstellungen in folgendem verdeutlicht wird:

Der schonungslose Bekämpfer jeder absolut geltenden Moral, insonderheit aller Mitleidsmoral, ist ein Mensch der peinlichst korrekten, praktischen Moral von überempfindlicher Rücksicht und Mitleidigkeit in jeder konkreten Lebenssituation.

Der Vertreter eines Kriegerethos, das "sein Paradies unter dem Schatten der Schwerter" findet, ist ein fast stets bis an die Grenze des biologisch noch Möglichen Kranker, der, von Kriegerexistenz zu schweigen, auch nicht das Leben eines Krankenpflegers länger als wenige Wochen erträgt.

Der Entdecker und Verkünder des Wertes ungebrochenen, rauschhaften dionysischen Lebens ist ein Mann, der jedem wirklichen Erlebnis in dem repräsentativsten, geladensten, paradoxesten Lebensbereich: dem des geschlechtlichen Eros, aus dem Wege ging" (Harald Landry: Friedrich Nietzsche, Berlin 1931).

Diese Zwiegespaltenheit in der Person erklärt vieles – auch über die Kraßheit seiner Urteile und Wertungen. Seine frappanten Affektentladungen gegen das Christentum sind sonst überhaupt nicht zu verstehen. Ebensowenig seine häufigen Wutausbrüche gegen alles Deutsche, dem gegenüber er Franzosen, Juden (eine Wohltat unter Deutschen" – XV, 176) oder Europäer preist. Hier zur Erklärung nur so viel, daß Nietzsche, der ein "guter Europäer" sein wollte, es nicht sein konnte, weil er zu viele deutsche Eigenschaften hatte. Litt er doch an der deutschen Innerlichkeit, die gerade seiner Machtsehnsucht im Wege stand, an der deutschen Moralität und Redlichkeit, die ihn hinderte, amoralisch zu werden. Hinzu kommen wieder die Verwechslungen von Urbild und Karikatur, daß er die Kleinbürgerlichkeit und den Biergeschmack der deutschen Provinz für das ewig Deutsche hielt. Nur von diesen Verwechslungen aus versteht man seine affektierten und völlig unzutreffenden Selbstaussagen. – Aber auch sein Deutschenhaß ist wie so vieles bei Nietzsche auf verdrängte Liebe zurückzuführen.

Alle diese Kontraste mußten deshalb bei Namen genannt werden, weil an ihnen Nietzsches persönliches Mißverhältnis zur Realität aufbricht: Er lebte ein durch und durch unwirkliches Leben. Entscheidende Wirklichkeitsansätze wie Eros, Freundschaft, Ehe waren ihm mißglückt. Und aus diesem privaten Scheitern erwuchs erst sein "Wille zur Macht". Aber die Realität der Macht war für Nietzsche doch nur ein Wunsch geblieben und nicht zur Erfahrung geworden. Immerhin vermochte ihm dieses Leid der eigenen Unwirklichkeit den entlarvenden Blick zu verleihen, mit dem er die Hohlheit und Brüchigkeit der alten bürgerlichen Welt als einer der ersten radikal enthüllt: daß die Zeit durch und durch dekadent ist (Wagner als klassisches Musterbeispiel), daß in ihr kein Mensch eigentlich Wirklichkeit hat, sondern alle in und von Fiktionen leben. Nur ein Entwurzelter kann die Entwurzelung sichtbar machen, nur ein Nihilist den Nihilismus. Und so stimmt denn das meiste auch, was er mit meisterlicher Psychologie in seiner Zeitkritik aufgewiesen hat. Der abendländische Nihilismus ist ein objektiver Tatbestand, und Friedrich Nietzsche hat als einer der ersten mit seiner Enthüllung begonnen, d. h. er hat unbarmherzig von nackten Tatsachen geredet. Hierin liegt seine Größe, letztlich also darin, daß er selber Nihilist gewesen ist, wie dies auch Schlechta als einer der besten Textkenner ansieht. Aber die Positivitäten, die er jenseits des Abgrundes als Fanale aufpflanzte, sind für sein Leben wenigstens doch nur Wunschbilder geblieben. Wohl zeigen sie, wie Spätere beweisen, Pfade in die Zukunft; aber die Zukunft sieht doch sehr anders aus. Zarathustra hat keine Wirklichkeit und wird sie auch nie haben. Die Konzeption des "Übermenschen" ist wirklich nur eine berauschende Dichtung. Wer um den transzendenten Gott weiß, ihn aber nicht ertragen kann ("Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein? Also gibt es keine Götter"), muß einen transzendenten Menschen (den Übermenschen) denken – aber als Möglichkeit dieser Welt. Und eine ebensolche Dichtung scheint uns auch (trotz Löwiths eindrucksvollem Buch) die für Nietzsche so entscheidend wichtige Lehre von der "ewigen Wiederkunft" zu sein – eine im Grunde nicht zu Ende gedachte Geheimlehre, in deren Gedankenverknäulung wir die Rache für das Beiseiteschieben der Wahrheitsfrage erkennen, die eben trotz allem unentrinnbar bleibt. Und Nietzsche ist ihr, wie bekannt, nicht entronnen. Er, der "Experimentalphilosophie" trieb, um "zu erproben, wie weit sich der Mensch erleben könne" – "wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt sein Geist? –" (XVI, 383) – d. h. der die Wahrheit der Lehre von der Beweiskraft des Lebens abhängig machte, ist vor der Ungeheuerlichkeit lebendiger Realisierung zerbrochen. "Ist nicht die Größe dieser Tat (sc. die Tötung Gottes) zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?" (V, 564).

In den ersten Tagen des Jahres 1889 erfolgte darum der geistige Zusammenbruch Friedrich Nietzsches, seine Flucht in den Wahn, daß die Realität "als Hemmnis zwischen Wunsch und Erfüllung, Ohnmacht und Allmacht" aufgehoben sei. Dieser Realitätsverlust, der sich im Wahnzustand nunmehr einstellt, läßt ihn die für sein Tagdenken unabweislich gewordene Forderung der Nachfolge Gottes und Herrschaft über die Welt nunmehr ganz persönlich antreten. Und so schreibt er denn von Turin aus Briefe und Zettel in die Welt hinaus, auf denen er die gekrönten Häupter zu einem Fürstenkongreß nach Rom einladet. So heißt es in den an Overbeck gerichteten Zettelbriefen aus diesen Tagen: "Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser samt Zubehör in den Händen habe." "Ich will den jungen Kaiser füsilieren lassen." "Eben lasse ich alle Antisemiten erschießen." "Nietzsche Cäsar." Und im letzten Brief an Jacob Burckhardt unterschreibt er "Dionysos, der Gekreuzigte".

Mit diesem Ausklang der Tragödie, daß der Bogen zerspringt, mit der Flucht in den Wahnsinn, in die heilige Nacht der letzten elf Jahre des Bios ohne Logosspuren vollzieht sich das von Nietzsche in einem Nachlaßstück aus der Umwertungszeit postulierte innerste Schicksal des neuen Menschen: ein "Seil über einem Abgrund", ein "Übergang zu sein und ein Untergang (XIII, 11). Der Blitz aus den verleugneten "Hinterwelten" war eingeschlagen. Die Frage, die die "Morgenröte" beendet, ob es etwa auch sein Los sein sollte, "an der Unendlichkeit zu scheitern" (IV, 372) hat ihre Beantwortung gefunden.

Offen aber bleibt die Frage, was dieses Schicksal für uns zu bedeuten hat. Mit der Feststellung, daß Nietzsche eben nur "ein verrückt gewordener deutsch-polnischer Professor" (Chesterton) gewesen sei, ist über die Gültigkeit dieses Lebens nichts ausgesagt. Die Möglichkeit des Wahnsinnigwerdens besagt nichts gegen diese Existenz. Die Gleichgültigkeit dieses Einwandes hatte schon der geistesklare Nietzsche abgelehnt ("Alles Übermenschliche erscheint am Menschen als Krankheit und Wahnsinn", XII, 361). Nietzsche, der Künder, wußte ja gerade, daß auch seine Lebensqual eine Kunde ist. "Die Wahrheit über mich redet aus einer schauervollen Tiefe- (XV, 67). Aber anderseits hatte noch der gesunde Nietzsche festgestellt: "Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn ... das Genie ... sich für etwas Übermenschliches zu halten beginnt" (11, 164). Und in einem Brief vom November 1885 an das Ehepaar von Seydlitz hatte es gar geheißen: "Und wenn ein Philosoph krank ist, so ist es beinahe schon ein argumentum gegen seine Philosophie." Gleichwohl bleibt es das unvergängliche Verdienst Nietzsches, als erster schonungslos den geistigen Zustand des 20. Jahrhunderts aufgedeckt und – wenngleich in maßloser Übersteigerung – neue Lebensformen verkündet zu haben. Nietzsches furchtbare Einsichten sind nicht zu überwinden – am allerwenigsten durch vorschnelle Berufungen auf die Wahrheit und den Gott der Offenbarung. Der Nihilismus, die Verzweiflung der Sinnleere, ist ein Tatbestand, der durch Vokabeln keinesfalls überwunden wird, sondern nur durch die Wirksamkeit von Mächten, wenn sie wirkliche Gewalt über den Menschen haben – oder wieder erlangen sollten.

Nietzsches Thema: Der Nihilismus – bleibt gestellt. Seine Antwort war persönlich zu belastet, als daß sie dieses Leben tragen konnte. Wenn man im tiefsten Kämmerlein seines Herzens um die Gewalt Gottes, um seine Liebe und um seinen Zorn noch weiß, dann ist die eigene Glaubensleere nicht dadurch zu überwinden, daß man Gott, Schöpfungswelt und geoffenbarte Wertetafeln leugnet, als Einbildungen erklärt, die durch den Willen aufzuheben oder gar kraft eigener Gegengotterklärung neu zu setzen sind. Diese Spannung war nicht auszuhalten; indem der Bogen zersprang, wurde die Grenze menschlicher Willenskraft demonstriert, daß die vermeintliche Macht des Willens zum Zusammenbruch führen muß, weil es für den Gotteslästerer furchtbar ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Nietzsches Übermenschenlehre erfüllte – wir sagten es eben – den Tatbestand der Gotteslästerung. Was wäre aber dann, wenn Gott nicht mehr gelästert werden kann, weil er nicht mehr gewußt wird, weil wirklich der neue Mensch – den Nietzsche erdichtete, aber der er selber nicht sein konnte – auf den Plan der Weltgeschichte tritt, der eigentliche Sinn- und Wahrheitsfragen nicht mehr stellt, sondern statt gut stark, statt leidend siegreich das Leben nimmt, zu seinen Abgründen und Gefahren verzückt ja sagt, weil er das Leben um des Lebens willen liebt. Was wäre dann? – Das Thema des Nihilismus bliebe objektiv zwar noch gestellt; aber kein Mensch nähme mehr Notiz davon, weil jeder so gesund geworden ist, daß er alle Abgründe und Gefahren dieses Lebens, an denen das Sinnproblem bisher aufgeleuchtet war, wie Krankheit, Leiden, Katastrophe, Krieg und Tod nur als Steigerungen des Lebenstriebes und als Bestätigungen seiner Kraft hinnehme als "Probe darauf, wieviel Schmerz ein Mensch aushalten kann" (Ernst Jünger). Dann wäre Dionysos doch wiedergekehrt – ein Erdgott freilich in ganz neuer Gestalt, und der auferstandene Heidengott, der Gott des Vitaltriebes, siegte am Ende doch noch über den Gekreuzigten. Wenn dem so sein sollte, dann triumphierte Nietzsche, der als Opfer seiner neuen Schau an der Schwelle des 20. Jahrhunderts fiel, doch noch posthum: "Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren." Gewiß, der alte Gott ist tot; aber bedeutet das nicht gerade die neue Morgenröte? Und so braust denn der Befreiungsjubel auf: "Endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so offenes Meer" (VII, 212). Das aber ist das neue dionysische Gefühl, das wenige Jahre später im Wandervogel eine neue Gestalt des jungen Deutschen prägen sollte.

Aber nicht nur die Jugend, die verschiedenartigsten Zeitbewegungen haben sich auf Nietzsche berufen, freilich stets in gewaltsamen Vereinseitigungen: so der französische Royalismus, der revolutionäre Syndikalismus George Sorels, dessen Schüler Benito Mussolini war, so der deutsche Nationalsozialismus, der Lebensphilosoph Ludwig Klages, der Kulturmorphologe Oswald Spengler und viele andere Geister. Aber es ist kaum das Umgekehrte anzunehmen, daß Nietzsche sich auch auf sie berufen hätte. Die Zahl der Auslegungen, die sich auf einzelnes bei ihm stützt und daher das Ganze mißversteht, ist Legion geworden. Die Folgen waren unheilvoll.

Schließlich und endlich sollte aber auch nicht vergessen werden, daß Nietzsche seine Gedanken niemals als ein System dargeboten, sondern daß er sie in tausend Aphorismen entwickelt hat, die noch dazu teilweise illegitim aus seinem Nachlaß zu einem Werk ("Wille zur Macht") zusammengetragen wurden, wie der jüngste Bearbeiter (Karl Schlechta) philologisch wohl einwandfrei nachgewiesen hat. Im übrigen aber ist das Zarathustrawort an die Nietzschejünger der vielen verschiedenen Richtungen nach wie vor in Kraft: "Ich bin ein Geländer am Strom – fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht" (VI, 55).

(Quellenangaben: Großoktavausgabe Kröner, 19 Bd. Leipzig 1894 ff.)

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