Verstummen unter Zypressen

Friedrich Nietzsches letzte Tage in Turin / Von HARTMUT LANGE

In Turin im Januar 1889 gewann der Wahnsinn Macht über Nietzsche. Er schrieb die berühmten "Wahnsinnsbriefe" an Cosima Wagner, Burckhardt und andere, umarmte auf offener Straße ein Pferd. Einige Tage später holte ihn Overbeck zurück nach Deutschland. Was aber geschah in der Zeit zwischen dem Zusammenbruch und Overbecks Ankunft? Hartmut Langes Erzählung vergegenwärtigt diese tragische Episode.

Meine Adresse weiß ich nicht mehr: Nehmen wir an, daß sie zunächst der Palazzo del Quirinale sein dürfte."

Das letzte, dessen er sich erinnern konnte, war ein Gefühl, unaufhörlich zu wachsen, ein Gehoben-Werden jenem Licht zu, das er vom Engadin her kannte. Es war ein inwendiges Ausufern ins Unendliche, und doch konnte er von der Vorstellung nicht lassen, bei aller Entfesselung, die der Geist an ihm vornahm, auf irgendeine Weise gekreuzigt zu sein.

Zwei Tage vorher war er noch mit irdischen Verwicklungen beschäftigt, er spürte dieser und jener Fährte nach, die seine Existenz zu bestätigen schien. Es waren Nachrichten aus Paris, Kopenhagen, St. Petersburg, aber sie konnten ihm, dem Verhungernden, keine Nahrung mehr zuführen, und so schrieb er jenen denkwürdigen Satz: "Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts anderes bin."


Die Ansicht des Platzes heute

Man schrieb die ersten Januartage des Jahres 1889. Das Wetter in Turin war strahlend, aber doch von jener Gebrochenheit, die dem italienischen Himmel aufgenötigt wird, wenn die Sonne den Horizont nicht mehr hinter sich lassen kann. Die Enge des Zimmers, das ihm zugewiesen worden war, deprimierte ihn nicht mehr, da alle Dinge, die er wahrnahm, aus ihm selbst zu kommen schienen, so auch die nachlässigen Handreichungen des Cameriere während der täglichen Mahlzeit und die Blicke der Passanten, wenn er die Straße zur Osteria überquerte.


... und ein Blick auf seine Wohnung

Er war nun gesichert. Er war in der Zuversicht, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge, und er war entschlossen, von dieser Zuversicht Gebrauch zu machen, wann immer es ihm beliebte. Denn dieses Belieben war es ja, nach dem er sich gesehnt hatte, wenn die Dinge um ihn her sein Selbstgefühl auf hartnäckige Weise in Frage gestellt hatten, sodaß er gezwungen war, dem vorzubeugen, indem er sich in vollkommener Einsamkeit, den Blick auf Schneefelder gerichtet hoch in die Lüfte erhob, in der Hoffnung, man würde soviel Auftrieb letzten Endes doch anerkennen müssen. Und wie oft war er gezwungen, wenn diese Anerkennung ausblieb, am eigenen Bewundern ein Genüge zu haben!

Nun brauchte er keine Bewunderung mehr, er war die Bewunderung selbst.

Briefe waren noch zu schreiben, Botschaften übermütiger Gelassenheit, Nachrichten darüber, daß er alles, was ihn sterblich und also verwundbar machen konnte, hinter sich gelassen hatte.

"Ah, Freund! welcher Augenblick! – Als Ihre Karte kam, was tat ich da ... Es war der berühmte Rubicon..." Er ging die vier, fünf Schritte in seinem Zimmer auf und ab wie jemand, der sich darin gefällt, nicht durch die Wände zu gehen. Die Stiege nahm er behutsam, mit durchgedrückten Knien, den Kopf hoch erhoben, er hätte fliegen können, aber dies wäre ihm billig erschienen. Und so ging er auch die Straße entlang, Schritt für Schritt, jedem Hindernis fast bis zur Umständlichkeit ausweichend. Er wollte die Passanten bitten, ihr zustimmendes Lächeln zu unterlassen, ihm fiel aber immer wieder rechtzeitig ein, daß er es selbst war, der sich begegnete, oder daß zumindest die Dinge den Schein ihrer Unabhängigkeit nur wahren konnten, weil seine Bescheidenheit es verlangte. Dies hatte er notiert, aber nun war auch diese Notiz der Post übergeben.

Vor dem Palazzo Carignano sah er in das Gewimmel, und während er prüfte, ob es der Mühe wert war, diese Ansammlung menschlicher Unerheblichkeiten erschaffen zu haben, entdeckte er ein Pferd und wie dieses, da der Karren, den es ziehen sollte, zu schwer war, auf den vorderen Hufen ausrutschte, und wie der Kutscher, erbittert vor Wut, mit einer Peitsche auf die Kreatur einschlug, und wie sie bei jedem Versuch, das Unmögliche, das man von ihr erzwingen wollte, doch noch zu leisten, hoffnungsloser und endgültiger auf den Knien zusammenbrach. Es war ein Bild des Jammers.

Er ging auf den Kutscher zu und wollte ihn energisch zurechtweisen, wie er dazu käme, ein Tier, das in jeder Hinsicht höher stünde als er, derart zu quälen, und ob er nicht wisse ... Aber plötzlich schien ihm das Gefühl der Allmacht, jenes Ausufern ins Unendliche wie das Spannen einer Feder, die, je mehr man sie dehnt, an Kraft und Widerstand zunimmt, bis sie jenen Zustand erreicht, wo sie zurückschlagen muß. Er konnte den Blick von der Peitsche nicht mehr wenden, das verzerrte Gesicht des Fluchenden, dieses unnachgiebige, bis in den äußersten Willen angestrengte Wüten, bäumte sich vor ihm auf wie eine Wand. Nun sank sein Mut, der eben noch die Grenzen überstiegen hatte, ins Unerhebliche. Er begann zu schluchzen, warf sich dem Pferd um den Hals, wobei er ins Stolpern kam, und als einige Männer ihn fassen wollten und als auch der Kutscher, ernüchtert durch die überfallartige Verzweiflung des Fremden, ihm hilfreich die Hand reichte, stieß er Schreie der Empörung aus. Er verfluchte die Welt, nannte das Tier seinen Bruder und hing noch haltloser, noch unlösbarer mit dem Pferd verbunden, an dessen Hals, und jeder sah, daß hier jemand ein für allemal die Fassung seines Lebens verloren hatte.

Man brachte ihn auf sein Zimmer. Er war immer noch außer sich, konnte aber die Fragen, die man ihm nach Herkunft, Alter, Beschäftigung stellte, klar beantworten. Überhaupt schien es unnötig, sich um ihn, der immer wieder versicherte, er brauche Schlaf, einen tiefen, ausgiebigen Schlaf, sonst nichts, weiter zu kümmern. Eine halbe Stunde später lag er mit weit von sich gestreckten Armen reglos da, er atmete tief, ruhig, als wäre es ihm gelungen, seine übermäßige Wachheit noch einmal zu besänftigen.

Was träumte er? Unwichtig. Vielleicht sah er etwas Herbstliches. Oder ein Boot, das vom Ufer weggestoßen wurde. Ein, zwei stumme Zypressen...

Er schrie auf, sprang vom Bett, und als er die Augen öffnete, als er das dämmrige Licht sah, das durch die kleinen Fenster in seine Stube eindrang, wußte er, daß er gestorben war. Er stand ganz still. Für Augenblicke nichts weiter als Erleichterung. Vorbei. Et in arcadio ego. Er hatte auch das letzte Problem hinter sich gelassen: Die Zeit. Ein Lächeln, ein zustimmendes Nicken. Aber wer war er? Auch die Ewigkeit hatte einen Namen.

Er lief zu dem Stummen Diener, an dem seine Jacke hing, riß die Dokumente aus der Tasche. Die Hände zitterten ihm, als er sein Passport auseinanderfaltete, und was er nun lesen mußte, war allerdings entsetzlich. Da stand in einer steilen, allzu deutlich gehaltenen Schrift ein Name, den er kannte:

FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE!

"Da hast du sie", dachte er und spürte einen Schlag und wie ihm ein eisernes Viereck (war es ein Spaten?) langsam, aber unwiderruflich durchs Gehirn zog. "Da hast du sie, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die du dir gewünscht hast. Und nichts wird sich ändern. Dieselbe Hölle der Einsamkeit!"

Ihn fröstelte. Er rief nach dem Wirt, verlangte ein Glas Wasser, ließ es aber zurückgehen, weil es nicht durchsichtig genug war. Ein neues Glas Wasser! Dies trank er wie ein Fiebernder in ein, zwei Zügen leer, dann wies er, schon mit hilfloser Geste, auf seinen Magen und teilte dem Wirt mit, er hätte sich überanstrengt.

Auf dem Hof den er nur mit Mühe, beide Hände gegen den Leib gepreßt, erreichte, mußte er sich übergeben, und es war ihm, als würde er in ein Meer von Übelkeit getaucht und als könne er diesen Zustand keine Sekunde länger ertragen. Er preßte den Ärmel seiner Bluse gegen den Mund, weil er wußte, daß heftige Konvulsionen folgen würden, dabei fiel sein Blick auf einen leeren Blumenkübel. Nun erst bemerkte er, daß ein Kind in unmittelbarer Nähe auf eben diesem Kübel saß und ihn mit großen Augen ansah, unbeweglich, gebannt vom Elend eines Erwachsenen. Er vergaß seine Beschwerden, war nun seinerseits gebannt von dieser ruhigen, selbstverständlichen Art zu staunen, er nickte mit dem Kopf und sagte: "Ganz recht. Ja, so machen wir‘s. Die Welt ist verklärt, und alle Himmel freuen sich."

Dann wandte er sich ab. Wehmut überfiel ihn, Selbstmitleid, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er ging, so wie er war, ohne Jacke, die Ärmel seiner Bluse halb aufgekrempelt, in jene Osteria, in der er seit Tagen nur noch Wein und Brot, hin und wieder ein Glas Wasser zu sich genommen hatte.

Auf der Straße zeigte er sich beeindruckt darüber, daß ein derart unschuldiges, voraussetzungsloses Staunen, wie er es eben erlebt hatte , überhaupt möglich war und daß er den Zustand des Kindes an sich selbst nie erfahren hatte. Er hielt Ausschau, ob ihm das gleiche Erlebnis im Gedränge des Marktes, den er überquerte, noch einmal begegnen würde, aber er fand nichts.

In der Osteria setzte er sich stumm an einen Tisch, und als der Cameriere ihm mit einem Lächeln, ohne zu fragen, alles Gewohnte, die gefüllte Karaffe, die Schale mit dem Brot, das Salz vorsetzte, fühlte er sich wie ein reumütiges Kind, das nach einer langen, langen Zeit der Widersetzlichkeit Abbitte zu leisten gewillt ist.

"Mein Herr", sagte er, "was ein Genie seinem Zeitalter übelnimmt, übelnehmen muß, ist nicht das Unverständnis, sondern das geringschätzige Lächeln, das dieses Unverständnis begleitet. Ich habe Bücher geschrieben, so tief, so in Sprache abgefaßt, ich verbeuge mich vor mir selbst, ich habe keinen Bedarf nach fremden Verbeugungen. Aber das gewisse Lächeln, mein Herr, dieses gewisse Lächeln hat mich zum Hammer greifen lassen."

"Certo, certo", antwortete der Cameriere und ging fort. Nietzsche wollte dessen Hand ergreifen, faßte aber ins Leere. Einen Augenblick lang verharrte er in dieser Geste der Ergebenheit, die ihm verhaßt war, Rücken und Kopf gebeugt, die Augen halb geschlossen, dann richtete er sich auf.

"Ecce homo! Ein Talent haben ist nicht genug, man muß auch eure Erlaubnis dazu haben, wie, meine Freunde!" rief er höhnisch und musterte alle, die in dem engen Raum saßen, in einer Weise, als hätten sie sich ihm gegenüber durchaus zu verantworten.

Man sah ihm zu oder tat doch alles, um einen offenbar gereizten Gast; dessen Sprache niemandem geläufig war, freundlich zu behandeln. Dies bemerkte er. Er wollte noch etwas sagen. Er wollte darauf hinweisen, daß er bereit sei, nicht immer nur über sich selbst zu reden. Er liebe sich nicht so sehr, wie es den Anschein habe. Er bewundere vielmehr die stillen, zarteren Naturen, jene, die lieber vergehen, bevor sie sich unter die Erde lächeln lassen, die in der Einsamkeit ihren Peinigern Werke hinterlassen, die diese dann, jetzt im Lächeln der Anerkennung, als Produkt ihrer Verständigkeit anpreisen. Diese Naturen, wollte er sagen, sind ausbeutbar, ja ihre stille, zarte Demut ist geradezu ihre List und Rache, da sie durch das Eigenlob ihrer Ausbeuter wieder auf diese Welt zurückkommen. Sie geben sich aus Klugheit von vornherein auf, sie leben nach ihrem Tode, sie würden niemals einen Hammer in ihre Hände nehmen, aber er hatte nicht die Kraft, über das Lächeln seiner Peiniger hinwegzukommen.

Dies wollte er sagen, aber er schwieg.

Er stürzte ins Freie, hastete die Trottoirs entlang, wobei er von der Vorstellung nicht loskommen konnte, er müsse Raum gewinnen, er würde ersticken, wenn er was, das auf seinem Gedächtnis lastete, nicht von sich warf. Er wollte auf sein Zimmer zurück. Er überquerte die Piazza Carlo Alberto, erreichte das Tor mit dem Lorbeer, aber es gelang ihm nicht das Eisen, mit dem er klopfen mußte, damit man ihm öffnete, zu berühren. Er lief noch einmal um das Haus, das ihn beherbergte, sah das Fenster zu seinem Zimmer, konzentrierte all seine Sinne, um das Eisen doch noch zu fassen. Er tat es heftig, mit solcher Ungeduld, daß das Tor aufgesprungen wäre, hätte man ihm nicht rechtzeitig geöffnet.

"Ja, ja", sagte er, "ja, ja", und ging weiter. Auf den letzten Stufen der Stiege mußte er innehalten. Er rang nach Atem, Schweißperlen fielen ihm von der Stirn. Aber er sah die Sonne. Ja, es war die Sonne, die ihm durch den Türspalt entgegenfiel. Ein letztes Aufbäumen, ein unwiderrufliches Drängen mit der Schulter gegen das harte Holz, ein Schmerz – dann gab alles nach... Er stand mitten im Zimmer.

"Gut, daß du gekommen bist", sagte eine schwache, hochaufgerichtete, in allen Mitteln der inneren und äußeren Beherrschtheit formvollendete Gestalt, die auf dem Kanapee saß und die, obwohl sie lächelte, ganz unverkennbar und ohne daß man diese Tatsache zu überprüfen genötigt war, auf böse Weise faszinierte.

"Gut, daß du gekommen bist", sagte sie, und Nietzsche bemerkte, daß er sich getäuscht hatte: Es gab keine Sonne, es war längst Nacht geworden.

Der Fremde rauchte, führte die Zigarette, die er in der linken Hand hielt, in regelmäßigen Abständen zum Mund, zog daran mit einer Miene eisigen Gleichmuts, und man sah, daß er die Lebensmitte bereits überschritten hatte. Die kurzgeschnittenen Haare waren in einer Weise frisiert, daß sie auf dem schmalen, langgestreckten Schädel zu liegen kamen, das Gesicht war ebenmäßig, aber mit etwas zu scharfer Kontur, die Augen wirkten flach, ohne Güte, oder besser: hier zeigte sich am deutlichsten, daß dieser Mann entschlossen schien, seinem vorgefaßten Willen, was dieser auch immer zu bedeuten hatte, bis zum Letzten Geltung zu verschaffen.

"Du bist Zarathustra", sagte Nietzsche.

"Nein", sagte der Fremde, "ich bin nicht Zarathustra".

"Aber du willst mich in das Engadin zurückholen."

"Nein", sagte der Fremde, "vergiß das Engadin. Er zog ein silbernes Etui aus seiner Jackentasche, das er mit langen, feingliedrigen Fingern öffnete, und während er noch die halbaufgerauchte Zigarette an der Innenseite des Deckels ausdrückte, löste er schon eine neue aus dem Gummiband. Ein hartes Zuschnappen, ein rasches Zurückgleitenlassen Etuis, der Griff nach dem Streichholz.

Nietzsche sah ihm zu, sah die kleine Flamme und wie diese ihm alle vertrauten Gegenstände wieder vor Augen brachte und zurechtrückte. Er fühlt sich geborgen in der selbstverständlichen Ruhe und Sicherheit dieses Fremden, er hätte mit ihm eine Ewigkeit so dasitzen können.

"Ja, mein Herr", sagte er, "das Engadin! Man schwärmt davon, aber wer hat sich die Mühe gemacht zu prüfen, wie meine Welt eigentlich aussieht? Ich sehe hinunter, über Hügelwellen, gegen einen milchgrünen See hin, links Felshänge, Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts hoch über mir zwei ungeheure, beeiste Zacken – alles groß, still, hell. Unwillkürlich, was wäre natürlicher, stellt man in diese reine, scharfe Lichtwelt griechische Heroen.– Vorbei. Et in arcadia ego. Verstehen Sie meine Einsamkeit? Ich kam aus Naumburg. Kennen Sie Naumburg? Mein Vater war Pfarrer. Kennen Sie das Christentum? Mein Lehrer war Ritschl. Kennen Sie die herkömmliche Philologie? Kennen Sie Leipzig? Dann kennen Sie die menschliche Steppe. Mein Herr, Napoleon war gestorben, mit Mozart war die Musik von mir gegangen, ich habe Wagners Arien getrunken, wie ein Verdurstender Wein trinkt, und doch sind meine Lippen verdorrt. Der Rest war rasender Kopfschmerz."

Für längere Zeit blieb alles still. Der Wirt kam, brachte eine brennende Kerze, fragte den bewegungslos Dasitzenden, ob ihm nun wohler sei oder ob er nach einem Arzt rufen solle. Er bekam keine Antwort. Als er das Fenster, das einen Spalt weit geöffnet war, schließen wollte und dabei in die Nähe des Kanapees trat, bat Nietzsche ihn, indem er die Hand hob, stehenzubleiben. Man möge ihn als Gefangenen betrachten, sagte er, und die Tür sorgfältig gegen ihn schließen, denn er hätte das Verbrechen begangen, über den Menschen nachzudenken.

Der Wirt verließ das Zimmer. "Vergiß, daß du ein Mensch bist", sagte der Fremde. "Hör auf zu denken. Wer über den Menschen allzu gründlich nachdenkt, endet im Wahnsinn."

"Aber ich bin ein Problem," sagte Nietzsche. "Und was für mich gilt, muß ebensogut für die anderen gelten."

"Der Mensch ist kein Problem," sagte der Fremde, "er ist das Unmögliche."

Nietzsche versuchte, sein schemenhaftes Gegenüber mit hellwachen Augen zu fassen, aber auch jetzt, im Schein der Kerze, sah er nichts anderes als formvollendete Kälte und wie der Andere, während er ihn ansah, den Blick auf eine Weise erwiderte, die ihm das Gefühl gab, überflüssig zu sein.

Dies konnte er nicht ertragen. Er stand auf, prüfte, ob die Bretter unter seinen Füßen ihn hielten, er hatte Angst, ins Bodenlose zu fallen. Denn wo der Mensch. das Unmögliche ist, dachte er, beginnt der freie Fall.

"Ich muß mich halten", rief er, und gegen den Fremden gerichtet: "Du hast nicht das Recht, mir Vorwürfe zu machen, weil ich mir das Unmögliche abverlangt habe."

Er stürzte zum Kanapee, entschlossen, die impertinente Unnahbarkeit des Fremden zu brechen.

"Du bist ein Träumer", rief dieser noch und lachte. "Du wirst deinen Zarathustra nie von Angesicht zu Angesicht schauen."

Aber dann war er schon ausgelöscht, und Nietzsche saß selbst als der Andere da, saß mit angehaltenem Atem und versuchte, nicht mehr zu denken. Er hörte sein Herz schlagen, und ein Gewisper, tief, ganz tief unten in seiner Mitte flüsterte ihm zu, daß sein Denken durchaus kein Geringes sei und daß er mit seinem Zarathustra das Unmögliche möglich gemacht hatte. Er hörte alles genau und mit wachsender Aufmerksamkeit, wollte aber nichts davon zulassen. Noch nicht, dachte er. Sie sollen nur kommen, meine liebsten Gedanken, ich werde die Tür gegen sie zusperren. Es soll ihnen nicht erlaubt sein, mich wieder auseinanderzureißen. Und er hielt seinen Kopf zwischen beide Hände wie zwischen eiserne Klammern gepreßt. Aber die Stimme, ach jene Stimme, die er allzu gut kannte, wurde lauter und flehte in einer Weise...

"Ich bin Zarathustra", rief es, "kennst du mich nicht mehr? Hast du vergessen, wie glücklich wir waren. Töte mich nicht! Ich bin Ein-aus-demGedanken-Geborener!

O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit. O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit. 's ist Zeit.

Dies Lied ist aus - der Sehnsucht süßer Schrei erstarb im Munde:
Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde.
Der Mittags-Freund, nein! fragt nicht, wer es sei –
und Mittag wars, da wurden Eins zu Zwei..."

(Hier können Sie das ganze Gedicht einsehen)

Er wollte die Hände lösen. Alles, was ihn eben noch bleischwer niedergehalten hatte, begann nach oben zu drängen. Der Kopf, der eben noch ein allzu enges Gefäß, weitete sich inwendig. Aber nun fiel ihm ein, daß er seine liebste Erfindung aus Not geboren hatte, aus übermächtiger Sehnsucht nach Nähe zum Menschen, und daß er die Einsamkeit, unter der er litt, derart eindringlich, unwiderruflich predigen ließ, weil man ihm diese Nähe verweigert hatte. Und die Jahre vergingen. Die Zeit konnte ihn nicht heilen. Und doch mußte er, bei Strafe des Untergangs, die ihm gemäße Art der Genesung finden.

"Oh", rief er, "oh? Warum muß man sich immer und immer wieder einen Freund erschaffen? Gibt es denn keine Möglichkeit, ein Mensch unter Menschen zu sein?... Oder man wird zum Verbrecher", fügte er hinzu. "Da man in diese Welt nicht paßt, vielleicht macht man sich diese Welt passend? Auch eine Möglichkeit, vielleicht die kürzeste."

Ja, da war sie wieder, die Lust, mörderische Gedanken gegen all jene auszuschicken, die ihm das Leben unerträglich gemacht hatten. Er wollte den Fremden zurückholen, den er eben noch ausgelöscht hatte, er wollte mit ihm eine Möglichkeit zur Flucht aus seinem Verhängnis besprechen. Ob man den Menschen durch Mord bessern könne, wollte er Wissen, und ob der Wunsch, den er jetzt öfter verspüre, nämlich mit diesem und jenem Verbrecher einig zu sein, etwas Ehrenrühriges hätte? Und ob man wisse, daß er mit all seinen Gedanken der Welt lediglich einen neuen Begriff hatte geben wollen: den eines anständigen Verbrechers. Aber der Fremde antwortete nicht mehr.

Mondlicht fiel ins Zimmer, die Schatten der Möbel umstanden ihn stumm, wie unverrückbar, und auch er selbst bewegte sich nicht mehr. Er sah den Mond und wie dieser seine Leblosigkeit mit selbstverständlicher Ruhe zur Schau trug. Er übersah die Dächer der Stadt bis zum Fluß, den Corso Regina Magherita und den Dom, der wie ein schwarzer Fels hoch aufragte, dahinter, ganz im Dunkeln, ganz unbestimmt, einen Wald Zypressen. Über allem aber lag wie ein steinernes Grabmal der Mond, und immer wieder war es der Mond, der ihn daran erinnerte, daß diese Welt auch und vor allem durch ihre Leblosigkeit bezaubern konnte.

Am nächsten Morgen saß er am Fluß. Die Zuversicht, die er während der Nacht gewonnen hatte und die ihn auch jetzt noch, nach einem kurzen, bewußtlosen Schlaf gefangenhielt, wurde durch eine neue Irritation aufgezehrt, gegen die er sich wehrte.

Es begann damit, daß er fror und ein Zittern seiner Hände nicht unterdrücken konnte. Es beunruhigte ihn, daß der Fluß sein Wasser so rasch an ihm vorbeidrängte, und das Glitzern auf den Wellen tat seinen Augen weh. Er wollte sie nicht schließen und sah immer intensiver, immer ungehaltener auf jene tausend Irrlichter, die von der Sonne angefacht und wieder ausgelöscht wurden. Warum wollte das Gewässer nicht stillstehen? Dies empörte ihn. Er wollte mit beiden Fäusten in die Wellen greifen, um sie anzuhalten, er drohte der Sonne, er würde sie ausblasen, wenn sie es nicht unterließe, seine Augen zu belästigen. Dabei erhob er sich und spürte wieder, wie er wuchs, und wunderte sich darüber, daß andere dies Gefühl, bis ins Grenzenlose bedeutend zu sein, nicht teilen wollten. Er wünschte Zeugenschaft, sofort und ohne irgendwelche Ausflüchte. Man sollte ihm zusehen, dem Augenschein trauen, dann würde man bestätigen müssen, was er jetzt sagte: Es bereiteten sich in ihm ungeheure Dinge vor!

Dies rief er einigen Fischern zu, die damit begannen, ihre Netze am Flußufer abzustecken. Sie beachteten ihn nicht, aber er wollte sich Gehör verschaffen.

Er verließ die Wiesen, über eine steinerne Treppe, erreichte die Stadt und rief in den Straßen nach dem Fremden, immer nur nach dem Fremden, von dem er behauptete, dieser müsse sich ganz in der Nähe aufhalten, denn er hätte ihn, Friedrich Nietzsche, eben noch durch seine Anwesenheit geehrt. Er müsse ihn finden, versicherte er, denn dieser Mann hätte ihm Dinge gesagt, die wenn er sie ausplaudern würde, durchaus geeignet seien, der Welt brennende Fackeln aufzusetzen.

Ob man sich der Konsequenzen bewußt sei: Der Mensch ist das Unmögliche und damit eine Sache der Form. Gut oder Böse, man entscheide sich! Die Güte sei der Welt abhanden gekommen, aber der Fremde sei durchaus jemand, man sollte ihm nur ins Gesicht sehen, der den Willen zum Bösen bis in jene Ruhe hinein verfeinert hätte, die selbst durch den eigenen Untergang nicht mehr zu erschüttern sei. Dies habe ihn beeindruckt. Er selbst habe sich, da die Deutschen ihm jede Form zu leben verweigerten, für den Wahnsinn entschieden. Aber man solle deshalb nicht gering von ihm denken. Auch der Wahnsinn trage, und dabei wies er auf seinen Mantel, die Attribute der Gewalt und der rücksichtslosen Verneinung all dessen, was seiner Form nicht angehörte, offen zur Schau. Ja, er erwäge, ob der Wahnsinn nicht der einzig mögliche Weg sei, den Menschen in sich zu überwinden. Er habe versucht, über andere Möglichkeiten nachzudenken, aber man solle ihm glauben, wenn er sage: Man kann auf dieser Welt kein Mensch unter Menschen sein!

Man riet dem seltsamen Passanten, ruhiger zu werden, wobei man seinen euphorischen Eifer ratlos zur Kenntnis nahm. Er dankte, aber wie jemand, der nicht einsah, warum dies nötig sein sollte, und jede Berührung, jedes freundliche Wort schien ihm überflüssig. Auch die Gesellschaft des Fremden fand er kaum noch der Mühe wert.

Wenig später war es ihm, als würde der Fremde folgen, in der Absicht, ihn mit den Händen zu berühren. Aber dies interessierte ihn nicht mehr. Was sollte jener ihm sagen, das er nicht schon wußte? Ihm, der wieder in der Zuversicht war, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge.

Er ging schneller und schneller. Wie lange dies dauerte, wußte er nicht. Er bemerkte nur, wie eng Turin war, und daß er die Stadt, die er liebte, aber offenbar überschätzt hatte, mit drei, vier Schritten von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende durchmessen konnte. Mitunter hatte er den Eindruck, er ginge im Kreis, damit die Beengtheit, die ihn störte, einigermaßen gemildert würde. Aber dann fand er doch, man bewege sich im Quadrat besser.

Er wußte, man schrieb die ersten Januartage 1889. Auch er fand das Wetter strahlend, aber die Gebrochenheit, die dem italienischen Himmel aufgenötigt wurde, weil die Sonne den Horizont nicht mehr hinter sich lassen konnte, fand er skandalös. Dies wollte er bessern. Aber nicht heute, später, später.

Am folgenden Tag kam Overbeck, um den kranken Freund abzuholen. Nietzsche wehrte sich heftig, denn er sah keinen Grund, über die Alpen nach Basel zu reisen. Man bestand darauf.

Als er das Gebirge sah, war es ihm, als näherte er sich einer Wand, hinter der es nichts mehr gab, um dessentwillen es sich lohnte, so übermäßig besorgt zu sein. Er wurde ruhiger. Aber es war der Beginn jener Ruhe, in der die Gedanken sterben.

Textquelle: DIE WELT Nr. 270 vom 19. November 1983 S. 17
Bildquelle s/w: Anacleto Verrecchia,
Zarathustras Ende, Böhlau Verlag 1986


Wahnzettel vom Januar 1889 (HW); Text:
Meinem maestro Pietro / Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt / und alle Himmel freuen sich

Zurück zur ersten Turin-Seite