Am Schrein von St. Wagner

Ein Essay von Mark Twain


Mark Twain (1835-1910)

Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Schwägermann (Edmonton/Kanada)
[Die englische Originalfassung "At the Shrine of St. Wagner" mit diversen Karikaturen finden Sie hier im Internet.
Erstpublikation in der New York Times vom 6. Dezember 1891]

Bayreuth, Aug. A.D. 1891

Es war in Nürnberg, als wir auf den Ansturm musikverrückter Fremder stießen, der auf Bayreuth zurollte. Wir hatten schon lange keine solche Mengen erregter und vorwärtsdrängender Leute gesehen. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sie alle im Zug untergebracht waren – und es war der längste Zug, den wir bisher in Europa gesehen hatten.

Zwei Wochen lang war Nürnberg jeden Tag mehrmals Zeuge solcher Ereignisse. Man gewinnt dadurch einen guten Eindruck der alle zwei Jahre stattfindenden Pilgerfahrt. Denn das ist es: eine Pilgerfahrt. Die Gläubigen kommen aus allen Ecken und Enden der Welt herbei, um ihrem Propheten in seiner eigenen Kaaba, in seinem eigenen Mekka, zu huldigen.

Wenn man in New York, San Francisco, Chicago oder sonst irgendwo in Amerika lebt und sich im Mai vorstellt, dass man zweieinhalb Monate später die Bayreuther Oper besuchen will, muss man deswegen sofort telegrafieren, oder man bekommt keine Karten, und auch um das Quartier muss man sofort telegrafieren. Wenn man dann Glück hat, bekommt man zwei Karten für Plätze in der letzten Reihe und Unterkunft am Stadtrand. Wenn man aufhört zu schreiben, bekommt man nichts. Es waren viele Leute in Nürnberg, als wir durchfuhren, die sich auf die Pilgerfahrt gemacht hatten, ohne sich vorher Eintrittskarten und Unterkunft zu besorgen. Sie fanden keines von beidem in Bayreuth; für eine Weile wanderten sie sorgenvoll durch die Straßen von Bayreuth und fuhren dann nach Nürnberg, fanden weder Betten noch Stehplätze und wanderten die ganze Nacht durch die malerischen alten Gassen und warteten darauf, dass sich die Hotels öffnen und leeren würden, um ihre Gäste in Richtung der Züge zu entlassen und dadurch für sie, ihre besiegten Glaubensbrüder, Platz zu machen. Sie hatten dreißig bis vierzig Stunden auf Europas Zügen überstanden – mit allem, was damit an Sorgen, Müdigkeit und finanzieller Ausbeutung verbunden ist. – Alles, was sie erhielten und alles, was sie dafür erhalten würden, war Genauigkeit und Übung darin, sich auf die eigenen Füße zu treten, wozu sie in den kleinen Gassen der zwei Städte reichlich Gelegenheit hatten, während andere Leute in ihren Betten lagen; sie hingegen mussten nun die unbeschreibliche Rückreise antreten, und ihre fromme Sendung würde unerfüllt bleiben. Diese beschämten Ausgesetzten machten den zersausten und ungebürsteten Eindruck – mit dem um Verzeihung heischenden Blick – nasser Katzen; ihre Augen waren glasig vor Müdigkeit, ihre Körper von Kopf bis Fuß eingesunken, und alle freundlichen Mitmenschen sahen davon ab, sie danach zu fragen, ob sie in Bayreuth gewesen seien und dort nichts ausrichten konnten, als ob sie wüssten, dass sie lügen würden.

Wir erreichten Bayreuth gegen Mitte des Samstagnachmittags. Wir gehörten zu den Weisen und hatten uns Monate vorher Eintrittskarten und Unterkunft gesichert.

Ich bin kein Musikkritiker und kam nicht hierher, um ein Essay über Opern zu schreiben und über ihren Wert zu urteilen. Die kleinen Kinder von Bayreuth können das mit weit besserem Mitgefühl und mit größerer Intelligenz als ich tun. Ich will nur vier oder fünf Pilger zur Oper begleiten, Pilger, die sie genießen und schätzen können. Was ich über die Veranstaltungen in meiner freien Zeit schreibe, wird vom Standpunkt einer Katze aus geschehen, die einen König betrachtet und nicht von didaktischem Wert sein.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, machten wir uns zum Festspielhaus auf – das heißt, zum Wagnertempel – und zwar kaum später als um die Nachmittagsmitte. Das große Gebäude steht ganz alleine für sich da, großartig und einsam, auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt. Wir wurden gewarnt, dass wir, falls wir nach vier Uhr einträfen, zweieinhalb Dollar als Strafe zahlen müssten. Wir ersparten uns dies, und es sollte hier betont werden, dass dies die einzige Gelegenheit war, in Europa Geld zu sparen. Um das Gebäude gesellte sich eine große Menschenmenge, und die Kleidung der Damen glänzte wirkungsvoll in der Sonne. Ich will damit nicht sagen, dass die Damen in voller Abendtoilette erschienen, da dies nicht der Fall war. Ihre Kleider waren schön, aber beide Geschlechter waren nicht in Abendkleidung.

Das Innere des (Festspiel)hauses ist einfach, sehr einfach; es gibt jedoch keine Gelegenheit für Farbe und Dekoration, da die Leute im Dunkeln sitzen. Der Zuschauerraum hat die Form eines abgerundeten Trapezes, mit der Bühne auf der schmalen Seite. Auf jeder Seite ist ein Gang, jedoch keiner in der Mitte. Jede Sitzreihe reicht in einer ununterbrochenen Kurve von einer Seite des Hauses zur anderen. Auf jeder Seite gibt es sieben Eingänge und vier am Ende des Zuschauerraums, achtzehn Türen, durch die 1650 Personen eingelassen werden. Die Nummer der bestimmten Tür, durch die man eingelassen wird, steht auf der Eintrittskarte, und man kann nur diese Tür benutzen. Daher sind Gedränge und Verwirrung unmöglich. Kaum einhundert Personen benutzen eine Tür. Das ist besser als die üblichen (und nutzlosen) umständlichen Feuersicherheitsvorkehrungen. Es ist das Mustertheater der Welt. Es kann geleert werden, während der zweite Zeiger einer Uhr seine Umkreisung macht. Es wäre selbst dann ganz sicher, wenn es aus Streichhölzern erbaut worden wäre.

Falls sich Ihr Sitz in der Mitte einer Reihe befindet, und falls Sie spät eintreffen, müssen Sie sich an etwa 25 Damen und Herren vorbeischlängeln, um ihn zu erreichen. Dies ist jedoch kein Problem, da jedermann aufsteht, bis alle Sitze voll sind, und dies dauert nur wenige Minuten. Dann setzen sich alle, und das Ergebnis ist eine solide Masse von 1500 Köpfen, in steiler Neigung vom Ende des Hauses bis zur Bühne.

Alle Lichter wurden heruntergedreht, so weit herunter, dass die Zuschauer in tiefer und feierlicher Stille saßen. Das trauerfeierartige Kleiderrascheln und das leise Geflüster verstummte langsam, und plötzlich blieb nicht einmal ein Hauch eines Geräuschs übrig. Diese tiefe und zunehmend eindrucksvolle Stille ist die bestmögliche Vorbereitung auf Musik, eine Veranstaltung oder eine Rede. Ich denke, dass unsere Veranstalter dieses einfache und beeindruckende Verfahren zur Erlangung oder Festigung der Zuschaueraufmerksamkeit schon lange erfunden oder importiert haben sollten, anstatt bis heute eine Vorstellung gegen die tödliche Konkurrenz in Form von Lärm, Verwirrung und zerstreuter Aufmerksamkeit zu eröffnen.

Endlich stiegen – inmitten der Stille – aus der Ferne und aus dem Geheimnisvollen sanfte, volle Töne empor, und von seinem Grabe aus begann der tote Zauberer, seine Jünger in Zaubersprüche einzuhüllen und ihre Seelen in seine Verzauberung einzutauchen. Es war etwas befremdend Eindrucksvolles um die Fantasie, die sich einschlich, nämlich die, dass der Komponist sich in seinem Grab dessen bewusst war, was hier vorging, und dass diese göttlichen Töne das Kleid der Gedanken waren, die in diesem Augenblick durch seinen Kopf gingen, jedoch keine bekannten und vertrauten, die aus ihm bereits in vergangener Zeit hervorgegangen waren.

Die ganze Ouvertüre, so lange sie auch war, wurde im dunklen Haus mit geschlossenem Vorhang gespielt. Es war wunderbar, aber danach kam freilich der Gesang, und es erscheint mir, dass für einen Uneingeweihten und Ungebildeten nichts eine Wagner-Oper vollkommener machen würde, als den Gesang auszulassen. Ich wollte, ich könnte eine Wagner-Oper einmal als Pantomime sehen. Dann könnte man ungestört der lieblichen Orchestrierung zuhören und seinen Geist darin baden, und die Augen an den erstaunlichen, schönen Szenen weiden, und das stumme Spiel würde dieses Vergnügen nicht beeinträchtigen, da es in der Wagner-Oper nichts gibt, was man mit dem gewalttätigen Begriff "Schauspielen" bezeichnen könnte; in der Regel sieht man zwei schweigende Leute, von denen einer still steht und der andere Fliegen fängt; ich meine nur, dass die üblichen Operngesten des Ausstreckens der einen und der anderen Hand in die Luft diesen Sport andeuten würde, wenn der Darsteller sich streng daran hielte und keinen Laut von sich gäbe.

Die dargebotene Oper war "Parsifal". Frau Wagner erlaubt es nicht, dass diese Oper irgendwo anders als in Bayreuth gespielt wird. Der erste der drei Akte dauerte zwei Stunden, und ich genoss ihn trotz des Gesangs.

Ich bin mir, wie viele, sicher, dass der Gesang eines der bezauberndsten, bewegendsten und beredtsamsten Mittel zur Gefühlsvermittlung ist; es scheint mir jedoch, dass die Haupttugenden des Gesangs die Melodie und der Rhythmus oder wie man es auch nennt, sind, und wenn all dies wegfällt, bleibt nur ein Bild, dem die Farben fehlen. Ich konnte im "Parsifal" nichts entdecken, das mit Sicherheit als Rhythmus oder Melodie bezeichnet werden kann; eine Person sang jeweils alleine, – und das für lange Zeit – oft mit einer edlen und immer mit hoher Stimme; aber sie brachte nur lange Noten hervor, dann einige kurze, dann wieder eine lange, dann ein scharfes, schnelles, entschiedenes Bellen oder zwei – und so weiter, und so weiter; und wenn die Person fertig war, sah man, dass die Information, die sie mitgeteilt hatte, für die Störung, die sie verursacht hatte, keinen Ersatz bot. Nicht immer, aber sehr oft. Wenn zwei Personen gelegentlich ein Duett sangen, und ihre Stimmen verbanden, so geschah das nicht auf die sonst übliche Weise. Der große Meister, der es so gut verstand, hundert Instrumente zum Jubeln zu bringen und dazu, dass sie ihre Seele in einheitlichen melodischen Gezeiten wunderbarer Töne ergießen, bietet nur karge Soli in den Stimmen. Es mag sein, dass er tiefgründig war und den Gesang in seinen Opern nur hinzufügte, um einen Gegensatz zur Musik zu bieten. Gesang! Es scheint der falsche Name dafür zu sein. Streng gesagt besteht er hier hauptsächlich aus einer Übung schwieriger, unangenehmer Intervalle. Ein Uneingeweihter wird es müde, sich diese gymnastischen Intervalle lange anzuhören, so angenehm sie auch sein mögen. Im "Parsifal" gibt es einen Einsiedler namens Gurnemanz, der auf einem Fleck auf der Bühne steht und stundenlang übt, während zuerst der eine und dann der nächste Darsteller dies erduldet, so gut er kann und sich dann zum Sterben zurückzieht.

Während ich in den Pausen im Festgelände auf- und abschritt, begegnete ich zwölf oder fünfzehn Freunden aus verschiedenen Teilen Amerikas, und diejenigen unter ihnen, die mit Wagner am vertrautesten waren, sagten, dass "Parsifal" selten beim ersten Anhören gefiele; nachdem man ihn aber einige Male gehört habe, würde er sicher eine der Lieblingsopern werden. Es erschien unmöglich, aber es ist wahr, da diese Aussage von Leuten stammt, deren Wort nicht angezweifelt werden kann.

Dienstag. – Gestern spielten sie die einzige Lieblingsoper, die ich je hatte – eine Oper, die mich immer mit unschuldigem Vergnügen entzückte, wenn ich sie hörte – "Tannhäuser." Ich hörte sie zum ersten Mal in der letzten deutschen Saison in New York. Ich war gestern beschäftigt und wollte nicht hingehen, in dem Bewusstsein, dass ich in einigen Tagen eine weitere Gelegenheit haben würde, "Tannhäuser" zu hören; aber nach fünf Uhr fand ich, dass ich frei war und ging zum Opernhaus hinaus und kam ungefähr zu Anfang des zweiten Akts an. Meine Eintrittskarte erlaubte mir Zugang zum Gelände vor dem Festspielhaus, vorbei am Polizisten und an der Kette, und ich wollte mich auf einer Bank für eine oder zwei Stunden ausruhen und auf den dritten Akt warten.

Im Festpsielhaus gibt es im rückwärtigen Teil des Zuschauerraums eine Art offener Galerie, auf der die Fürsten zur Schau gestellt werden. Es ist ihnen heilig; es ist das Allerheiligste. Sobald das Festspielhaus voll ist, dreht sich die stehende Menge nach ihnen um und betrachtet die zur Schau stehenden Fürsten und blickt stumm, sehnsüchtig, bewundernd und bedauernd drein, wie Sünder, die in den Himmel hineinblicken. Sie werden verzückt, bewusstlos, sind in Andacht versunken. Es gibt kein lächerlicheres Spektakel als dieses. Es ist wert, viele Meere dafür zu überqueren. Es ist irgendwie nicht der gleiche Blick, den Menschen auf einen Victor Hugo, auf Niagara, oder auf die Gebeine des Mastodons, auf die Guillotine der Revolution, auf die große Pyramide von Gizeh, auf den fernen, dem Himmel entgegenrauchenden Vesuv, oder auf einen wegen seines Genies und seiner Taten bewunderten Menschen oder auf einen bekannten, in Büchern und Bildern gefeierten Gegenstand werfen – nein, dieser Blick ist nur der Blick intensiver Neugierde, intensiven Interesses, intensiven Erstaunens, der damit beschäftigt ist, große, wohlschmeckende Mengen zu trinken, die bis auf den Grund gut schmecken und den Durst des ganzen Lebens stillen. Stillen, das ist das Wort. Hugo und das Mastodon werden auch bei weiteren Begegnungen noch Erstaunen erwecken, das aber mit der Ekstase der ersten Begegnung nicht zu vergleichen ist. Das Interesse an einem Fürsten ist anders. Es mag Neid sein, es mag Verehrung sein, zweifellos ist es eine Mischung von beidem – und es kann diesen Durst nicht mit einem Blick erfüllen und ihn auch nicht wesentlich verringern. Vielleicht ist das Wesentliche der Sache der Wert, den Menschen etwas Wertvollem beimessen, das durch Glück erworben wurde und nicht verdient werden musste. Der eine Dollar, den man auf der Straße aufhebt, ist zufriedenstellender als die neunundneunzig Dollar, für die man hart arbeiten musste, und in einer Lotterie oder auf der Börse gewonnenes Geld schmiegt sich auf die selbe Art und Weise ans Herz. Ein Fürst erringt Ruhm, Macht, lebenslänglichen Urlaub und Gratisunterstützung durch reinen Zufall, den Zufall der Geburt, und er steht immer vor dem trauernden Auge der Armut und der Vergessenheit als ein riesiges Symbol des Glücks. Und dann – der größte Wert von allen – ist der, dass dies die einzige hohe Vorrangstellung ist, die sicher ist. Aus dem Wirtschaftsmillionär kann ein Bettler werden, der glanzvolle Staatsmann kann einen lebenswichtigen Fehler machen und fallen gelassen und vergessen werden; der glanzvolle General kann eine entscheidende Schlacht verlieren und mit ihr die Achtung der Menschen; wer jedoch einmal ein Fürst ist, ist immer ein Fürst – das heißt, ein Imitationsgott, und weder ein hartes Schicksal noch ein verruchtes Wesen, noch ein schwaches Gehirn, noch die Redekunst eines Esels kann ihm seinen göttlichen Status rauben. Aufgrund allgemeiner Übereinstimmung der Völker und aller Zeiten ist das Wertvollste auf dieser Welt die Verehrung der Menschen, ob verdient oder unverdient. Daraus folgt dann ohne Zweifel und ohne Frage, dass die wünschenswerteste Stellung die eines Fürsten ist. Und ich denke, dass auch klar ist, dass die sogenannten unrechtmäßigen Eroberungen, von denen die Geschichte voll ist, die entschuldbarsten Vergehen sind, die Menschen begangen haben. Eine unrechtmäßige Eroberung durch eine andere unrechtmäßige Eroberung außer Kraft zu setzen – das ist alles, worauf es hinausläuft, nicht wahr?

Selbstverständlich ist für uns ein Fürst nicht das, was er für einen Europäer ist. Wir sind nicht gelehrt worden, ihn als einen Gott zu betrachten, und so wird ein guter Blick auf ihn genug sein, um unsere Neugierde zu befriedigen, so dass er beim nächsten Anblick nicht von größerem Interesse sein wird. Wir wollen einen neuen Eindruck. Bei den Europäern verhält es sich aber anders, ich bin mir dessen ganz sicher. Der selbe alte Blick wird befriedigen, er wird nie fade. Vor achtzehn Jahren war ich in London und suchte das Haus eines Engländers an einem düsteren und trostlosen Dezembernachmittag auf, um dort seine Frau und Tochter wie vereinbart zu besuchen. Ich wartete eine halbe Stunde lang, und dann kamen sie erfroren an. Sie erklärten, dass sie sich durch einen unvorhergesehenen Zufall verspätet hatten: Während sie durch die Gegend des Marlborough House gingen, sahen sie eine Menge versammelt und erfuhren, dass der Prinz von Wales ausfahren wollte, so dass sie anhielten, um ihn zu sehen. Sie warteten eine halbe Stunde lang auf dem Gehsteig, frierend in der Menge, wurden aber letztendlich enttäuscht – der Prinz hatte sich anders entschieden. Ich sagte ziemlich überrascht: "Ist es möglich, dass Sie beide Ihr ganzes Leben in London lebten und den Prinzen von Wales noch nie gesehen haben?" Augenscheinlich waren sie überrascht, da sie ausriefen: "Welch ein Gedanke! Wir haben ihn hunderte von Malen gesehen."

"Ich kann das gar nicht verstehen. Falls ich General Grant noch nie gesehen hätte, zweifle ich, dass ich das getan hätte, um ihn sehen zu können," mit der Betonung auf "ihn."

Ihre ausdruckslosen Gesichter zeigten, dass sie sich wunderten, wo die Parallele liegt. Dann sagten sie glatt: "Selbstverständlich nicht. Er ist nur ein Präsident."

Es ist zweifellos eine Tatsache, dass ein Fürst ein Gegenstand immerwährenden Interesses ist, eines Interesses, das nicht verwelkt. Der General, der nie besiegt wurde, der General, der nie einen Kriegsrat hielt, der einzige General, der je eine 1200 Meilen lange Kriegsfront unter sich hatte, der Schmied, der die zerbrochenen Teile einer Republik zusammenflickte und sie wieder herstellte, so dass sie wahrscheinlich alle gegenwärtigen und künftigen Monarchien überdauern wird, war wirklich kein Mensch von Bedeutung für diese Leute. Für sie, mit ihrer Erziehung, war mein General letzten Endes nur ein Mensch, während der Prinz von Wales eindeutig mehr als das war – ein Wesen ganz ungleicher Gestalt, und mit den Menschen weniger blutsverwandt als die erhabenen, ewigen Lichter des Firmaments mit den armen, trüben Talgkerzen verwandt sind, die ausgehen und nichts hinterlassen als etwas Asche und Gestank.

Ich sah den letzten Akt von "Tannhäuser." Ich saß im Dunkeln und der tiefen Stille und wartete – eine Minute, zwei Minuten, ich weiß nicht genau, wie lange – dann begann die sanfte Orchestermusik ihre langen, tiefen Seufzer von der verborgenen Orchestergrube aus zu atmen, und langsam öffnete sich der Vorhang und zeigte den Wald im Zwielicht und einen Schrein am Weg, mit einem weißgekleideten betenden Mädchen und einem ihm nahe stehenden Mann. Plötzlich nahte sich der erhabene Männerchor, und von diesem Augenblick an bis zum fallenden Vorhang war es nur Musik – Musik, die einen vor Vergnügen trunken machen kann, Musik, die einen dazu veranlasst, den Stab zu ergreifen und seinen Weg um den halben Globus herumzubetteln, um sie zu hören.

Gestern wurde "Tristan und Isolde" gespielt. Ich habe alle Arten von Zuschauern gesehen – in Theatern, Opern, Konzerten, bei Vorlesungen, Predigten und Trauerfeiern – aber keine war der der Wagnerzuschauer in Bayreuth gleich in Bezug auf konzentrierte, ehrfurchtsvolle Aufmerksamkeit, absolute, versteinerte Aufmerksamkeit bis zum Ende eines Akts, mit der am Anfang des Akts eingenommenen Haltung vollkommen intakt. Man kann keine Bewegung der soliden Masse von Köpfen und Schultern entdecken. Man scheint mit den Toten im Dunkel eines Mausoleums zu sitzen. Man weiß, dass sie zutiefst erschüttert sind; dass es Zeiten gibt, wenn sie aufstehen wollen und ihre Tücher schwenken wollen und ihre Zustimmung hinausschreien wollen, und Zeiten, wenn ihnen Tränen herunterlaufen, und es wäre eine Erlösung, wenn sich ihre angestauten Gefühle in Seufzern oder Schreien entladen könnten; man hört jedoch keinen einzigen Laut bis sich der Vorhang schließt und die letzten Töne verklungen sind; dann erwachen die Toten auf einmal auf und erschüttern das Haus mit ihrem Beifall. Jeder Sitz ist im ersten Akt voll; es gibt keinen leeren im letzten Akt. Falls jemand auffallen will, soll er hierher kommen und sich inmitten eines Akts entfernen. Es würde ihn berühmt machen.

Freitag. – Gestern wurde wieder "Parsifal" gegeben. Die anderen gingen hin und zeigten einen höheren Grad ihrer Wertschätzung der Oper; ich machte mich aber auf die Suche nach Andenken an die Markgräfin Wilhelmine, die Wilhelmine der unverwüstlichen "Memoiren." Ich bin ihr angemessen dankbar für ihre (unbewusste) Satire auf die Monarchie und auf den Adel, und daher ist mir nichts, was sie berührte oder auf das sie blickte, indifferent. Ich bin ihr Pilger; der Rest der hiesigen Menge sind Wagner-Pilger.

Dienstag. – Ich habe meine letzten beiden Opern gesehen; meine Saison ist zu Ende, und wir fahren diesen Nachmittag nach Böhmen weiter. Ich hatte angenommen, dass meine musikalische Erneuerung erreicht und vervollkommnet wurde, da ich beide Opern, samt des Gesanges, genoss und da zudem eine davon "Parsifal" war, aber die Experten haben mich enttäuscht. Sie sagen: "Das war kein Gesang; das war das Geheul, das Gekreische von drittklassigen Obskuritäten, das uns im Interesse des Sparsamkeitssinnes dargeboten wurde."

Nun, ich hätte das Zeichen erkennen sollen – das alte, sichere Zeichen, das mich in Kunstangelegenheiten nie im Stich ließ. Immer, wenn ich Kunst genieße, bedeutet das, dass es ziemlich mies ist. Die geheime Erkenntnis dieser Tatsache hat mich davor bewahrt, mich vor aller Augen in Begeisterung aufzulösen. Jedoch bringt mir mein niedriger Instinkt manchmal einen Vorteil: Ich war der einzige von 3200, der bei diesen zwei Opern für sein Geld einen angemessenen Wert erhielt.


Zum Schluss sei Ihnen nicht jenes berόhmte Zitat von Mark Twain zum Bayreuther Meister vorenthalten:
"Wagners Musik ist besser, als sie klingt."

Einen sehr interessanten Artikel όber Mark Twains Verhδltnis zu Deutschland und der deutschen Sprache und Kultur von Fred Kaplan (aus DIE WELT vom Mai 2006) unter dem Titel Mark Twain besucht Deutschland. Ein Argloser in Deutschland bietet das Internet.