Liedtexte

und Erläuterungen

 

 

Manfred-Meditation

Endgültige Fassung 1877. Thematisch nimmt der Anfang der Manfred-Meditation den Gedanken der Sylvesternacht und des Nachklangs einer Sylvesternacht auf. Die Manfred-Meditation ist eine der wenigen Kompositionen, die keine Widmung trägt, die sich nicht an einen befreundeten Menschen richtet. Im Gegenteil: mit ihr will Nietzsche seine frühere Byron-Manie abstreifen, und gegen Schumann bekennt er 1888 im »Ecce homo«: »lch habe eigens, aus Ingrimm gegen diesen süßlichen Sachsen, eine Gegenouvertüre zum Manfred componirt.« Mit dieser Komposition tritt neu ein Wesenszug Nietzsches zutage, der sein ganzes späteres literarisches Werk zeichnen wird, kommt aber auch er selber in eine zwiespältige Stellung zum eigenen Schaffen, in der er zwischen stolzer Selbstbehauptung und bohrender Selbstkritik schwankt. Er läßt diese Manfred-Musik über den engsten Kreis der Freunde hinausgelangen - und begleitet sie mit herabwürdigenden Briefen. Überraschend bringt er diese Komposition in Verbindung mit dem philosophischen Werk, wenn er am 22. Februar 1881 an Peter Gast schreibt: »Hinter diesem ganzen Buche (»Morgenröte«) klingt mir meine Musik zu Manfred -.«

Hymnus auf die Freundschaft

Entstehungszeit 1872 -1875.

Nietzsche beschäftigte sich während einer ungewöhnlich langen Zeit mit seiner letzten eigentlichen Komposition, die das Thema »Freundschaft« in den Titel aufnahm und wohl ganz aus der Freundschaft mit Franz Overbeck erwachsen ist, mit dem er das vierhändige Klavierspiel besonders gepflegt hatte.

 

Klaus Groth (1819 -1899):

Mein Platz vor der Thür

Der Weg an unserm Zaun entlang,
wie wunderschön war das!
War morgens früh mein erster Gang,
bis an das Knie im Gras,
da spielt ich bis zum Dämmerschein
mit Steinen und mit Sand;
Großvater holt' mich abends rein
und nahm mich bei der Hand.
Dann wünschte ich mir groß zu sein
und übern Zaun zu sehn.
Großvater meinte: laß das sein!
Wird früh genug geschehn!
Es kam so weit; ich hab besehn
die Welt da draußen mir,
es war darin nicht halb so schön
als damals an der Thür.

Lied (Singst. u. Klav.), datiert
»1861«. Text von Klaus Groth: Okt./
Nov.1851. Nietzsche hat sich
noch von zwei anderen Gedichten
Groths zu Kompositionen anre-
gen lassen. Die drei Gedichte ge-
hören zur Gruppe der Quickborn-
lieder I in dithmarscher (nieder-
deutscher) Mundart. Nietzsche
lag eine nichtautorisierte Übertra-
gung ins Hochdeutsche vor:
Quickborn-Gedichte aus dem
Volksleben, aus dithmarscher
Mundart übertragen von A. v. Win-
terfeld, Berlin 1856 (im Verlag der
modernen Klassiker). Nietzsche
hat den Text unverändert über-
nommen. Über den Namen Quick-
born schreibt Klaus Groth:
»Quickborn nannten unsere Alten
Orte einer perennierenden
Quelle.« Nietzsche muß Groths Gedichte
sehr geschätzt haben. Er erwähnt
sie in seinem Tagebuch von1857/
58. Und im Tagebuch1861/62 ste-
hen sie unter »Bibliothek« neben
Shakespeare, »Kater Murr« u. a.
Klaus Groth hat von Nietzsches
Vertonung nie Kenntnis erhalten.
Erstausgabe von »Mein Platz vor
der Thür« in Musikalische Werke
von Friedrich Nietzsche. Heraus-
gegeben im Auftrage des Nietz-
sche Archivs von Georg Goehler.
Erster Band. Die Lieder, Leipzig
1924.

 

Da geht ein Bach

Da geht ein Bach das Thal entlang,
wohin er wohl nur will?
So geht mein Herz den ganzen Tag
und steht nicht einmal still.
Das steht erst an der Mühle still;
das Rad dreht sich herum.
Da steht es mir auf einmal still -

sag an, mein Herz, warum?
Das steht nicht still den ganzen Weg,
das wird nicht einmal matt.
Und geh ich erst den Weg herauf,
so klopft es wie ein Rad.
Das Rad das dreht, die Mühle geht
und drinnen tönt Gesang,
komm ich, so guckt ein Kopf heraus
läßt mich nicht warten lang.

Eine erste Klavierfassung muß im
Sommer (Juli) 1862 entstanden
sein. Die Liedfassung, allerdings
nur mit beigegebenem Text, nicht
mit separatem System für die
Singstimme, trägt den Titel: »Da
geht ein Bach von Klaus Groth /
meiner Tante Rosalie / comp. v.
F. W. Nietzsche« (Rosalie Nietz-
sche war eine Schwester von
Nietzsches Vater und lebte bis
1856 im gemeinsamen Haushalt
in Naumburg).
Das Gedicht von Klaus Groth aus
dem August 1852 steht als Nr. 2
in der Gruppe »Fiv nie Leeder ton
Singn« (Fünf neue Lieder zum
Singen) in den Quickbornliedern.
Von den sechs Strophen des
Originals hat Nietzsche nur die
ersten vier vertont. Zu dem nie-
der deutschen Text hatte der mit
Groth befreundete Brahms eine
Melodie entworfen, gab aber die
weitere Komposition zunächst
auf, weil er den Dialekt als »ihm
zu nahe« empfand; er unterlegte
dann einen Text von Paul Heyse
(Am Wildbach die Weiden) und
setzte das Stück für vier Frauen-
stimmen.

 Alexander Puschkin (1799 -1837):

Beschwörung

O, wenn es wahr, daß in der Nacht,
wann alle ruhen, die da leben,
und wann die Mondesstrahlen sacht
herab auf Leichensteine schweben,
o, wenn es wahr ist, daß dann
die Gräber öffnen sich, die stillen,
wart' ich, ruf ich Leila zurück mir:
Komm zu mir, mein Lieb, zu mir, zu mir!
Zeig dich, geliebter Schatten, so
wie du erschienest vor dem Scheiden,
wie Wintertag so kalt, so bleich,
entstellt vom letzten Todesleiden.
Schweb wie ein ferner Stern heran,
wie leiser Klang, wie Windeswehen,
wie ein Gesicht schrecklich zu sehn.
Mir ist es alles gleich: zu mir, zu mir!
Doch rufe ich dich darum nicht,
nicht, um das Schicksal anzuklagen,
das den geliebten Engel nahm.
Ich will nicht Rätsel mehr erfragen,
nicht darum, weil mich immer wieder
der Zweifel quält, ich will nur sagen:
Ich liebe dich, ich liebe ewig dich!
Komm zu mir, zu mir!

Das Gedicht von Alexander
Puschkin ist aus dem Jahre 1828.
Nietzsche benützte die Ausgabe
im Verlag der modernen Klassiker,
Berlin 1858, S. 79. Das Bändchen
befindet sich noch in Nietzsches
nachgelassener Bibliothek in
Weimar. Einzige Textabweichung:
Takt 12: »leeren« statt »öffnen«.
Im zweiten Takt und in der letzten
Strophe befinden sich Bleistift-
korrekturen von unbekannter
Hand.

Sándor Petöfi (1823 -1849):

Nachspiel

Ich möchte lassen diese glanzumspielte
Welt,
in der mich Lust und Wehe rings
umsponnen hält,
und möchte fortziehn, fort von den
Menschen weit
in eine wilde schöne Waldeinsamkeit.
Dort würde ich dem Laubgeflüster
lauschen
und horchen auf des hellen Bächleins
Rauschen
und auf der Vögel Sang, sehen der Sonne
Untergang
und endlich selber mit ihr untergehen.

Das Lied ist das erste einer Reihe
von Vertonungen nach Gedichten
des ungarischen Lyrikers Sándor
(Alexander) Petöfi. Auch zu Petöfi
besaß Nietzsche das Bändchen
des Verlags der modernen Klassi-
ker, das aber die vertonten Ge-
dichte nicht enthält.
Nach Georg Goehler liegt den
Liedern »die Übersetzung von
Karl Maria Kertbeny zugrunde, die
1858 in Leipzig ... erschienen ist«.
Petöfis Lyrik ist in Gruppen
gegliedert. Das1846 entstandene
Gedicht ist der Gruppe VII »Ster-
nenlose Nächte« entnommen.
(Kertbeny-Ausgabe, S.180 als
Nr. 2). Der Titel »Nachspiel« ist
nicht original, vermutlich von
Nietzsche. Weil hier die textlichen
Änderungen besonders weit ge-
hen, zu diesem Gedicht die Kert-
beny-Fassung:
Ich möchte lassen diese
glanzumspielte Welt
In der manch dunkler Fleck ins
Aug' mir fällt,
Und möchte fortziehn von den
Menschen weit
In eine wilde Einsamkeit.
Dort würde ich dem Laubgeflüster
lauschen
Und horchen auf des Bächleins
Rauschen
Und auf der Vögel Sang,
Und würde nach der Wolken
Wandrung sehen
Und nach der Sonne Auf- und
Untergang, -
Und endlich selber mit ihr
untergehen.

Unendlich

Du nur bist, du liebes Mädchen,
Licht des Auges, Licht der Seele,
dich allein ich hier wie jenseit mir
als Hoffnung wähle.
Ist auch sie ein Traum,
dann bin ich glücklos, glücklos allerorten
auf der Erde wie im Himmel glücklos
hier und dorten!
Stehe sinnend hier am Bache
bei den stillen Trauerweiden,
passend ist für mich die Stätte,
der ich voll von Leiden.
Schaue niederhangen diese Zweige
hier in Ringen, und sie gleichen
meiner Seele fluggelähmten Schwingen.
Aus der Herbstflur zog der Vogel,
suchte südwärts fortzurücken,
könnte ich nun auch schon endlich
meinem Schmerz entfliehen!
Er ist groß wie meiner Liebe
allgewaltge Triebe, und die Liebe?
A-ch un-endlich ist in mir die Liebe!

Das Petöfi -Gedicht gehört zur
Gruppe »Dritter Liebe Blüten«,
(1846) als Nr. 4, Kertbeny-Ausga-
be 1858, S. 256 f.
Textabweichungen:
(Kertbeny:)
Du nur bist, du braunes Mädchen
Licht des Augs, der Seele
Bei den Trauerweiden
Passend ist für mich das
Plätzchen
suchte fortzuziehen.
Musikalisch bemerkenswert ist
der Dominantschluß.

Verwelkt

Du warst ja meine einzge Blume,
verwelkt bist du - kahl ist mein Leben.
Du warst für mich die strahlende Sonne
du schiedst ich bin von Nacht umgeben,
Warst meiner Seele leichteste Schwinge,
du brachst, ich kann nun nimmer fliegen,
Du warst die Wärme meines Blutes
du flohst, ich muß dem Frost erliegen.

Das Petöfi-Gedicht von 1845
findet sich in der Gruppe V: »Cy-
pressenblätter«: »Vom Grabe
Etelka's« als Nr. 5, Kertbeny.
Ausgabe 1858, S. 152.
Der Titel ist auch hier nicht origi-
nal, der Text nur in der dritten
Strophe abweichend, um ihn der
isorhythmischen Gestalt der Me-
lodieteile anzupassen. Original:
»Warst meiner Phantasie die
Schwinge.«

»Verwelkt« ist das Lied mit einem
»erfrorenen« Schluß. Nietzsche
hat also bewußt seine nicht auf
die Tonika fallenden Schlüsse
eingesetzt, hier auf die Subdomi-
nante.

Friedrich Nietzsche (1844 -1900):

Es winkt und neigt sich

Es winkt und neigt sich seltsam am
Fenster die Rebe roth
und kündet mir mitleidig der heißen Liebe
Tod.
Die wilde Weinesranke so roth wie helles
Blut
neigt sich wie mein Gedanke sich wiegt in
stiller Fluth.
Hoch auf und wieder nieder sie wie im
Traume nickt.
Ob sie in meinem Auge wohl eine Thräne
blickt?
Du wilde Weinesranke zerflatternd
Blatt um Blatt,
du sagst mir, daß die Liebe ein
schmerzlich Ende hat.

 

 

In Takt 4 ist von fremder Hand mit
Bleistift eine harmonische Varian-
te eingetragen. Spätere undatierte
Abschriften haben teilweise nur
diese Variante übernommen. Eine
auf »Weimar 29. Juni 1911« datier-
te Kopie kennt sie aber noch
nicht, also wird die Lesart erst
später entstanden sein.
In Nietzsches Verzeichnis von
1866 ist das Lied als Nr. 12 mit
dem Titel »Es wiegt (statt winkt)
und neigt« - »von mir« - aufge-
führt. Wahrscheinlich also handelt
es sich um ein Gedicht von
Nietzsche, vielleicht hat er sich
auch von Petöfi zu einer völlig
freien Nachdichtung anregen las-
sen und darum Petöfi im Inhalts-
verzeichnis genannt.

Hoffmann von Fallersleben (1798 -1874):

Wie sich Rebenranken schwingen

Wie sich Rebenranken schwingen
in der linden Lüfte Hauch,
wie sich weiße Winden schlingen
lustig um den Rosenstrauch:
also schmiegen sich und ranken
frühlingsselig, still und mild
meine Tag- und Nachtgedanken
um ihr trautes liebes Bild.

Der Text ist von Hoffmann von
Fallersleben, Nr. 5 der Abteilung
Liebe und Frühling in den Lyri-
schen Gedichten, entstanden
zwischen dem 15. Juni und 10. Juli
1833 (Gesammelte Werke, Berlin
1890, Bd. 1, 233). Der alte Hoff-
mann von Fallersleben weilte im
Oktober1863 zu Besuch in
Schulpforta. Nietzsche schreibt
darüber: »Heute wohnte er der
Chorsingstunde bei, wir sangen
mehrere von ihm gedichtete Lie-
der.« Die Vorbereitungen der
Schule auf diese Chorstunde mö-
gen Nietzsche zu seiner Kompo-
sition angeregt haben.
Nietzsche hat dieses Lied seiner
Tante Ida Oehler (Schwester der
Mutter) gewidmet. In Takt 21 sieht
Nietzsche eine Textvariante vor
(»ihr, sein, dein«) und bemerkt da-
zu: beliebige Lesart, kann sich
auch auf meinen zukünftigen
Herrn Onkel beziehen. Er spielt
damit auf die bevorstehende
Hochzeit seiner Tante mit Moritz
Schenkel, Pfarrer in Cainsdorf,
Ende August1863 an.

 

 

Die Texte sind dem Programmheft anläßlich einer Matinee des dtv-Verlags im Jahr 1981 entnommen, bei der Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann diese Werke zur Aufführung brachten.

Zurück zur Musikseite