Die Krankheit

Berichte und Bilder

1. Rede von Dr. Horneffer am offenen Sarg Nietzsches im Archiv

2. Bericht von Dr. Simchowitz 1889

3. Bericht von Franz Overbeck aus Jena 1890

4. Kai Agthe über Franziska Nietzsches Fahrten mit der Naumburger "wilden Zicke" 1892-1896

5. Aus: Lange-Eichbaum - Genie, Irrsinn und Ruhm, Die Philosophen und Denker
 


Nietzsche in der Nervenklinik Jena



Nach dem Zusammenbruch in Turin (s. dort) zum Jahreswechsel 1888/1889 wird Nietzsche durch Overbeck zunächst vom 10.-17. Januar 1889 in Basel in die neue "Kantonale Irrenanstalt Basel Stadt" eingeliefert, die vom dortigen Chefarzt Prof. Dr. Ludwig Wille geleitet wurde, der Nietzsche von früher her bekannt war. Dieser "trug eigenhändig am Kopf des Krankenblattes die Diagnose 'Paralysis progressiva' ein". Sehen Sie hier Fotografien der Originaldokumente:


Das "Aufnahmesgesuch" vom 10.01.1889
 

Die Baseler Diagnose

 

Die Mutter wollte ihren Sohn in ihrer Nähe haben, und so wurde Nietzsche in die Naumburg am nächsten gelegene Jenaer Nervenklinik verlegt, wo er vom 19. Januar 1889 bis zum 24. März 1890 in Behandlung blieb.
Leiter der Anstalt war seit 1882 Prof. Dr. Otto Binswanger, zu dessen ersten Maßnahmen die Abschaffung von Einschließung der Kranken und der Zwangsjacken gehört hatte.

Die Aufzeichnungen bei der Aufnahme Nietzsches in der Irren-Heil- und Pflege-Anstalt zu Jena sind im Nietzschehaus in Naumberg (Weingarten 18) zu sehen; hier die Untersuchungsbefunde, die Sie durch Anklicken vergrößern können.

Bericht des damaligen Medizinstudenten, späteren Dr. S. Simchowitz aus seiner Studienzeit in Jena:

"Es war in der zweiten Hälfte des Wintersemesters 1888-89. Ich weilte als älterer Mediziner in Jena und besuchte die psychiatrische Klinik des Professor Otto Binswanger. Eines Tages wurde ein Patient in den Hörsaal geführt, der vor Kurzem in die Anstalt gebracht worden war. Der Dozent stellte ihn uns als – Herrn Professor Nietzsche vor! Wenn man jetzt in einem Auditorium den Namen Nietzsche nennt, so bedarf es keiner weiteren Erklärungen. Damals aber lagen die Dinge anders. Der Name Nietzsche war in Deutschland so gut wie unbekannt, nicht nur uns Jenenser Klinizisten, sondern auch noch ganz anderen Leuten. Es gibt dafür einen klassischen Zeugen: in der vierten Auflage von Meyer’s Konversationslexikon, vom Jahre 1889, ist Nietzsche noch nicht zu finden. In seiner äußeren Erscheinung machte Nietzsche auf den ersten Blick nicht den Eindruck eines Kranken: Die mittelgroße Figur, das ausdrucksvolle Gesicht waren wohl hager, aber nicht gerade verfallen. Allerdings schien er seinen guten Tag zu haben: er war bei klarem Bewußtsein und gutem Erinnerungsvermögen. Prof. Binswanger ließ sich mit ihm in eine Unterhaltung über sein Vorleben ein. Wir erfuhren, daß er bereits mit 24 Jahren Professor in Basel war und daß später anhaltende Kopfschmerzen ihn gezwungen hatten, sein Amt niederzulegen. Von seiner schriftstellerischen Tätigkeit erwähnte er kein Wort. Zuletzt, so berichtete er, hätte er in Turin gelebt, und er begann diesen Ort zu rühmen, der ihm besonders behagt hätte, da er die Vorzüge der Großstadt und der Kleinstadt vereinige, und nun schloß er ganz spontan daran eine allgemeine Auseinandersetzung über die Eigentümlichkeiten der Großstadt und Kleinstadt. Dies Raisonnement machte mich hoch aufhorchen: so habe ich noch nie einen Menschen sprechen hören. Später, als ich Nietzsche las, wurde mir klar; was mich so stutzig gemacht hatte.

Ich hatte eben zum ersten Mal die Zauberwirkung des Nietzsche’schen Stils verspürt. Denn er sprach so, wie er schrieb: Knappe Sätze voll eigentümlicher Wortkombinationen und kunstreicher Antithesen, selbst die eingestreuten französischen und italienischen Wendungen, die er namentlich in seinen letzten Schriften so liebt, fehlten nicht.

Seine Art, zu sprechen, hatte durchaus nichts Professorales oder Dozierendes an sich. Es war eine Causerie, und an dem sanften Ton der sympathischen Stimme und der vornehmen Mimik und Gestikulationen erkannte man den Mann von bester Erziehung. Leider führte er seine Auseinandersetzung nicht zu Ende, mitten in einem Satz riß ihm der Gedankenfaden und er versank in Schweigen.–

Prof. Binswanger wollte nun seinen Hörern einige Störungen im Gange des Kranken demonstrieren. Er bat Nietzsche, im Zimmer auf- und abzugehen. Aber der Patient tat das so langsam und lässig, daß man die fraglichen Symptome nicht wahrnehmen konnte. – ‚Nun, Herr Professor’, wandte sich Binswanger an ihn, ‚ein alter Soldat, wie Sie, wird doch noch ordentlich marschieren können!’-Diese Erinnerung an seine Militärzeit schien ihn angenehm zu berühren. Sein Auge leuchtete auf, seine Gestalt wurde straffer, und er begann festen Schrittes den Hörsaal zu durchmessen. –

Kurze Zeit darauf sah ich Nietzsche wieder, gelegentlich der Visite, die unser Lehrer mit uns auf den Krankenstationen abzuhalten pflegte. Er bot da allerdings ein anderes Bild, er befand sich in einem Zustand hochgradiger Aufregung und sein Bewußtsein war offenbar getrübt. Mit stark gerötetem Antlitz und wild-schmerzlich flackerndem Auge saß er da von einem Wärter bewacht. Es war das letzte Mal, daß ich Nietzsche gesehen habe; nicht lange danach ist er von Jena fortgebracht worden."

(Frankfurter Zeitung Nr. 247 vom 07.09.1900)

 

Overbeck notierte sich über Langbehn-Affäre und die Begegnung mit dem kranken Nietzsche, die vom 23.-25. Februar 1890 in Jena stattfand:

"Mit Erlaubnis des Arztes konnte ich mit ihm nun außerhalb des Irrenhauses stundenlang verkehren, zusammensitzen, essen, und selbst in der Nähe der Stadt allein spazieren gehen. In diesem Verkehr hätte uns ein ganz fremder Dritter, abgesehen von einigen Narreteien in Nietzsches Gebaren – bei Tische oder draußen auf der Straße, wenn er nach Hunden oder selbst Menschen, die plötzlich auftauchten, zu schlagen suchte und dergl. – kaum zu irgend welchen befremdlichen Beobachtungen Anlaß finden mögen. Für ihn konnten wir zwei alte Freunde sein, und nur ich wußte, daß unser Verkehr nur noch ausschließlich von einer Vergangenheit lebte. Nietzsche hatte mich sofort bei unserer ersten Begegnung in der Wohnung seiner Mutter in Jena begrüßt, als hätte nichts unsere alten Beziehungen erschüttert, und so ging es bis zu meiner Abreise von Jena. Nietzsches Mitteilsamkeit war in unseren Gesprächen fast nur gesteigert, aber ihren Inhalt schöpften diese Gespräche fast ausschließlich aus der Zeit vor Ausbruch seines Wahnsinns. Meinerseits fehlte es nicht an Versuchen, seine Gedanken auf seine jüngsten Erlebnisse zu lenken, aus denen mich besonders sein erst vor kurzem abgebrochener Verkehr mit dem Dr. Langbehn interessierte. Vergebens: Wohl verstand sich Nietzsche zuweilen, und dies auch ohne Veranlassung durch mich, zu verworrenen Mitteilungen über seine gegenwärtigen Erlebnisse, z. B. über seinen Verkehr im Irrenhause, von dem ihm Bewußtsein durchaus nicht fehlte, im ganzen schien er Erinnerungen aus seiner jüngsten Vergangenheit gar nicht zu haben, bisweilen ihnen geflissentlich auszuweichen – den Dr. Langbehn z. B. wollte er kaum überhaupt gekannt haben; worüber wir uns, und zwar ganz in der alten vertraulichen Weise, unterhielten, stammte so gut wie ausschließlich aus der hinter jenem Moment des Wahnsinnsausbruches liegenden Vergangenheit. Zwar waren die Erinnerungen auch aus dieser Zeit bei Nietzsche nichts weniger als zuverlässig, so detailliert und scheinbar sicher sie sich auch gaben. Denn mit denen, die auffallend bestimmt luzid und vollkommen korrekt waren, mischten sich andere, die verworren und zum Teil selbst ganz phantastischer Art waren. Aber im ganzen ließ sich sagen, daß Nietzsche aus jener hinter dem Moment seiner Geisteszerrüttung liegenden Periode noch einen bedeutenden Schatz von wirklichen Erinnerungen hatte, und über diesen ganz unbefangen verfügte, während was jünger war, für ihn gleichsam wie erloschen war, ja gleichsam nie von ihm erfaßt worden zu sein schien. Unter diesen Umständen gestaltete sich unser Verkehr damals – er währte drei Tage – so wie wenn er von zwei verschiedenen Planeten aus stattgefunden hätte. Ich war auf dem alten einst, d. h. bis zum Ausbruch seines Wahnsinns gemeinschaftlich bewohnten geblieben, Nietzsche befand sich auf dem neuen, wir konnten uns aber nur noch über Dinge austauschen, die jener früheren Periode angehörten, und auch von diesen hatte Nietzsche nur noch gebrochene Erinnerungen. Unter diesen veränderten Bedingungen verkehrten wir, als wäre zwischen uns nichts geschehen, als die alten Freunde. Als Beispiel aus diesem Verkehr erwähne ich nur die Besprechung der Rückkehr Nietzsches in seine Basler Stellung, auf die er immer wieder zurückkam, indem er seiner Wiederherstellung nahe zu sein wähnte. Mir schon damals ein besonders starkes Symptom seiner Geisteszerrüttung, wenn ich bedachte, welches Gewicht er in seinen noch gesunden Tagen seit Jahren darauf gelegt hatte, sich aus jener Stellung herausgelöst zu haben! Demnächst trat mir als solches Symptom in unsern damaligen Gesprächen der Umstand entgegen, daß sie sich meist auf äußere Verhältnisse Nietzsches bezogen, daher auch vornehmlich Personen, zu denen Nietzsche Beziehungen gehabt hatte, betrafen (Wagner u. a.) und hier nun jene wunderbare Mischung von Helligkeit und Verworrenheit der Erinnerung zeigten, während Nietzsche auf seine Schriften und zumal auf die noch unerledigten schriftstellerischen Pläne, welche die ihn jedenfalls ganz absorbierende Sorge seiner letzten hellen Tage gewesen waren, kaum je sich einließ. Nicht zwar, daß es auch in den hier beschriebenen Unterredungen in Jena an Geistesblitzen gefehlt hätte, die an Nietzsches höchste Aspirationen noch erinnern konnten, manches vielmehr überraschte mich damals in diesem Sinne; im ganzen war dergleichen auffallend spärlich geworden, und ich hatte den Eindruck, als könne sich Nietzsches Geist nur noch ausnahmsweise erheben, ohne ins Phantastische sich zu verlieren, während ich dem übrigen ganzen Tenor seines Gebarens überhaupt nur noch den Grundzug einer bis zur Herabstimmung oder Erschlaffung gehenden Beruhigung abnahm. Auch zeigte Nietzsche jetzt keine Spur von jener in Turin an den Tag gelegten Widerspenstigkeit, da er vielmehr nun auch für mich bei allen schon erwähnten Narreteien sich lenksam wie ein Kind zeigte – besonders dadurch, daß die Richtung seiner Gedanken sich sofort verrücken ließ und jedem andern, der mit ihm zu tun hatte, sofort preisgegeben war, – insbesondere, ganz gegen meine nur vor der Erfahrung weichende Besorgnis, sich auch, bei unserer etwa auch erst gegen Abend erfolgenden Rückkehr vom Spaziergang, ohne die geringste Schwierigkeit seinem Quartier im Irrenhaus wieder zuführen ließ. So ist mir denn, wenn auch erst in spät nachträglichem Rückblick auf meine Erlebnisse mit Nietzsche, auch dieses mein drittes Wiedersehen mit ihm seit seiner Geistesumnachtung erschienen als ein Anzeichen dafür, wie nachhaltig zugetan er mir war. Freilich als ich nach Ablauf der zu meiner damaligen Reise nach Jena benutzten Fastnachtsferien wieder heimkehrte, waren es ganz andere und viel traurigere Eindrücke, die mich ganz einnahmen, als der der noch bestehenden Quasi-Integrität unserer Freundschaft. Doch wie dem auch sein mag, auf jeden Fall war der Eindruck der letzte seiner Art, den ich überhaupt noch haben sollte."

(Bernoulli, Overbeck und Nietzsche, Band II, S. 419 ff.).

Vom 24. März 1890 bis zum 13. Mai 1890 nahm die Mutter ihren Sohn in Jena in der Nähe der Klinik in einer eigens dafür gemieteten Wohnung zu sich, um ihn schließlich vom 13. Mai 1890 bis zu ihrem Tod im Juli 1897 in ihrem eigenen Haus in Naumburg aufopferungsvoll zu pflegen.
Nun war die Gelegenheit für Nietzsches Schwester Elisabeth gekommen: im August 1897 zog sie mit Nietzsche in Weimar in die Villa "Silberblick", das heutige Nietzsche-Archiv, die ihrem Bruder Nietzsche von einer Schweizer Gönnerin geschenkt worden war. Dort verblieb er, in der Hauptsache betreut von der alten Haushälterin Alwine, bis zu seinem Tode im August 1900.

Nicht nur am Grabe des Philosophen in Röcken wurden Reden gehalten, sondern auch bereits bei einer kleinen Trauerfreier am 27. August 1900 - unter anderem gedachte Dr. Ernst Horneffer, der damalige Herausgeber der Werke, Nietzsches am offenen Sarge. Nehmen Sie teil am Geschehen unmittelbar nach Nietzsches Tod.
Näheres zur Beerdigung Nietzsches sowie zu seinem Grabmal finden Sie auf meiner Röckenseite.


Das Nietzsche-Archiv in Weimar

Näheres zum Nietzsche-Archiv im exzellenten Artikel bei WIKIPEDIA!


Video (WMV) 286 KB
Gestellte Szene: Elisabeht umsorgt den kranken Bruder im Archiv




Kai Agthe im Naumburger Tageblatt vom 31. März 2007
über Franziska und Friedrich Nietzsches Fahrten mit der Dampfbahn "wilde Zicke"
und Franz Overbecks letzten Besuch 1895 in Naumburg

Im Jahr 1892 wurde in Naumburg die erste Straßenbahnlinie in Form einer Dampfbahn eröffnet; diese fuhr vom Bahnhof bis direkt zum Haus der Nietzsches Weingarten 18, von dessen bekannter Veranda aus der kranke Philosoph den Bahnbetrieb gut übersehen (und nicht überhören ...) konnte, und deren "prominentester Passagier" er wohl war. Lesen Sie den Bericht von Kai Agthe im Naumburger Tageblatt über diese wenig bekannten Details aus den letzten Naumburger Jahren Friedrich Nietzsches.



Gekürzter Auszug aus:

Wilhelm Lange-Eichbaum / Wolfram Kurth

Genie, Irrsinn und Ruhm, Band 7
Die Philosophen und Denker

Nietzsche ist politisch gefährlich [. . .]. Er als Mensch war arm, makellos, rein – ein großer Märtyrer und Mann. Ich könnte hinzufügen, für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie. Gottfried Benn

Friedrich Nietzsche, Wegbahner des Übermenschen und ein Außenseiter unter den deutschen Philosophen, wurde am 15. Oktober 1844 als erstgeborener Sohn des Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche, einem musischen und weichherzigen Mann, in Racken [nahe Lützen] geboren. Beide Elternteile besaßen eine intellektuell eher kosmopolitische Lebenseinstellung, obwohl man Friedrichs Frühreife und "Gelehrtheit" nicht ausschließlich auf diese Art von Bildung zurückführen kann, sondern auch auf eine genetische Komponente. Der selbstkritische und eher introvertiert wirkende Friedrich vermochte schon früh zu komponieren und zu dichten, was heißt, daß er eben eine komplexe Begabungsstruktur aufwies, die konstitutionell erworben war. Von Natur aus erschien er ernst, doch übertrug sich auf ihn auch das elterliche Schwärmertum und die Selbstmitleidlosigkeit, so daß er später sagte, er wolle gern ein Narr sein. Da der Vater früh starb (1849), wuchs Friedrich als hochintelligenter "Musterknabe" unter Frauen auf, was vermutlich sein eitles Wesen gefördert hat. Friedrich besaß zudem einen enormen Ehrgeiz, den man bereits fast pathologisch bezeichnen könnte, und machte rasch Karriere, bis er 1884 seinen ersten geistigen Zusammenbruch hatte [geisteskrank] im Zuge einer Syphilis, die er allerdings ignorierte. Nietzsche, der eine "rücksichtslose Ehrlichkeit gegen sich selbst" an den Tag gelegt hatte, starb am 25. August 1900 in Weimar, wo ihn seine Schwester drei Jahre gepflegt hatte, allerdings nicht "zu Tode".

PATHOGRAMM Es gibt kaum eine bedeutendere Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, über welche die Meinungen der forschenden Wissenschaft so auseinandergingen und sich so divergent gegenüberstanden wie bei Nietzsche. Der Fall Nietzsche ist somit ein treffliches Beispiel, wie Heroisierung, katathyme Verfärbung bzw. Verdunkelung und nicht zuletzt auch grobe Lügen, ebenfalls mit dem Wunsche zu verdunkeln und irrezuführen, herangezogen und benutzt wurden, um ein angebetetes Idol nicht antasten zu lassen. Über die Diagnose progressive Paralyse bei Nietzsche besteht heute kein Zweifel mehr, nicht zuletzt dank Lange-Eichbaums grundlegender, alle forscherischen Ergebnisse kritisch zusammenfassender Monographie über Nietzsche. Im folgenden soll aber noch einmal der ganze Fall als, wie gesagt, klassisches Beispiel [s.o.] aufgerollt werden, wobei im einzelnen die verschiedenen diagnostischen Auffassungen über Nietzsche getrennt dargestellt werden sollen:

1. Zur Vorgeschichte der prämorbiden Persönlichkeit Nietzsches: Vater Pfarrer, starb infolge eines Sturzes an Gehirnleiden. Nietzsches Äußeres ist vorwiegend nordisch. Er ist aus dem thüringisch-obersächsischen Volksstamm hervorgegangen. Die Vorfahren Nietzsches sind fast ausnahmslos Obersachsen und Thüringer. Nietzsche hatte unter seinen Ahnen viele Pastoren, aber nicht so viele, wie gewöhnlich angenommen wird [im ganzen 12, davon 11 in der väterlichen Ahnenreihe]. Unnordisch ist das maßlos Leidenschaftliche, Fanatische seiner Denk- und Schreibweise, sein Haß. Dinarisch ist das Prophetische seines Wesens. Dazu kommt ein slawischer Zug, demnach Nietzsches Rassenzusammensetzung nordisch-dinarisch-ostbaltisch [Rauschenberger; s. a. Rauschenberger]. [Für Rauschenberger als einen an sich klugen und belesenen, jedoch narzißtisch-tendenziös eingestellten Gelehrten kam es immer wieder darauf an, seine "Helden" in einem möglichst rassisch-"nordischen" Licht zu sehen, entsprechend der verfehlten Rassentheorie einer vergangen Ära.] Scheuer, der Nietzsches Universitätszeit dokumentarisch erforscht hat, kommt zu dem Ergebnis, daß Nietzsche sein Studentenleben richtig ausgekostet habe, nichts weise auf Pathologisches, nichts falle aus der Denk- und Lebensweise eines begabten Jünglings heraus. Eher fänden sich derartige Züge in Nietzsches Kindheit. – Sein Sexualleben ist uns fast völlig unbekannt. Wir wissen nur, daß er eine Syphilis hatte. Wir wissen außerdem, daß er wahrscheinlich erblich syphilitisch war [auch weitere Literatur]. Schwere Anfälle von Kopfschmerzen mit Erbrechen und Sehstörungen, die ihn bereits mit 35 Jahren nötigten, seinen Beruf als akademischer Lehrer aufzugeben.

2.Verschiedene Diagnosen psychischer Erkrankung, jedoch nicht Lues- oder Paralyse-spezifische: Funktioneller Astheniker. "Weibernerven". "Meteoropathie". Wahrscheinlich "keine echte Paralyse", sondern "Haschischparalyse" [?]. Unbewußte homosexuelle Komponente in Nietzsches Liebe zu Wagner. Hysteria virilis mit Übergang in Paranoia [?]. Gewollte Flucht in die Krankheit [Gegen Stekel]. Keine Homosexualität, keine Flucht in Psychose, keine Paranoia. Sehstörungen vielfach psychogen, funktionelle Neurose; das schließt echte Migräne nicht aus. Paralyse beginnt nicht 1881; Inspirationsschilderung nicht paralytisch. Geborener Psychopath. Zur Sprache des Zarathustra. Mette hebt die Darstellung des Dionysischen bei Nietzsche hervor. – Clairvoyante. Keine exakte Diagnose, sondern: verwirrtes Hirn (28) [allerdings im Todesjahr Nietzsches erschienen]. Nordau erkennt das Psychopathologische vielfach sehr richtig, wenn auch seine Darstellung ans Pamphletische grenzt. Psychoanalytisch [nach Prinzhorn allerdings verfehlt] sexuell und sozial frustriert.

Oscillationen zwischen Vitalitätssteigerung und Depression in den Jahren 1876-1880 seien nicht Wetterleuchten der Paralyse, sondern Ausdruck der Vitalschwankungen. "Es ist eine Art germanischer Prahlerei in diesem lebhaften Redestrom [...]. Sein Denken wie sein Stil zeigen ihn als Kind der Romantik" sagt Durant [der sich mehr mit dem Werk als der Persönlichkeit Nietzsches direkt auseinandersetzt]. Zur Frage, ob Nietzsche Haschisch gebraucht habe, zitiert Hofmiller eine Äußerung Maria von Bradkes über Nietzsche 1886: "Er sprach mir von seinen furchtbaren Kopfschmerzen, und daß ihm ein Bekannter – ich glaube aus Indien – ein Gift dagegen gegeben habe, nach dessen Einnehmen er wie tot liegen geblieben sei. Auch andere starke Gifte habe er gebraucht" [Zweifelsohne absichtliche Täuschung].

Bei ihm eine in die Gruppe der Schizophrenien gehörige Krankheit. Schon lange vor Ausbruch der eigentlichen Geisteskrankheit hätten sich zahlreiche Zeichen schizoider Psychopathie mit hysterischen Zügen gefunden. Schließlich entwickelte sich auf dem Boden schizoider Veranlagung eine Schizophrenie paranoider Prägung mit Ausgang in Verblödung. Nietzsches Feindschaft zum Christentum sei nur aus der Krise seines Zeitalters zu verstehen, führt Jaspers an. Nietzsche hat sich mitunter mit Jesus identifiziert. Diese Selbstidentifizierung mit dem Gegner charakterisierte Nietzsches tiefstes Wesen. Er sah sich selbst in den Gegensätzen verkörpert. Auf seine Krankheit wird hier nur noch andeutungsweise eingegangen, sein Werk liege im Schatten der Krankheit. Nietzsche schäumt heidnischen Haß gegen den Gekreuzigten [Kroner, der Nietzsche mit Dostojewsky und Strindberg vergleicht].

3. Meinungen, diktiert von katathym gefärbter Verehrung bzw. kritiklos: Nachdem Nigg den Ärzten die Kompetenz einer Diagnosestellung abspricht, meint er: "Nietzsches Versinken in den Wahnsinn muß mit behutsamer Vorsicht metaphysisch betrachtet werden [...]. Der Ausbruch von N.s Wahnsinn war eine innere Notwendigkeit; man kann solche Dinge nicht sagen, wie er es getan hat und dabei ein ruhiges Alter in aller Gottseligkeit erreichen. Entweder gehen solche Worte in Erfüllung, oder der Mensch geht an ihnen zugrunde." Goldschmit-Jentner: "Wir wissen auch heute noch zu wenig über Nietzsches Krankheit und werden wohl immer im unklaren bleiben. Und das ist gut so." Heyer zweifelt an der Diagnose Paralyse: "Nietzsche, den sie einen Paralytiker nennen – als ob Paralytiker üblicherweise einen Zarathustra austrügen." Schließlich in diesem Abschnitt noch Steiner. Bei Nietzsche mangelnde Selbstzucht, mangelnde Selbstkritik. Steiner vergleicht N. mit Leopardi hinsichtlich der großen Wetterfühligkeit beider. Vater starb an Gehirnkrankheit. Verdoppelung des Selbstbewußtseins [?]: "Zwei Seelen wohnen, ach..." [s. d. pathographischen Abschnitt über Steiner selbst].

4. Zur Lues, bzw. progressiven Paralyse: Einige Quellen, die eine Lues congenita annehmen: Audrain, Brusq, der außerdem eine psychopathische Konstitution bei Nietzsche annimmt. Keine Lues, meint Müller, sondern Neurasthenie schwerster Art und angeborene Disharmonie, um jedoch dann zu bemerken: Paralyse erst 1888 [jedoch: ohne Lues keine Paralyse]. Lues-Gift für Nietzsche ein Rauschmittel, seine Krankheit chronischer Rausch [! ]. Lockerung, Auflösung [des Rationalen] durch die Psychose günstig für Kultur. Kesselring erörtert die differentialdiagnostischen Möglichkeiten zwischen Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein bei Nietzsche. Dennoch: z. Zt. der Abfassung des "Zarathustra" auf jeden Fall krankhafter Zustand; als Ursache dafür als erstes progressive Paralyse als Folge luetischer Infektion. [Die übrigen Quellen sprechen sich eindeutig für progressive Paralyse aus, wenn auch z.T. wie Hildebrandt offensichtlich ungern (s. u.).] Nur über den Beginn der ersten Störungen wird zwar noch diskutiert; das erscheint aber eigentlich nicht sehr wichtig [K.].

Aus dem grundlegenden Werk von Möbius nur das ganz Wesentliche: Angeborene Psychopathie. "Maßlosigkeit [...] das eigentlich Krankhafte in Nietzsches geistiger Konstitution [...] eine im tiefsten Innern unruhige, bestandlose Natur, welches es nicht ertrug, lange bei einer Sache zu bleiben." Vom 14. Jahr ab Migräne [?]. Beginn der Paralyse etwa I881-1882. Möbius: Es ist nicht genau bekannt, wann der große paralytische Anfall aufgetreten ist: an einem Tag zwischen dem 28.Dezember 1888 und dem 3. Januar 1889. Die Schwester Nietzsches sagt Folgendes ["Zukunft" vom 6. Januar 1900]: "An welchem Tag nun äußerlich die Störung seines Geistes ausgebrochen sein mag, kann nicht mehr genau festgestellt werden, jedenfalls war es in den letzten Tagen des Monats Dezember 1888. Plötzlich ist er bei einem Ausgang in der Nähe seiner Wohnung niedergestürzt, ohne daß er sich selbst wieder zu erheben vermochte. Während dieser Zeit unterzeichnet er alle Briefe mit 'Dionysos' oder 'der Gekreuzigte'. In den ersten Jahren nach meines Bruders Erkrankung sind diese Blätter zum größten Teil vernichtet worden".

Über Nietzsches Aufenthalt in Turin berichtet Ik, indem er die Kutscherszene schildert, anläßlich deren Nietzsche das von dem Kutscher geschlagene Pferd umarmte, so daß man ihn einem Arzt zuführte. – Im Sommer 1865 plötzlich krank. 2. bis 6. Juni 1865 Musikfest in Köln. Nietzsche im Bordell. Beginn der Erkrankung. 1870 Ruhr, Diphtherie. Ab 1873 ein Symptomenkomplex, nur aus Zentralnervensystem verständlich: Sehstörungen, Magenkrisen.

...

Werke: paralyseverdächtig einige Stellen der "Götzendämmerung", des "Antichrist", noch mehr "Ecce homo", manisch-euphorische Stellen in Briefen seit Ende September 1888 ; aber kein Intelligenzdefekt darin. Alles Frühere bisher ohne Anhaltspunkt für Geisteskrankheit [Hildebrandt]. Zu Nietzsches Schrift: "Von 1859 bis Dezember 1888 [exclusive] bemerken wir an jeglicher Schriftprobe edelstes Maß und vollendete Selbstbeherrschung bei ausgesprochenem Intellektualismus und lebendiger, künstlerischer Phantasie". Ebstein zitiert Theodor Ziegler [1900], der die ersten Zeiten der Geisteskrankheit in die Entstehungszeit des "Zarathustra" verlegt. Produktionskraft empfing kurz vor Ausbruch der Krankheit eine ungemeine Steigerung, auch die Originalität seiner Schöpfungen wuchs mit der Annäherung an die Katastrophe. Für Paralyse auch Peyroux, Robert, Springer, Loewenberg, in Besprechung von Lange-Eichbaums letzter Monographie (s. u.) über Nietzsche, weist auf den Ton Nietzsches in der psychiatrischen Klinik in Turin hin, der dem eines jungen preußischen Leumants entsprochen hätte.

...

Die letzte und umfassendste Quelle über Nietzsche stammt von Lange-Eichbaum selbst aus dem Jahre 1948 (Lange-Eichbaum). Hier auch im zweiten Teil der Arbeit eine Erörterung der Auswirkungen von Nietzsches Werk und Persönlichkeit, besonders auch auf Deutschland unter Hitlers Herrschaft. Aus dieser ausführlichen Pathographie das "Schema der luetischen Erkrankungen Nietzsches":

 

Mitte Juni 1 865

Luetische Infektion. Primärstadium.

Juli 1865

Frühluetische Meningitis. Sekundärstadium.

[1868] 1873

Vorboten des Tertiärstadiums. Tertiäre Hirnsyphilis [basale meningitische Form]. Bis 1885 nachweisbar.

Januar 1880

Höhepunkt der [rein neurologischen] Hirnsyphilis.

Februar 1880

Beginn der Paralyse [Euphorie, Expansion].

1880-1883

Erster paralytischer Schub [Expansion und paranoisch-halluzinatorischer, schizophrenartiger Komplex in milder Form].

1884

Paralytische Remission.

1885

Hirnsyphilis [Augenleiden] und Paralyse nebeneinander.

Ende 1887

Ende der Remission. Beginn des zweiten Schubs mit Exazerbation [Expansion] und Progression der Paralyse.

Ende Dezember 1888

Schwerste Progression. Zusammenbruch.

1889-1890

Zweiter Schub der Paralyse mit Demenz. Symptomenkomplexe:
1. Expansion: Größenwahn, maßlose Euphorie.
2. paranoid-halluzinatorisch: Verfolgungsideen, Gehörs-, Gesichts-, Geschmacks- und Tasthalluzinationen.

März 1890

Ende des akuten Schubs und der Erregung.

1890-1900

Endzustand mit Dauerdefekt und Verblödung. Endgültige Diagnose: Schizophrenieartige und expansive Form der stationären Paralyse.

 

Zur Frage, wie es möglich war, daß jemand 8 Jahre lang an einer Paralyse gelitten habe und dies ohne jede deutlich erkennbare, ohne jede greifbare Einbuße an Intelligenz, wie es der Einwand der Gegner der Paralyse-Diagnose bei Nietzsche war, bemerkt Lange-Eichbaum: "Durch den milden Verlauf zu Beginn und durch die Remission wurde der Intellekt geschützt. Allerdings läßt sich heute doch eine affektive Betäubung der Intelligenz und eine Abnahme der echten Produktionskraft seit 1883 deutlich nachweisen." Die Auffassung Lange-Eichbaums über die Ursachen der Krankheit Nietzsches wird auch von Blunck in seiner 195 3 erschienen Kindheits- und Jugendbiographie N.s geteilt. Blunck, der ebenfalls auf die nicht völlige Bestimmtheit des Datums des Primäraffektes – 1865 in Köln oder 1866 in Leipzig hinweist, dabei einen Brief Nietzsches vom 4. August 1865 an Gersdorff zitierend ["heftiger Rheumatismus, der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und die Zähne ... die stechendsten Kopfschmerzen [. . .] sehr abgemattet ganz apathisch"], sieht darin mit Benda und Lange-Eichbaum die Symptome einer frühluetischen Meningitis. Er weist dabei allerdings auch auf den gewissen Widerspruch hin, der sich aus den Quellen ergibt, die den Zeitpunkt der Erstinfektion nach Leipzig in das Jahr 1866 verlegt wissen wollen.

Über die spätere Paralyse Nietzsches und die merkwürdige Tatsache, daß zwischen luetischer Infektion und Ausbruch der Paralyse ein so langes Intervall liegt, bemerkt Blunck: "Daß die spätere Paralyse Nietzsches nur in einer Syphilis ihre Ursache haben kann, müssen wir nach dem heutigen Stand der medizinischen Forschung wohl als gesichert annehmen und ebenso aufgrund dieser Bekundung von Lange-Eichbaum als Tatsache, daß Nietzsche in Leipzig gegen Syphilis behandelt worden ist. Es liegt aber nahe, anzunehmen, daß die behandelnden Ärzte Nietzsche über den bösartigen Charakter seiner Krankheit und ihre späteren Folgen nicht aufgeklärt haben; denn sonst ist es nicht erklärlich, daß wir bis 1890 nicht eine einzige Bekundung von ihm darüber finden, es sei denn, daß im Nietzsche-Archiv alle Spuren verwischt und vernichtet worden sind oder eines Tages noch erst auftauchen müssen. Eine ernste Erschütterung kann diese Behandlung in Leipzig kaum in Nietzsche hinterlassen haben. Er wird sie, wie das bei der damaligen bürgerlichen Heuchelei und Unzulänglichkeit der medizinischen Einsicht so häufig geschah, als eine belanglose Episode ohne weitere Folgen angesehen und hingenommen haben, zumal er in der nächsten Folgezeit keine ernstlichen gesundheitlichen oder geistigen Störungen erlitt."

Hildebrandt war zu apologetisch. Unterscheidet "Geisteskrankheit" [i.e.S.] und Psychose [auch als vorwiegende Stimmungsanomalie] zu wenig. Nietzsche kann, obwohl nicht geisteskrank [i.e.S.] und obwohl ohne Intelligenzdefekt, ja mit Intelligenzsteigerung, doch seit August 1881 ganz leicht psychotisch [manisch-euphorisch] gewesen sein. Psychotisch nur im ganz streng wissenschaftlich-theoretischen Sinne gemeint. Vieles spricht für eine organische Stimulierung seit 1881 [Lues-Gift-Wirkung?], die gerade die psychopathischen Züge noch mehr herausholte [das große ursprüngliche Selbstgefühl usw.]. Obwohl es [außer Möbius] die wirklich brauchbare Pathographie von Benda gibt, wollten immer wieder Autoren von der Paralyse wegsehen und eine Schizophrenie annehmen. Diese erscheint ihnen bei ihrem Heros immer noch erträglicher als die Verblödung und Vertierung im Endstadium der Paralyse, wie sie vor der Malaria-Ära allgemein war.

Auf die 1930 erschienene Arbeit Lange-Eichbaum erfolgte damals ein sehr lebhaftes Echo. Sehr wichtig erschien Lange-Eichbaum hier die Zuschrift eines bekannten Berliner Nervenarztes, der über zahlreiche persönliche Beziehungen verfügte. Er teilte Lange-Eichbaum mit, daß über Nietzsches syphilitische Infektion durchaus Authentisches bekannt sei. Nietzsche hat sich als Student in einem Leipziger Bordell mit Lues angesteckt und ist von Leipziger Ärzten antisyphilitisch behandelt worden. Die Namen dieser Ärzte sind bekannt [auch Möbius, der ja in Leipzig wohnte, muß sie gekannt haben]. Lange-Eichbaum hat angenommen, daß nach dem Tode der Schwester Nietzsches von anderer Seite vielleicht eine Veröffentlichung erfolgen würde. Dies ist nicht geschehen. Aus der Mitteilung folgt, daß man Nietzsches eigener Angabe, er habe sich 1865 [also mit 22 Jahren] syphilitisch infiziert, durchaus Glauben schenken dürfe. Natürlich könnte die Infektion auch 1865 erfolgt sein. Damit gewinnen auch die Vermutungen von Benda [gegenüber denen von Kurt Hildebrandt] greifbare Gestalt, daß nämlich ab 1873 eine Lues cerebri bei Nietzsche vorgelegen hat.

1930 war plötzlich zufällig die Krankengeschichte über Nietzsche aus der Klinik von Jena wieder aufgetaucht. Zuerst erschien sie nur im Auszug. Wesentliche Tatsachen gingen damals nicht daraus hervor [katathyme Gründe?]. Lange-Eichbaums Initiative ist dann die Herausgabe der ungekürzten Krankengeschichte zu verdanken [vgl. Podach] sowie ein Bericht über den Krankheitsbeginn. Auf Einladung der Deutschen Medizinischen Wochenschrift hatte Lange-Eichbaum kurz vorher noch einmal das ganze psychiatrische Problem des Falles Nietzsche aufgerollt. An der Paralyse war nunmehr nicht zu zweifeln. Wer nun noch die ungekürzte Krankengeschichte gelesen hat, müßte ein schlechter Psychiater sein, hier keine Paralyse, sondern eine Schizophrenie anzunehmen. [Geheimrat Th. Ziehen war der letzte noch lebende Arzt, der Nietzsche behandelt hat (als damaliger Oberarzt von Binswanger in Jena). Im Zusammenhang mit Nietzsche sprach er mehrfach davon, daß er ebenfalls nicht an der Diagnose Paralyse zweifele, K.].

...

In den letzten Jahren kam es zu weiterer Klarheit über den Fall Nietzsche, vor allem wurden eindeutig die groben Täuschungen und Fälschungen der Schwester Nietzsches, Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, aufgedeckt. Sie log bewußt, um die Krankheit ihres Bruders zu verschleiern; das Idol durfte nicht zerstört werden. So äußerte sich Schlechta in einer Auseinandersetzung mit Rudolf Pannwitz, der sich 1920 anläßlich seiner "Einführung in Nietzsche" als der heutige Regierende der unsterblichen Dynastie Nietzsche fühlte. In einem dritten Band der von Schlechta zwischen 1954 und 1956 herausgegebenen Werke Nietzsches äußert dieser, die Schwester Nietzsches habe etwa 30 Briefe ihres Bruders gefälscht. Dazu auch Hartwich: "Daß in den zehn Jahren, in denen Nietzsche dem Tod entgegendämmerte, seine Schwester alles aufbot, um die Zeitgenossen über seine Krankheit zu täuschen und der Nachwelt ein verfälschtes Bild des großen, nie verstandenen Bruders zu überliefern, darauf wurde schon hingewiesen. Was sich da abgespielt hat, muß uns ganz einfach grotesk erscheinen; auf die knappeste Formel gebracht, könnte man sagen, daß die Ärzte, die Nietzsche beobachtet und betreut haben, ausnahmslos eine progressive Paralyse diagnostizierten, während die Ärzte, die Nietzsche nie zu Gesicht bekommen haben, diese Diagnose in Wort und Schrift bekämpften und um ihretwillen Psychiater von so hohem Rang wie Wille [Basel], Binswanger und Ziehen [Jena] als fachlich unfähig, böswillig, ja verleumderisch bezeichneten. Durchaus im Vordergrund stand die klinisch zu beobachtende Veränderung der Gesamtpersönlichkeit, und sie war es denn auch, die in Basel und in Jena zur Diagnose progressive Paralyse geführt hat. Soweit sich das rekonstruieren läßt, hat es sich bei Nietzsche wohl um eine Kombination der manisch-expansiven mit der dement-euphorischen Form gehandelt, die schließlich in einen der senilen Demenz ähnlichen Zustand übergegangen sein dürfte. Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß bei Nietzsche weder Sprache noch Schrift Störungen aufwiesen [vgl. Podach], jedenfalls nicht während des verhältnismäßig kurzen Aufenthaltes in der Jenaer Klinik. Über den Verlauf, den seine Krankheit in den neun Jahren des Verdämmerns nahm, ist nichts bekannt, dieses hat seine Schwester völlig verdunkelt. Man weiß nicht einmal, ob oder von wem der Kranke während dieser Zeit ärztlich betreut wurde, und man kennt ebensowenig die aktuelle Todesursache".

Podach hat nun auch kürzlich darauf hingewiesen, daß C.A. Bernoulli die Exzerpte seit 1908 dazu benutzt habe, dem Nietzsche-Archiv grobe Manipulationen und Irreführungen nachzuweisen. "Frau Förster-Nietzsche hat gefälscht. Man hat ihr das ermöglicht und leicht gemacht, sie ermuntert und unterstützt. Andere haben auch gefälscht, manche schlimmer als sie. Unter ihren Anklägern von heute gibt es Leute, die ihre Helfershelfer von gestern waren oder ihr nur übel nehmen, daß sie die Wahrheit nicht in die ihnen genehme Richtung bog. Nietzsche ist die nach Leben und Werk am stärksten verfälschte Erscheinung der neueren Literatur- und Geistesgeschichte."

Und schließlich nimmt Podach noch einmal Stellung zum Beginn und Krankheitsverlauf bei Nietzsche: "Noch einmal wird aufgegriffen, daß es nicht einzusehen ist, warum Nietzsche sich 1865 oder 1866 in Köln oder Leipzig luetisch infiziert haben soll. Die Infektion könnte ebensogut später in der Schweiz, in Italien oder in Nizza erfolgt sein." Aber: Ein letzter Einschnitt beginnt deutlich Ende 1887. Das ist die abschließende Geisteskrankheit, die Paralyse. Es steht fest, daß Nietzsche noch zu einer Zeit geschrieben hat, in der er bereits geisteskrank war. Das ist die Zeit spätestens vom Herbst 1888 bis zum akuten Zusammenbruch im Januar 1889. In dieser Zusammenbruchszeit entstand zuletzt der Torso, aus dem Peter Gast "Ecce homo" gemacht hat.

Bis auf wenige Quellen wird nunmehr die Diagnose progressive Paralyse bei Nietzsche heute nicht mehr bezweifelt, wenn er auch als "Zeichendeuter", wie er sich selbst bezeichnete, dabei imstande war, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts vorauszusehen und diese geistig mit vorzubereiten, indem er mit seinem Pathos Unreife, Kritiklose wie z. B. Hitler zu entzünden verstand. Nur wenige katathym gefärbte Quellen sehen an den Realien, die der Nietzsche-Foschung zugrunde liegen vorbei. Das Bild hat sich gerundet. Nach Blunck und Schlechta ist Nietzsche eindeutig syphilitisch behandelt worden. Progressive Paralyse.

Über Nietzsche eine psychopathographische Wertung zu erstellen, erscheint uns – wegen seines Leidens – unmöglich, da sich ansonsten zu viele Fakten widersprechen würden. Nach der hervorragenden und umfangreichen Biographie von Janz ist alles Wesentliche gesagt. Abschließend ist nur zur Abrundung des Bildes zu sagen, daß Nietzsche mittelgroß war [leptosomen Körperbaus und hochintelligent], den Alkohol ablehnte. Im übrigen heben alle neueren Lexika und Biographien die progressive Paralyse als abschließende Krankheitsdiagnose hervor, ebenso seine teilweise aufgetretene geistige Verwirrung, seine euphorischen Phasen und seinen Verblödungsprozeß. Eine abschließend eingehende größere Untersuchung über den Zusammenhang von paralytischem Gift und kreativem Schaffen fehlt, wäre aber äußerst lohnenswert. Einen chronologischen Grundaufbau hat in dieser Hinsicht Schlechta geschaffen. An der Diagnose "Syphilis" gibt es nichts mehr zu deuteln. Sie ist nicht zu widerlegen!

Textquelle: Wilhelm Lange-Eichbaum / Wolfram Kurth, Genie, Irrsinn und Ruhm, Band 7, Die Philosophen und Denker, 7., neubearb. Aufl. von Wolfgang Ritter, E. Reinhardt Verlag München Basel, 1989 S. 82 ff.


Nietzsche in der Villa Silberlbick in Weimar



Nietzsche's Illness

Reports and Photographs

Initially, after his break-down in Turin (see there) at the turn of 1888/1889, Nietzsche was brought to Basel by his friend Overbeck for a brief stay at the "Kantonale Irrenanstalt Basel Stadt" from January 10 to 17, 1889, whose Director was Professor Ludwig Wille (he had known NIetzsche prior to that). The latter "trug eigenhändig am Kopf des Krankenblattes die Diagnose 'Paralysis progressiva' ein" (is reported here as having, in own handwriting, entered as first entry into the patient records, 'progressive paralysis').

Nietzsche's mother wanted to have her son near her, and therefore, he was transferred to the Neurological Hospital at Jena, not far from his family's Naumburg home. He remained there for treatment from Junary 19, 1889 to March 24, 1890.

Professor Otto Biswanger had been director of this institution since 1882. One of the first measures he had implemented was that patients were no longer locked up and put in straight-jackets.

From March 24, 1890 to May 13, 1890, Nietzsche's mother looked after her son in an apartment in Jena that she had particularly rented for this purpose. After that, she took him with her to her Naumburg home and devoted the rest of her life to his care, until her death in July, 1897.

With this, an opportunity opened itself up to Nietzsche's sister Elisabeth: in August, 1897, she moved to Weimar with him and set up household at the "Villa Silberblick" (today's Nietzsche Archives) that a Swiss lady patron of Nietzsche had presented to him as a gift. There, he chiefly remained in the care of the housekeeper Alwine, until his death in August, 1900.

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