Lou von Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche
Bei Malwida in der Via Polveriera 6 versammelte sich abends häufig ein fester Kreis der römischen Gesellschaft zu Gesprächen und Vorträgen, an denen sich sogleich auch Lou als anerkanntes Mitglied beteiligte. Nun also trifft Dr. Paul Rée, mittellos aus Monte Carlo von Nietzsche in Genua kommend, am 15. oder 16.3.1882 in Rom ein und wendet sich direkt an Malwida, um seine Reiseschulden bezahlen zu können. Auf nächtlichen Spaziergängen verliebt er sich alsbald so in Lou, daß er bei ihrer Mutter um ihre Hand anhält; natürlich wird auch er – gleich Gillot – behutsam aber bestimmt zurückgewiesen und auf ein Freundschafts- und Arbeitsverhältnis festgelegt. Lou schildert dies lebendig in ihrem Lebensrückblick. Aus dem hiernach einsetzenden Briefwechsel zwischen Nietzsche ("Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern."), Rée und Malwida von Meysenbug vor dessen Eintreffen in Rom wurde bereits in Abteilung I zitiert; von großer Bedeutung für die Einschätzung und den Verlauf der von Lou ins Auge gefaßten "Dreieinigkeit" ist insbesondere ihr Schreiben an Hendrik Gillot von Ende März 1882, wohlgemerkt also zu einem Zeitpunkt, als sie Nietzsche persönlich noch gar nicht kennengelernt hatte. Darin formuliert sie ihre Ziele im Hinblick auf beide Männer, die für sie längst feststehen: "...um so viel ältere und überlegene Männer wie Rée, Nietzsche und andere könnte ich nicht richtig beurteilen. Darin täuschen Sie sich nun aber. Das Wesentliche (und das Wesentliche ist menschlich für mich nur Rée) weiß man entweder sofort oder garnicht." Nietzsche, von Messina kommend, trifft am 23. oder 24. April in Rom ein, und wird, nachdem er sein nach Reisen "übliches" Anfallsleiden hinter sich gebracht hat, von Malwida herzlich empfangen, und auf seine Frage nach Rée zum Petersdom verwiesen, wo sich dieser und Lou gerade aufhalten. Lou in ihrem Lebensrückblick (S. 80): "Dieses Feierlichen entsinne ich mich schon von unserer allerersten Begegnung her, die in der Peterskirche stattfand, wo Paul Rée, in einem besonders günstig zum Licht stehenden Beichtstuhl, seinen Arbeitsnotizen mit Feuer und Frömmigkeit oblag und wohin Nietzsche deshalb gewiesen worden war. Seine erste Begrüßung meiner waren die Worte: »Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?«
Zu dieser etwas hochtrabenden (und berühmt gewordenen) Begrüßungsformel darf sich Nietzsche einerseits sicherlich aus dem Vorlauf heraus berechtigt halten, nachdem ihm Lou von Rée und Malwida brieflich gerühmt worden war; des weiteren dürfte diese Formulierung alles andere als spontan gefallen sein, vielmehr hatte sich Nietzsche sicherlich überlegt, wie unter diesen Umständen am ehesten Eindruck zu machen sei – nun, das scheint ihm gelungen zu sein ...
In ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken gibt Lou eine ausführliche Beschreibung vom Äußeren und Auftreten Nietzsches, welche die Erscheinung und Wirkung Nietzsches plastisch wiedergibt: daß "der Gesamtausdruck seines Wesens bereits völlig vom tief bewegten Innenleben durchdrungen war, und selbst noch in dem bezeichnend blieb, was er zurückhielt und verbarg. Ich möchte sagen: dieses Verborgene, die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit, – das war der erste, starke Eindruck, durch den Nietzsches Erscheinung fesselte." ... "Ich erinnere mich, daß, als ich Nietzsche zum ersten Male sprach, – es war an einem Frühlingstage in der Peterskirche zu Rom, – während der ersten Minuten das gesucht Formvolle an ihm mich frappierte und täuschte." Auch Nietzsche hat in seiner sofort aufflammenden Begeisterung nichts Eiligeres zu tun, als Lou, und zwar ausgerechnet vermittelt durch Rée, einen Heiratsantrag zu machen – und Lou hatte damit in kürzester Zeit bereits den 3. Antrag zurückzuweisen. "Was so gut begann, erfuhr dann aber eine Wendung, die Paul Rée und mich in neue Besorgnis um unsern Plan geraten ließ, indem dieser Plan sich durch den Dritten unberechenbar verkompliziert fand. Nietzsche meinte damit freilich eher eine Vereinfachung der Situation: er machte Rée zum Fürsprecher bei mir für einen Heiratsantrag." (Lebensrückblick S. 80) Aus dem ganzen Ablauf ist zwingend zu schließen, daß Rée Nietzsche über seinen eigenen Antrag keinen reinen Wein eingeschenkt hat, und so kommt bereits ganz am Anfang zwischen die beiden Freunde durch das beiderseitige Werben um Lou eine ungute Note hinein, indem Rée und Lou immer bereits mehr wissen als Nietzsche; die beiden beraten sich auch gegenseitig, wie man Nietzsche einerseits die Heiratspläne ausredet, ohne ihn andererseits völlig zu verprellen. Merkwürdigerweise machen sich beide aus dieser Schieflage, in die sie Nietzsche damit bringen, keinerlei Gewissen. Lou wohl aus "geistigem Egoismus", weil sie ihre Wißbegierde in philosophicis bei Nietzsche stillen will, und Rée aus Eifersucht, um Lou für sich zu gewinnen. Bei einem Denker wie Rée, der über die entwicklungsgeschlichtliche Erklärbarkeit des Gewissens promoviert und ein Buch über den Ursprung der moralischen Empfindungen veröffentlicht hat, verwundert das etwas und bestätigt wohl seine eigene These: "Progressus moralis nullus est in rebus humanis" ... [Der moralische Fortschritt ist gleich Null in den (zwischen)menschlichen Angelegenheiten.] Lesen Sie, wie H. F. Peters, der Lou wohlwollende Biograph, diese erste Ablehnung schildert. Von all dem bemerkt Nietzsche in seiner Begeisterung natürlich nichts, vielmehr werden eifrig Pläne geschmiedet, wie und wo die "Dreieinigkeit" in nächster Zeit sich zu Studienzwecken niederlassen könnte, Wien und Paris sind im Gespräch – was unter den damaligen Umständen wohl nur unter Heranziehung einer "Anstandsdame" möglich schien, etwa Malwida, die dazu aber trotz ihrer idealistischen Vertretung von Frauenrechten keine Lust hatte, sondern vielmehr diese ganze Angelegenheit aus ihrer Lebenserfahrung und wohl nicht zu Unrecht mißtrauisch beobachtete. Lou im Lebensrückblick S. 79: "Das noch Unerwartetere geschah, daß Nietzsche, kaum hatte er von Paul Rées und meinem Plan erfahren, sich zum Dritten im Bunde machte. Sogar der Ort unserer künftigen Dreieinigkeit wurde bald bestimmt: das sollte (ursprünglich für eine Weile Wien) dann Paris sein, wo Nietzsche gewisse Kollegs hören wollte und wo sowohl Paul Rée von früher her als auch ich durch St. Petersburg Beziehungen ... besaßen. Malwida beruhigte es sogar ein wenig, daß sie uns dort beschirmt sah durch ihre Pflegetöchter Olga Monod und Natalie Herzen, die noch dazu ein Kränzchen unterhielt, bei dem junge Mädchen mit ihr schöne Dinge lasen. Aber am liebsten hätte Malwida gesehen, wenn Frau Rée ihren Sohn und Fräulein Nietzsche den Bruder begleitet hätte." Ernst Pfeiffer bringt in seinen Dokumenten einen Brief Nietzsches an die Schwester Elisabeth vom Ende des April, in dem dieser angeblich über Lou berichtet und einige abfällige Bemerkungen über jene fallen läßt. Dieser Brief würde Nietzsche, wenn er denn wirklich echt wäre, in keinem besonders günstigen Licht zeigen. Jedoch ist die Echtheit dieses Briefes mehr als fragwürdig, s. Dokumentenseite. Und so hat man hier Gelegenheit, Elisabeth in ihrer Fälscherwerkstatt bei der Arbeit zuzusehen...
Bei dem Lavieren der beteiligten Personen scheint mir bei Lou ein ähnlicher Selbstwiderspruch zwischen theoretischem Idealismus und realem Handeln gegeben zu sein wie bei Malwida, wenn sie einerseits von einer Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist [s. Abt. I] spricht, andererseits ihr aber die eigenen Auswirkungen auf das lebendige Individuum Friedrich Nietzsche durchaus gleichgültig sind, ja, sie mit diesem wohl gar ein wenig spielt, wie wir noch sehen werden, obwohl sie andererseits bereits genau weiß, was sie selbst will und was nicht: wohl eine unheilige Allianz von Egoismus und Idealismus ... Auch hier ist es der große Blick auf die "Menschheit", der es erlaubt, das konkrete Gegenüber zu übersehen und zu benutzen. Die Dinge hatten sich zunächst also genauso gefügt wie von Lou gewünscht – als "Anstandsdame" sollte nunmehr Lous Mutter herhalten, die sie ja bereits bisher auf ihrer europäischen Studienreise begleitet hatte. Am 27. April 1882 wollten Nietzsche und Rée zunächst an den oberitalienischen Seen einen idyllischen Ort suchen, wohin die beiden Damen dann nachkommen würden. Da Nietzsche in diesem Moment (!) wieder ein mehrtägiger Anfall niederwarf und Rée ihn in Rom pflegte, reisten die Damen voraus an den Orta-See, wohin die Herren dann nachkamen.
Dieser See liegt ca. 15 km westlich vom südlichen Teil des Lago Maggiore – besuchen Sie den Orta-See, den Monte Sacro und die dortigen Sehenswürdigkeiten im Internet! H. F. Peters gibt in seiner Biografie eine anschauliche Beschreibung der Örtlichkeit (S. 96 f.):
Über den dortigen Aufenthalt der seltsamen Reisegruppe steht nur fest, daß man dort einige Tage Anfang Mai gemeinsam verblieb, da Nietzsche bereits am 8. Mai bei Overbeck in Basel eintraf und dort von Lou erzählte. Wie letzterer berichtet, gab sich Nietzsche voller Schwung und Lebenslust, ohne in diesen Tagen des Zusammenseins auch nur einen Anfall zu haben wie gewöhnlich sonst. Was hatte Nietzsche so beflügelt? Nun, an einem der Tage am Orta-See, am 5. Mai, hatte es Nietzsche tatsächlich dazu gebracht, allein mit Lou einen Ausflug zum Monte Sacro zu unternehmen, während Rée die von den vorhergehenden Besichtigungen ermüdete Mutter unterhielt.
Dieser Ausflug zog sich für Rée (aus Eifersucht) und die Mutter, die sich natürlich um ihre Tochter wegen des Ausbleibens sorgte, "ungebührlich" lange hin. Lou dazu in ihrem Lebensrückblick: "Wir machten zusammen zwischendurch Station, z. B. in Orta an den oberitalienischen Seen, wo der nebengelegene Monte sacro uns gefesselt zu haben scheint –, wenigstens ergab sich eine unbeabsichtigte Kränkung meiner Mutter dadurch, daß Nietzsche und ich uns auf dem Monte sacro zu lange aufhielten, um sie rechtzeitig abzuholen, was auch Paul Rée, der sie inzwischen unterhielt, sehr übel vermerkte." Bei diesem Spaziergang und den dabei geführten Gesprächen waren sich Nietzsche und Lou ganz offensichtlich näher gekommen, aber wie nahe? Haben sie nun oder nicht? Wohl eine der spannendsten Kußfragen in der Weltliteratur, die unbeantwortet bleiben muß, wie sich aus einer Anmerkung E. Pfeiffers ergibt. Ein etwas anderes Bild gewinnt man allerdings, wenn man die Schilderung Nietzsches zugrundelegt, die er den Overbecks in Basel gibt, in der er seine Unabhängigkeit für die Erreichung seiner philosophischen Ziele zum wichtigsten Kriterium erklärt; Ida Overbeck hat Bernoulli darüber berichtet, wobei wohl davon auszugehen ist, daß Nietzsche hier sich nicht völlig offen verhalten konnte und wollte – in der Hauptsache wohl deshalb, weil er sich über seine eigene gefühlsmäßige Verstrickung selbst nicht ganz im Klaren war und angesichts der Kürze des durchlebten Zeitraums auch gar nicht sein konnte. Noch von Luzern aus, bevor Nietzsche Basel erreichte, schrieb er am 8. Mai an Rée und vereinbarte einen Treffpunkt in Luzern im sogenannten Löwengarten: "Ich muß durchaus Frl. L. noch einmal sprechen."
Bei diesem Treffen am 13. Mai machte er Lou erneut einen Antrag, der aber wiederum abgewiesen wurde; jedenfalls bewahrte Nietzsche Haltung und man blieb noch bis zum 16. Mai zusammen. Lou berichtet darüber in ihrem Lebensrückblick (S. 81): "Nachdem wir Italien verlassen, machte Nietzsche einen Sprung nach Basel zu Overbecks, kam aber von dort gleich nochmals mit uns in Luzern zusammen, weil ihm nun hinterher Paul Rées römische Fürsprache für ihn ungenügend erschien und er sich persönlich mit mir aussprechen wollte, was dann am Luzerner Löwengarten geschah. Gleichzeitig betrieb Nietzsche auch die Bildaufnahme von uns Dreien, trotz heftigem Widerstreben Paul Rées, der lebenslang einen krankhaften Abscheu vor der Wiedergabe seines Gesichts behielt. Nietzsche, in übermütiger Stimmung, bestand nicht nur darauf, sondern befaßte sich persönlich und eifrig mit dem Zustandekommen von den Einzelheiten – wie dem kleinen (zu klein geratenen!) Leiterwagen, sogar dem Kitsch des Fliederzweiges an der Peitsche usw."
Wie nah Nietzsche sich Lou sehen wollte, zeigt auch ein Ausflug mit ihr nach Tribschen in diesen Tagen, wo er ihr "mit leiser Stimme von jenen vergangenen Zeiten" zusammen mit Wagners erzählte und dabei in Tränen ausbrach. Nietzsche ging anschließend nach Naumburg, wo er unter abenteuerlichen Umständen die Herstellung des Druckmanuskripts der Fröhlichen Wissenschaft vorantrieb, Rée fuhr nach Hause auf das Gut seiner Eltern in Stibbe/Ostpreußen (wohin Lou nachkommen sollte!), während sich die Damen über Zürich und Hamburg nach Berlin begaben, inzwischen unter weiterer Begleitung des Lou-Bruders Eugène, den die Familie zur Abholung der Mutter abgesandt hatte. Denn Lou hatte sich schließlich durchgesetzt und wurde von ihrem Bruder nun quasi der Familie Rées übergeben, dessen Mutter Lou wie eine Pflegetochter aufnahm. Am 25. Mai schrieb Nietzsche von Naumburg aus an Lou: "... Die Nachtigallen singen die ganzen Nächte durch vor meinem Fenster.
Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich es bin und sein kann: beachten Sie diesen Unterschied wohl! -
Wenn ich ganz allein bin, spreche ich oft, sehr oft Ihren Namen aus - zu meinem größten Vergnügen!" (KSB, 6, Nr. 231, S. 194) Aber er hätte Lou gar nicht erst vor sich warnen müssen; denn auf dem Wege zu Rée läßt sie ein mögliches und von Nietzsche gewünschtes Treffen in Berlin ins Wasser fallen, was Nietzsche in eine "melancholische" Stimmung versetzt – wollte er ihr doch stolz die eben fertig gewordene Einleitung zur Fröhlichen Wissenschaft, Scherz, List und Rache vorstellen, aber er hatte sich umsonst nach Berlin begeben ... Aus dieser reimenden Einleitung stammt auch das folgende berühmte Gedicht, in dem sich das Selbstbewußtsein Nietzsches zur damaligen Zeit ausspricht:
Waren die Pläne für die vorgesehene "Dreieinigkeit" von gemeinsamen Studien in Wien oder Paris auch noch ganz unausgegoren, so stand doch schon fest, daß Lou zu den diesjährigen Festspielen mit der Uraufführung des Parsifal gehen sollte; Nietzsche würde sie dabei bis Bayreuth begleiten, im Stillen wohl immer noch hoffend, von Wagner in angemessener Form dazu eingeladen zu werden – daher wählte er unter Assistenz seiner Schwester ein nicht allzu weit entferntes Domizil in Tautenburg, wo er sich am 25. Juni hin begab. Rée hingegen blieb in Stibbe, was ihm einerseits nicht gerade leicht fiel, da er Lou nun für einige Zeit der Bayreuther Gesellschaft und später Nietzsche allein "überlassen" mußte – aber erleichtert wurde ihm dies dadurch, daß er sich im Gegensatz zu Nietzsche mit Lou längst duzte und von ihr fast täglich mit Tagebuch-Briefen auf dem Laufenden gehalten wurde (wovon Nietzsche natürlich auch nichts wußte). Dieser dachte sich vielmehr in seine Wunschvorstellungen hinein und schrieb ihr am 26. Juni: "Ich habe bisher nie daran gedacht, daß Sie mir >vorlesen und schreiben< sollen; aber ich wünschte sehr, Ihr Lehrer sein zu dürfen. Zuletzt, um die ganze Wahrheit zu sagen: Ich suche jetzt nach Menschen, welche meine Erben sein könnten; ich trage Einiges mit mir herum, was durchaus nicht in meinen Büchern zu lesen ist - und suche mir dafür das schönste und fruchtbarste Ackerland. Sehen Sie meine Selbstsucht !" (KSB, 6, Nr. 249, S. 211) Nietzsche hatte Lou mit Brief vom 27. Juni mitgeteilt, daß er nun endlich seine Schwester von ihrem Vorhaben unterrichtet habe, und daß diese in Tautenburg die Rolle der Anstandsdame übernehmen würde; daraufhin sagt Lou für den von Nietzsche vorgeschlagenen Sommerurlaub für Anfang August nach den Festspielen in Bayreuth am 30. Juni zu. Nietzsche bedankt sich am 2. Juli euphorisch für die Zusage: "Nun ist der Himmel über mir hell! Gestern Mittags ging es bei mir zu wie als ob Geburtstag wäre." Wie er selbst zu dieser Zeit Lou und sein Verhältnis zu ihr gesehen haben will – was ja durchaus etwas anderes sein kann, als an potentiellen Wunschvorstellungen auch sonst noch vorhanden gewesen sein mag – teilt er am 13. Juli Peter Gast brieflich mit: (Auch hier zeigt die Nichtübereinstimmung des Inhalts dieses Schreibens mit dem oben angesprochenen von Ende April die Fälschung der Schwester auf.) Jedenfalls ist Nietzsche sich offensichtlich zumindest über seine "offizielle" und "objektive" Stellung zu Lou im Klaren, und von seiner Seite sah nun alles auf’s Schönste geordnet aus – auch etwa in der Richtung, nun endlich mit Rée, bei dem Lou derzeit noch in Stibbe weilte, in eine Art Wettstreit um Lou zu treten, wenn er sich nur über längere Zeit allein mit ihr austauschen konnte. Weder konnte er wissen, daß Lou – und zwar schon von Anfang an – zu Paul Rée schon ein ganz anderes Verhältnis, teilweise hinter seinem Rücken, aufgebaut hatte (und beide, wie der Briefwechsel zeigt, davon ein Bewußtsein hatten), noch konnte er ahnen, daß Eifersucht und Moralvorstellungen seiner Schwester, die Lous Gebaren anläßlich des Parsifal in Bayreuth erlebte, derart viel Gift in die Beziehung mischen würde. (Nicht zuletzt verhielt sich Nietzsche, der große Pfadfinder auf dem Gebiet der menschlichen Psyche, im Verhalten zu seinen konkret nächsten Mitmenschen häufig relativ naiv und gutgläubig ... was ja auch für das Verhältnis zu Lou zu gelten hat.) Und so konnte er in bestgelaunter Vorerwartung an Lou Mitte Juli nach Stibbe weiter schreiben: "Nun, meine liebe Freundin, bis jetzt steht Alles gut, und Sonnabend über 8 Tage sehen wir uns wieder. ... Was Bayreuth betrifft, so bin ich zufrieden damit, nicht dort sein zu müssen; und doch, wenn ich ganz geisterhaft in Ihrer Nähe sein könnte, dies und jenes in Ihr Ohr raunend, so sollte mir sogar die Musik zum Parsifal erträglich sein (sonst ist sie mir nicht erträglich.) ... Und wie glücklich bin ich, meine geliebte Freundin Lou, jetzt in Bezug auf uns Beide denken zu dürfen »Alles im Anfang und doch Alles klar!« Vertrauen Sie mir! Vertrauen wir uns!" Nietzsche hatte seine Schwester Elisabeth einen Tag vor deren Abreise nach Bayreuth am 23. Juli noch extra mit dem eben erschienen und sogleich erstandenen Klavierauszug auf die Musik des Parsifal vorbereitet – und dabei die innere Ähnlichkeit damit festgestellt, was auch er selbst einst von der Musik wollte! Hören Sie einen Ausschnitt aus dem Parsifal! (283 KB) Während Nietzsche sich wieder nach Tautenburg begab und, auf Lou wartend, an der Korrektur der Fröhlichen Wissenschaft weiterarbeitete, traf sich diese am 24. Juli in Leipzig mit Elisabeth und beide reisten zusammen nach Bayreuth. Die Uraufführung des Parsifal fand am 26. Juli statt. Die beiden Damen hatten Karten für die zweite Aufführung am 28. Juli. Malwida führte Lou in Wahnfried ein, wo sich in Wagners Haus an den Zwischenabenden jeweils die "feine Gesellschaft" traf. Lou schildert diese Zusammenkünfte mit Richard und Cosima, die natürlich auf je eigene Weise jeweils im Mittelpunkt standen, recht lebendig. Dabei gibt sie ihr fehlende Musikalität ohne Umschweife zu – weder der Parsifal noch überhaupt Wagners Musik, aber auch nicht dessen Person gewinnen in ihrem Leben irgendeine besondere Bedeutung. Hier fehlt also ganz offensichtlich jene für Nietzsche sonst so wichtige zwischenmenschliche Brücke der Musik zu Lou, was doch wohl auf tiefgreifende Persönlichkeitsunterschiede trotz aller vordergründigen Ähnlichkeit des "Philosophierens" schließen läßt – beider Wege und Ziele sind völlig verschieden, ihre "Gemeinsamkeit" gleicht so eher dem zufälligen Zusammentreffen auf einer Wegkreuzung. Und so hat Lou in ihrem Nietzsche-Buch auch nicht den entsprechenden Zugang zu dieser bedeutsamen Seite an Nietzsche, der selbst nicht müde wird, den Einfluß der Musik auf sein philosophisches Werk zu betonen.
Lou fand sich offensichtlich, als junge Frau von interessanter Erscheinung und blitzendem Geist nicht verwunderlich, durchaus im Mittelpunkt der Galanterie der jungen Herren. Dies offenbar in so "unkonventioneller" Weise, daß der Tratsch darüber gar bis nach Stibbe drang und Rée in Eifersucht versetzte, während die doch gewiß freidenkende Malwida noch ein halbes Jahr später an Nietzsche schrieb: "Aber seit Bayreuth weiß ich nicht mehr recht, was ich von ihr denken soll ..." Elisabeth, die bereits 36-jährig immer noch ein unumworbenes Mauerblümchendasein (nicht nur) in diesem Kreise führte und ihr Selbstbewußtsein vor allem aus der Bedeutung des Bruders sog, bekam dies alles natürlich aus nächster Nähe mit – und diese Lou sollte nun ihre Rivalin bei ihrem Bruder sein?! Die sich einerseits so "skandalös" benahm, mit Männern schäkerte, andererseits sich mit der intimen Kenntnis der Philosophie und als vertraute Freundin Nietzsches brüstete und gleichzeitig zum Gelächter der Betrachter überall die Luzerner Fotografie (s.o.) herumzeigte?! Nimmermehr konnte sie es wohl zulassen, daß ihr Bruder einem so "leichtfertigen" Mädchen verfiel – und so hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Bruder nach Naumburg, wo dieser sich wegen schlechten Wetters zwischenzeitlich hinbegeben hatte, brieflich Bericht über ihre Sicht der Dinge zu erstatten. Damit beginnen in Nietzsche Zweifel zu nagen, die er etwa Gast gegenüber, vor allem aber auch Lou in einem Brief andeutet. Da Lou derartige Unterstellungen zurückweist, lenkt er schließlich am 4. August ein: "Kommen Sie ja, ich bin zu leidend, Sie leidend gemacht zu haben. Wir ertragen es miteinander besser." – und Lou sagt nun für den 7. August in Tautenburg zu. Elisabeth, die ihrer Rivalin nicht nachgeben will und kann, trifft sich mit Lou an diesem Tag in Jena, von wo aus es nach Tautenburg gehen soll. In Jena im Hause der befreundeten Familie Gelzer kommt es unversehens zum Eklat: Elisabeth, die bis dahin von Lou noch beinahe als "Schwester" gesehen wird, der sie "herzlich dankbar" ist (Brief vom 2. August an Nietzsche), konfrontiert sie unversehens im Hause der Gelzers mit ihrem "unsoliden" Bayreuther Lebenswandel, was dem Ansehen ihres Bruders unzuträglich sei – und da schlägt Lou eiskalt zurück. Lassen wir die verwickelte Geschichte, die ein Licht auf alle beteiligten Personen wirft, Janz berichten (II, 144 f.): "C. A. Bernoulli erzählt in seinem Aufsatz >Nietzsches Lou-Erlebnis< eine Anekdote aus der Sorrentiner Zeit. Danach »sprach eine junge Sorrentinerin in regelmäßigen Zwischenräumen in dem Landhause vor. Sie kam für Nietzsche. Aber bei ihm war die Rücksichtnahme auf äußere Korrektheit, die Scheu vor Anstoß und Geschwätz so ausgeprägt, daß er seinen Freund Rée bat, die Besuche des Landmädchens vor dem Fräulein von Meysenbug auf seine Kappe zu nehmen. Paul Rée erwies Nietzsche diesen Dienst, da er in dem Kapitel ganz vorurteilsfrei empfand, sogar mit einigem Vergnügen.« Leider gibt Bernoulli keine Quelle für diese Nachricht an, so daß ihre »Wahrheit« etwas fraglich bleibt. Sollten sich die Dinge aber wirklich so verhalten haben, so bleibt möglich, daß Paul Rée es Lou noch vor ihrer Reise nach Bayreuth und Tautenburg erzählt hat, um ihr zu beweisen, daß ihr neuer Freund nicht ganz so harmlos und ungefährlich sei wie er sich gebe und wie er dargestellt werde. Rée litt an Eifersucht, denn auch er liebte Lou und fürchtete sie zu verlieren. Elisabeth hat die Worte Lous in ihrem Schreiben an Frau Gelzer vom 24.9.-2.10.1882 überliefert - und hier scheint sie durchaus einmal die Wahrheit zu sprechen (Dokumente S. 251 ff. bzw. Peters S. 118): Es sollen hier nicht die Fragwürdigkeit dieser Informationen und die Mutmaßungen von Janz näher untersucht werden (auch wenn das In-die-Welt-Setzen von solchen Gerüchten der Zuführung von Prostituierten gerade im Fall Nietzsche sowie dessen Syphilis-Ansteckung doch sehr problematisch erscheint – und Bernoulli ist nicht unbedingt ein "Freund" Nietzsches ... übrigens ebenso wenig wie Peters); auch braucht auf das Benehmen Elisabeths – Nietzsche hätte insoweit sein "Lama" kennen und heraushalten müssen, wie er es zunächst ja auch richtigerweise tat – jedenfalls zunächst nicht weiter eingegangen zu werden. Meiner Meinung nach – und das tun eben die meisten Autoren nicht – muß hier insbesondere das Verhalten von Lou und Rée entsprechend "gewürdigt" werden, weil darin ein wichtiges Motiv für die späteren scharfen Reaktionen Nietzsches zu finden ist, hinter dessen Rücken das doch alles läuft. Sowohl von Lou als von Rée – die sich beide Einiges auf ihre philosophischen und psychologischen Fähigkeiten zugute halten – hätte man mehr Souveränität in ihrem Verhalten erwarten dürfen (im Hinblick auf den "berüchtigten" Nietzsche-Brief einer zeitbegrenzten oder "wilden" Ehe wurde das Notwendige bereits in Abt. I gesagt) – Rées Absicht, Nietzsche in ein fragwürdiges Licht zu stellen (und zwar noch, bevor Nietzsche umgekehrt in denselben Fehler verfiel!) ist jedenfalls eindeutig – was Lou in diesem Falle nicht rügt (wie später bei Nietzsche), sondern ganz im Gegenteil, bedenkenlos läßt sie sich von Rée munitionieren, und kaltblütig setzt sie diese Informationen gegen Elisabeth und damit natürlich indirekt auch gegen Nietzsche ein. Das spricht nicht unbedingt für Charakterstärke – vielmehr begibt sie sich, sie, von der doch der Vorschlag zu jener "Dreieinigkeit" ausging, wie Elisabeth zu Recht einwendet, auf das nämliche und kleinliche Niveau wie jene. Normalerweise hätte nun eine der beiden Frauen sich zurückziehen müssen – aber der Kampf um das jeweils eigene Interesse in Beziehung auf Nietzsche war offensichtlich wichtiger, und so nahmen es beide in Kauf, gemeinsam nach Tautenburg zu reisen und sogar unter einem gemeinsamen Dach zu wohnen! Denn die beiden Damen kamen beim Pastor des Ortes, einem Pfarrer Stölten unter, Nietzsche selbst wohnte in einem Bauernhaus bei dem Ehepaar Hahnemann.
Extra für Nietzsche ließ die Gemeinde die Waldwege herrichten und Bänke aufstellen: "Man ist artig gegen mich: in summa entstehen fünf neue Bänke in meiner Gegend, und die schönste um eine Buche herum, ganz für meine Bedürfnisse in großer Einsamkeit: sie soll heißen: >Die Fröhliche Wissenschaft<." (An die Schwester am 3.7.1882)
Am 7. August abends kamen die Damen von Jena aus an, freudig von Nietzsche empfangen – und Elisabeth hat nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Bruder von der wenige Stunden zurückliegenden Auseinandersetzung zu berichten. Das macht am nächsten Morgen erst einmal eine Aussprache zwischen Lou und Nietzsche nötig, und dies wird sich noch einige Male wiederholen: "Alle fünf Tage haben wir eine kleine Tragödienszene." Lou bleibt bis zum 26. August in Tautenburg – im steten und intensiven Gespräch mit Nietzsche, wechselweise in den Unterkünften bzw. auf weiten Spaziergängen, wobei die Schwester entweder völlig außen vor gelassen wird, oder aber nicht versteht, wovon die Rede ist. Nietzsche hält es täglich oft 10 Stunden und bis tief in die Nacht hinein aus, sich mit Lou auszutauschen, er verfaßt eine Stillehre für Lou, er korrigiert eigenhändig Aphorismen aus ihrer Feder: Die Stillehre kleidet Nietzsche auch in folgende Gedichtform und überreicht sie Lou:
Lou schreibt weiterhin fortlaufend Tagebuchblätter für Rée, die sie ihm per Post zukommen läßt, wovon Nietzsche wiederum nichts weiß. Jedenfalls sind wir so in der glücklichen Lage, einen authentischen Bericht von jenen Tagen nachvollziehen zu können (aus: Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 181-190): <Lou von Salomé Tagebuch für Paul Rée> Tautenburg <Montag> 14 August Es ist wieder die Zeit der Sonnenstrahlen, liebe Hüsung [Kosename für Paul Rée]. Sie scheinen wieder vom klaren Himmel herab und gedämpft durch das dichte, dunkle Laub des Tautenburger Walddörfchens dringend, spinnen sie ihr goldnes Lichtnetz über den ganzen Boden. Die Sonnenstrahlen sind förmlich von innen heraus gedrungen, – nachdem sie zuvor alle trüben Winkel in uns selber hell gemacht. N., im großen Ganzen von eiserner Consequenz, ist im Einzelnen ein gewaltsamer Stimmungsmensch. Ich wußte, daß wenn wir verkehren würden, was wir Anfangs beide im Sturm der Empfindung vermieden, wir uns bald genug, über alles kleinliche Geschwätz hinweg, in unsern tiefverwandten Naturen finden würden. Ich sagte ihm das schon schriftlich als Antwort auf den ersten, seltsamen Brief. Und so war es. Nach einem Tag des Verkehrs, in welchem ich mich bemühte, frei, natürlich und heiter zu sein, – hatte schon die alte ... statt gefunden. Er kam immer wieder herauf und am Abend nahm er meine Hand und küßte Sie 2 Mal und begann etwas zu sagen, was nicht ausgesprochen wurde. Die nächsten Tage lag ich zu Bett, er sandte mir Briefe zum Zimmer hinein und sprach durch die Thür zu mir. Nun hat mein altes Hustenfieber nachgelassen und ich stand auf. Gestern waren wir den ganzen Tag zusammen, heute haben wir einen wunderschönen Tag im stillen, dunklen Kiefernwald mit den Sonnenstrahlen und Eichhörnchen allein, verbracht. Elisabeth war auf der Dornburg mit Bekannten. Im Wirthshause, wo unter den großen, breitästigen Linden gegessen wird, hält man uns für ebenso zusammengehörig wie mich und Dich, wenn ich mit der Mütze und Nietzsche ohne Elisabeth, ankomme. Es plaudert sich ungemein schön mit N – doch das wirst Du besser wissen. Aber ein besonderer Reiz liegt im Zusammentreffen gleicher Gedanken, gleicher Empfindungen und Ideen, man kann sich beinah mit halben Worten verständigen. Einmal sagte er, davon frappirt: »Ich glaube, der einzige Unterschied zwischen uns ist der des Alters. Wir haben gleich gelebt und gleich gedacht.« Nur weil wir so gleichartig sind, konnte er die Differenz zwischen uns, oder das, was ihm so erschien, so heftig und gewaltsam nehmen, nur darum erschütterte sie ihn so. Ist man einander so unähnlich wie Du und ich, so empfindet man die Punkte der Übereinstimmung und freut sich ihrer, – ist man sich so verwandt wie N. und ich, dann fühlt man die Differenzen und leidet an ihnen. Die allgemeine Ungleichheit, ja der Gegensatz zweier Menschen zu einander, kann sowohl Sympathie wie Antipathie bedingen. Die Differenz im Einzelnen bei Gleichheit im Ganzen ist unterbrochene und gestörte Sympathie, sie wirkt immer peinlich, – und sie allein ist trennend. Ich hatte mir ja vorgenommen, unsere Gespräche zu notiren, indessen es ist beinahe unmöglich, sie fassen sich bei unsern Wanderungen durch die fernsten und nächsten Denkgebiete zu wenig in einzelnen, scharfen Aussprüchen zusammen. Und eigentlich besteht der Gehalt eines Gesprächs bei uns in dem, was nicht gerade ausgesprochen wird, sich aber aus dem halben Entgegenkommen eines jeden von uns von selbst ergiebt. Er hat so viel Freude an Unterhaltung daß er mir gestand, selbst in unserm ersten Streite hier, als ich ankam, wobei ihm sehr elend im Herzen gewesen wäre, habe er eine nebenhergehende Lust über meine Art zu widerlegen nicht unterdrücken können. Meine Abhandlung über die Frau hat er allein gelesen und fand den Stil des ersten Theils abscheulich. Was er sonst gesagt, ist gar zu weitläufig zu schreiben. Zuletzt gab er mir die Hand und sagte in ernstem und bewegtem Tone: »Vergessen Sie niemals, daß es ein Jammer wäre, wenn Sie nicht ein < ... > Den<km>al Ihres innersten, < ... > vollen Geistes setzten, solange Sie zu leben haben.« Letzteres bezieht sich auf seine verzweifelt schlechte Meinung betreffs meiner Gesundheit. Denke nur, er hatte schon medicinische Studien für mich gemacht. Er rieth mir, meine rasche, kleine Arbeit weiterzuführen und schrieb mir darauf bezügliche Bücher auf. Ich freute mich, als er sagte: es wäre ihm alles Produciren von Herzen zuwider, wenn es nicht ein vorzügliches wäre, – er würde also sonst nicht dazu rathen, wenn er es nicht mit dem besten Gewissen thun könnte. Schreiben lernen könnte ich in einem Tage, weil ich dazu vorbereitet wäre. Ich habe übergroßes Vertrauen zu seiner Lehrerkraft. Wir verstehen uns so sehr gut. Aber ob es gut ist, daß er den ganzen Tag von früh bis spät mit mir und im Gespräch ist, also nicht bei seiner Arbeit –; ich sagte es ihm heute, er nickte und sagte: »Ich habe es ja so selten und ich genieße es wie ein Kind.« Denselben Abend sagte er aber: »Ich darf nicht lange in Ihrer Nähe leben. « Die Erinnerung an unsere italienische Zeit kommt uns oft und < ... > schmalen Steig aufwärts gingen, sagte er leise: »monte sacro, – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.« – Wir sind sehr heiter miteinander, wir lachen viel. Zu Elisabeth’s Entsetzen, (welche übrigens fast nie mit uns ist) wird mein Zimmer sogleich vom »Geisterklopfen« heimgesucht, wenn N. hereintritt, was uns große Heiterkeit macht. Auch diese verwünschte Fähigkeit müssen wir gemeinsam haben. Ich freue mich, daß der gramvolle Zug aus seinem Gesicht geschwunden ist, der mir so weh that, und daß die Augen ihr altes Leuchten und Aufleuchten haben.
Schöne Stunden verbringen wir auch am Waldesrand, wo sein Bauernhäuschen liegt und einladend eine kleine Bank steht. Wie gut lacht und träumt und plaudert es sich im Abendsonnenschein, wenn die letzten Strahlen durch die Zweige zu uns herüberblicken. Freitag den 18ten August. Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida einmal aus Italien von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen. Der religiöse Grundzug unserer Natur ist unser Gemeinsames und vielleicht gerade darum so stark in uns hervorgebrochen, weil wir Freigeister im extremsten Sinne sind. Im Freigeiste kann das religiöse Empfinden sich auf kein Göttliches und keinen Himmel außer sich beziehen, in denen die religionsbildenden Kräfte wie Schwäche, Furcht und Habsucht ihre Rechnung fänden. Im Freigeiste kann das durch die Religionen entstandene religiöse Bedürfen, – jener edlere Nachschößling der einzelnen Glaubensformen, – gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, zur heroischen Kraft seines Wesens werden, zum Drang der Selbsthingabe einem großen Ziele. In N.’s Charakter liegt ein Heldenzug und dieser ist das Wesentliche an ihm, das, was allen seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit giebt. – Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt. Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern. An unsern Abenden, wenn die Lampe, wie ein Invalide mit meinem rothen Tuch verbunden, um seinen armen Augen nicht zu schaden, nur einen schwachen Schein durch das Zimmer wirft, kommen wir immer auf gemeinsame Arbeiten zu sprechen und wie froh bin ich, eine erkannte und bestimmte Arbeit nun vor mir zu haben. Von dem Plane, mein Lehrer zu sein, ist er ganz abgekommen, er sagt, ich dürfe nie einen solchen Anhalt haben, sondern <müsse> gänzlich unabhängig vorwärtssuchen, – auch niemals mich blos lernend verhalten, sondern schaffend lernen & lernend schaffen. – Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe gerathen, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich. Sind wir uns ganz nah? Nein, bei alledem nicht. Es ist wie ein Schatten jener Vorstellungen über mein Empfinden, welche N. noch vor wenigen Wochen beseligten, der uns trennt, der sich zwischen uns schiebt. Und in irgend einer verborgenen Tiefe unseres Wesens sind wir weltenfern von einander –. N. hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manchen dunklen Verließ & verborgenen Kellerraum der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt & doch sein Eigentlichstes enthalten kann. Seltsam, mich durchfuhr neulich der Gedanke mit plötzlicher Macht, wir könnten uns sogar einmal als Feinde gegenüberstehen.
Montag. 21 August. N. lachte sehr darüber als er gestern Dein Bild von meinem Schreibpult nahm und auch mit einzelnen, einen Rahmen darum bildenden Epheublättchen umsteckt fand, – bei der Gelegenheit vertieften wir uns in die Züge des Bildes und ich sagte ihm, man könne Deinen ganzen Charakter darin wiederfinden. Oben im Zusammenschluß von Stirn und Nasenwurzel liegt der Charakter Deines Denkens ausgedrückt: das scharf Beobachtende und Einschneidende verbunden mit einem kühnen Zug, – es macht den Eindruck intellektueller Tapferkeit u. Herrschaft. Der Blick der Augen darunter steht in einem gewissen Gegensatze dazu – sie drücken genau das aus, was Malwida Deinen Dualismus nennt, und dies ist der pikanteste Zug in Deinem Wesen: Du bist wie eine schwarze [ Schönheit mit blauen Augen, – um den Mund weich und lebensmüde, – ja mit einem] Abscheu vor dem Leben, – der ganze Pessimismus Deines Temperamentes. Dieser Zug um den Mund macht Dich älter als Du bist, Du mußt ihn schon gehabt haben als Du Deine psychologischen Beobachtungen, diese grauhaarigen Sentenzen mitten aus dem Jünglingsalter heraus, geschrieben hast. Dein Äußeres ist sprechender als das von N. dessen Charakterzüge man schwerlich aus seinem Bilde herausstudiren könnte. – Ihr differirt am meisten darin, daß bei N. das rückhaltlose Streben nach Erkenntniß gleichsam die zusammenfassende Kraft seines Wesens ist, welche alle seine verschiedensten Triebe und Eigenschaften in einem Griffe hält, – eine Art religiöser Kraft die den ganzen Menschen in eine hingebungsvolle Richtung zu diesem seinen Gott der Erkenntniß bringt. Bei Dir hingegen ist dieses selbe Streben in Gestalt rückhaltloser Wahrhaftigkeit vor Dir selbst, eine Dein Wesen in den erwähnten pikanten Gegensatz s p a 1 t e n d e Kraft. N. verhält sich seinem Erkenntnißziel gegenüber noch so, wie der Gläubige zu seinem Gott, der Metaphysiker zu seiner metaphysischen Wesenheit und stellt seinen Kopf wie seine Charakterkraft in dessen Dienst. Es liegt ihm darum noch daran, sich so zu sehen und zu erkennen wie er seinem Erkenntnißgott gegenüber sein möchte und darum ist er leicht nicht so absolut wahrhaftig vor sich selbst wie Du es bist. Deine Wahrhaftigkeit vor sich selbst, welche bei Dir die Herabsetzung gerade jener Züge bedingt welche Deine Vorzüge vor allen andern Menschen ausmachen müssen, ist nicht blos eine That des Verstandes sondern des Charakters. Deine Charakterkraft hat sich wie bei N. in den Dienst der Erkenntniß gestellt aber während dieser Dienst bei ihm religiös überhaucht und darum immer noch eine letzte Werthschätzung seiner selbst nicht ausgeschlossen ist, verhältst Du Dich Dir gegenüber rein erkennend, indifferent d. h. als bloßes Erkenntnißobjekt. Es ist allerdings der Reichthum einer heftigen, gewaltsamen, alle religiösen & großen Empfindungen stark und mächtig in sich bergenden Gefühlswelt welche N. in diesem Punkt hindert, – so wie z. B. auf einem andern Gebiete Stein durch eine ähnliche Kraftfülle der Empfindungen trotz des intensivsten Erkenntnißdranges in den Irrthümern der Metaphysik stecken zu bleiben droht. Mit einer solchen Empfindungswelt ist es schwer sich so rein als Erkenntnißobjekt zu betrachten, wie etwa der Physiologe seine Experimentirkatze betrachtet, und zu jener Selbstlosigkeit des erkennenden Geistes zu erheben, der wie ein klares, schauendes Auge über sich ebenso ruhig wie über den Andern schwebt. Aber, wie gesagt, solche Empfindungswelt ist ein Reichthum und ein philosophischer Reichthum, vor Allem für den Psychologen, der nicht weit, tief und umfassend genug empfinden und erleben kann, um ein All-Verständniß zu haben. Ich möchte in der Haut aller Menschen gesteckt haben. Eure oben erwähnte Verschiedenheit spricht sich auch sehr deutlich in kleinen Zügen aus. Z. B. in Euren Stilansichten. Dein Stil will den Kopf des Lesenden überzeugen und ist darum wissenschaftlich klar und streng, mit Vermeidung aller Empfindung. N. will den ganzen Menschen überzeugen, er will mit seinem Wort einen Griff in das Gemüth thun und das Innerste umwenden, er will nicht belehren sondern bekehren. Alle Differenzen in Euren Ansichten resultiren aus diesen, Eurer Naturverschiedenheit entspringenden Differenzen Eurer Interessen, Sie fangen da an wo Dein Werk aufhört: bei der praktischen Moral. Wenn du eine solche aufstelltest, so wäre sie ein Mittel etwa zum Bewahrheiten der Theorie, bei N. ist sie der Selbstzweck und alles Theoretisiren Mittel dazu. Eure verschiedene Art zu arbeiten ist auch bezeichnend für diese Verschiedenheit Eurer Naturen. N. ist, wie ich, besessen von seiner Arbeit, eine jede sich nicht auf sie beziehende Empfindung erscheint ihm als eine Art von Treubruch gegen sie und würde das Zustandekommen der Arbeit stören. Du hingegen besitzt die Arbeit, d. h. Du hast sie in Deiner Gewalt, Du vermagst, wie wir es in Stibbe thaten, mit der Uhr in der Hand, bestimmte Minuten lang mit mir etwa zu verplaudern und dies stört die Fortsetzung der Arbeit nicht nur <nicht>, sondern Du kannst unter Umständen frischer zu ihr zurückkehren weil sie Deine Empfindungen nicht so heftig absorbirte. Du hast nicht in dem Maße wie N., – der Egoist in großem Stil, – das Herz im Gehirne stecken und unlöslich mit demselben verbunden. – Es kann aber bei Dir auch noch einen Grund haben, nämlich diesen, daß Du im Allgemeinen dem Leben indifferent und müde gegenüberstehst und Dir, um Dich mit Lebensreiz und Arbeitsfreude zu erfüllen, etwas Freudiges und Dich Reizendes darum nicht hinderlich sein kann, es kann dasselbe, was N. zerstreut und abzieht, Dir den élan dazu geben. < ... > beschwichtigt und einander dienen heißt. Zugleich erhält sein Ziel durch diese seine Beschaffenheit ein, ich möchte sagen christlich religiöses Gepräge, indem er aus einem gleichsam erlösungsbedürftigen, peinvollen Zustande als eine Selbstrettung heraus ergreift. Mein ganz gleiches Erkenntnißziel ergriff mich in vollem Glückszustande: es ist dies die Verschiedenheit die bei uns am augenfälligsten ist und auch an allen unsern Entwickelungskämpfen nachzuweisen ist. Nietzsche warf zum Beispiel die Religion über Bord als sein Herz nichts mehr für sie fühlte und sich in seiner Leere und seinem Überdruß nach einem neuen ihn erfüllenden Ziele sehnte. Mir fiel der Unglaube blitzähnlich in’s Herz oder vielmehr in den Verstand welcher das Herz, das mit kindlicher Inbrunst am Glauben hing, diesen Glauben aufzugeben zwang. Bei N. war der Schmerz stets die Ursache einer neuen Entwickelungsphase und auch seines jetzigen Zieles, bei mir war er ein, mir selbst angethanes Mittel um das neue, als höher vorschwebende Ziel zu erfassen. Bei ihm war es ein Zustand bei mir mehr ein Thun in welchem der Übergang zu einer neuen Entwickelung statt fand. Dieses Passive seiner Schmerzen findet sich auch eigenthümlich darin ausgedrückt daß er so viel körperlich dulden mußte, während mir durch die ganze frühere Lebensgestaltung Schmerz und Kampf zu einem Worte wurden. In dieser Beanlagung N.’s liegt auch der Grund warum er so viele verschiedene Ziele ergriffen & aufgegeben hat, während ich schon früh und gleichsam naturnothwendig auf Eines hingetrieben worden bin. Ziele waren für mich keine Wahl, wie ich überhaupt das Wahlgefühl eigentlich nicht gekannt habe sondern in mir selber viel Analogie mit nothwendig wirkenden Naturkräften auffand, – weßhalb die Lehre von der Willensfreiheit mich nicht besonders kitzelte. Durch dieses, eine Wahl zulassende Suchen nach einem Ziel, welches ihn aus dem peinvollen Zustande der Kräfteverzehrung und der Zerfallenheit mit sich retten sollte, kommt es auch daß dasselbe ihm nicht wie mir als die höchste Bethätigung des eignen Wesens, als intensivster Selbstausdruck erscheint, sondern als etwas von ihm Getrenntes und Verschiedenes. (<am Rand:> Und wechselt wie die Staatsformen, – je nachdem dominirenden Triebe.) Während ich also in demselben Maße mich selbst finden, bethätigen, erfüllen würde, je gänzlicher und unbedingter die Hingebung an mein Ziel, erscheint ihm seine Art Hingebung als eine Art Selbstvernichtung, die doch nur eine Selbstrettung ist und bezweckte. Und während ich es für ganz richtig halte was N. von mir sagte: »daß für ein in sich concentrirtes Wesen wie ich, welches sich ähnlich naturnothwendig entwickelt, man eigentlich ein letztes Ziel als ein sich in einer Handlung äußerndes denken müßte, – es sei eine eigenthümliche Wendung meines Wesens daß dasselbe durch seine intellektuelle Entwickelung von Handlungen erfordernden Zielen abgelenkt sei«, – empfindet umgekehrt er sein Ziel als ein gleichsam zu Erduldendes. In diesen beiden Punkten: daß aus <den> angegebenen Gründen ihm sein Ziel als ein von ihm selbst getrennt Gedachtes und als zu Erduldendes, – die Hingebung daran also als Selbstvernichtung erscheint, finde ich die Erklärung für N.<‘s> Auffassung des Heroischen. Heroisch war die Selbstaufopferung des Märtyrers für seine religiöse Idee, weil diese ihm moralisch hoch stand. Ich weiß nicht genau, inwieweit das Wort heroisch ohne moralische Bedeutung statthaft ist. Jedenfalls setzt es ein sich selbst um des Zieles willen angethanes Leid voraus. Dies Leid ist bei Nietzsche d a s L e b e n s e l b s t. Es ist das Beharren im Leben um der Erkenntniß willen. In meinen Augen liegt nun sein Heroismus nicht darin daß er sich um der Erkenntniß willen dies Leid anthut, denn dazu müßte dies Erkenntnißziel moralische Werthschätzung haben. Freilich können wir ohne Religion und ohne Moral in uns selber eine Selbstreligion und Selbstmoral gründen, aber dieselben bleiben doch eben in uns stecken & können heroische Mittel aber nicht heroische Zwecke bewerkstelligen, denn sie bezwecken nur das, was uns am liebsten ist, also Glück, sei es auch durch die Wollust des Schmerzes. Ist aber das Wort Heroismus ohne seine moralische Bedeutung noch statthaft, so sehe ich seinen Heroismus i n d e r K r a f t d e r S e l b s t e r h a l t u n g, – in jener Kraft, welche das Leid des Lebens freiwillig auf sich nimmt weil sie immer wieder in sich die Schöpferstärke fühlt, dasselbe zu einem Mittel für ein Ziel zu machen, in welchem sie sich über Leid und Weh hinweggetragen fühlt. Ich sehe seinen Heroismus in der Schöpferkraft welcher auch das härteste und sprödeste Material nicht zu hart und spröde ist weil sie ihm dennoch überlegen, dennoch fähig ist, aus ihm ihre Götterbilder zu meißeln. Für uns Freidenker, welche nichts Heiliges mehr haben, was sie als religiös oder moralisch groß anbeten könnten, giebt es trotzdem noch Größe, welche uns zu Bewunderung, ja zu Ehrfurcht zwingt. Ich ahnte diese Größe an N. schon als ich Dir an den italienischen Seen von ihm sagte: sein Lachen sei eine That. Es giebt keine Werthschätzung der Richtungen mehr, die der Mensch einschlägt, – aber es giebt eine Größe der Kraft. Diese Dokumente Lous sprechen für sich selbst; sie zeigen sowohl ihre Sicht des Verhältnisses der Personen untereinander wie auch ihre Auffassung der Philosophie Nietzsches, die sie aus erster Hand gewinnen durfte. Dabei ist ihr offenbar früher als Nietzsche klar, wie sehr ihre eigentlichen Anliegen auseinanderlaufen (s.o.) Bei Nietzsche hört man Derartiges erst, nachdem zuerst die persönliche Beziehung zerbrochen ist. Besonders hinweisen möchte ich allerdings auf jenen Teil, in dem beide an Hand des von Lou mitgebrachten Bildes von Rée von dessen Physiognomie auf seine Eigenschaften schließen, und zwar aus zwei Gründen: 1. Damit mußte Nietzsche klar sein, daß sich zwischen Lou und Rée bereits ein besonderes Verhältnis herausgebildet hatte. Aus all seinen bekannten Äußerungen, die teils schon beigebracht wurden, teils hier noch folgen werden, spricht, daß er diesen Grundtatbestand – wenn vielleicht auch zähneknirschend – akzeptiert hat und es ihm allein um die Förderung Lous ging, und dies nicht einmal unbedingt in Richtung auf seine Philosophie – auch zu ihr sagt er den Satz: Werden Sie, der Sie sind! 2. Es hat viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß jene negativen Äußerungen Nietzsches über Rée, die Lou ihm vorhielt (und die sie im umgekehrten Falle hatte durchgehen lassen), genau anläßlich dieser Betrachtungen an Hand der Fotografie Rées gefallen sein dürften; damit sieht die Sache aber bereits wieder ganz anders aus, denn Lou hatte damit ja den Anlaß für derartige Äußerungen selbst erst ermöglicht – und es ist insofern auch keineswegs gesagt, daß solche dabei gefallenen "herabsetzenden" Bemerkungen das Ziel gehabt haben müssen, Rée bei Lou in Mißkredit zu bringen. Vielmehr kann Nietzsche hier auch ganz einfach und offen seine Meinung dargelegt haben, wie sie aus seiner persönlichen Kenntnis Rées in Verbindung mit der Fotografie entsprang. Nicht vorenthalten möchte ich natürlich die Schilderung der Tautenburger Tage durch Lou, wie sie diese in ihrem Lebensrückblick darstellt. Neben der gemeinsamen Arbeit an den Aphorismen und der "Stilkunde" sei noch hervorgehoben – und dies aus naheliegendem Grunde, da die Stellung Nietzsches zum Weibe ja weithin umstritten ist –, daß sich die beiden anläßlich von Aufzeichnungen von Lou zu diesem Thema auch darüber unterhielten und Nietzsche für Lou eine aufschlußreiche Aufzeichnung fertigte, die im Dokumententeil zu finden ist. Das Wissen um die bevorstehende Abreise verursacht Nietzsche offenbar wieder einen Anfall seines Kopf- und Magenleidens; am 25. August schreibt er ihr: Doch am nächsten Tag rafft er sich zusammen: "Meine liebe Lou, Pardon für gestern! Ein heftiger Anfall meines dummen Kopfleidens – heute vorbei. Und heute sehe ich Einiges mit neuen Augen.– Mit der Abreise Lous am 26. August nach Stibbe gingen für beide hochgestimmte und ergebnisreiche Tage zu Ende, wie sie Nietzsche – im Gegensatz zu Lou – nie mehr erleben sollte. Lou, die lebensklügere, hat sich stets eine ungetrübt positive Erinnerung an diese Tage bewahrt; anders Nietzsche, der sich, kaum nach Naumburg zurückgekehrt, heftigsten Vorwürfen seitens seiner Familie ausgesetzt sah. |