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Dritte Abteilung:

Auseinandergehen
und Nachwehen


Lou von Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche

Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die Aufenthaltsorte Nietzsches nach der Trennung von Lou in Tautenburg; der hier aufgezeigte kurze Zeitraum von zwei Jahren, der uns im folgenden beschäftigen wird, mag exemplarisch stehen für die ruhelose und verzweifelte Suche Nietzsches nach "seinem" ihm gemäßen Ort und Klima. Wie oft ist er nicht zunächst begeistert, meint endlich fündig geworden zu sein – man denke nur an Genua, Sils, Nizza – um dann festzustellen, daß es doch nicht gehen will. Diese äußere scheint mir nur der Spiegel der inneren Getriebenheit: Jedes Ankommen an einer Erkenntnis- wie an einer Reisestation wird euphorisch begrüßt – aber nur, um im nächsten Moment davon wieder abgestoßen zu werden. Es gibt keinen Halte- und Ruhepunkt in Nietzsches Denken wie in seiner äußeren Existenz.

So. 27. Aug. bis Fr. 8. Sept. 1882

Anderthalb Wochen in Naumburg

Sa. 9. Sept. bis Mi. 15. Nov. 1882

Zu Besuch in Leipzig

Mi. 15. bis Mi. 22. Nov. 1882

Reise über Basel und Genua nach St. Maria Ligure

Do. 23. Nov. 1882 bis Fr. 23. Feb. 1883

Drei Monate in Rapallo in Ligurien

Fr. 23. Feb. Bis Do. 3. Mai 1883

Zehnwöchiger Winteraufenthalt in Genua

Do. 3. Mai bis Do. 14. Juni 1883

In Rom

ca. Di. 5. bis ca. Mi. 13. Juni 1883

In Süditalien (Abruzzen)auf der Suche nach einem Sommeraufenthaltsort

ca. Do. 7. bis ca. Mi. 13.Juni 1883

Aquila – in Süditalien (Arsetri) auf der Suche nach einem Sommeraufenthaltsort

ca. Sa. 9. bis ca. Mi. 13. Juni 1883

Terni

ca. Mo. 11. bis ca Mi. 13. Juni 1883

Volskergebirge

Do. 14. Juni bis So. 17. Juni 1883

Rom – Sils Maria (via Mailand, Bellagio) – Rückreise nach Norden

So. 18. Juni bis ca. Mi. 5. Sept. 1883

Sils Maria – Zweiter, siebenwöchiger Aufenthalt in Sils-Maria

Mi. 22. bis Sa. 25. Aug. 1883

Treffen mit Overbeck in Schuls-Tarasp (Unterengadin)

Fr. 5. Sept. bis Di. 2. Okt. 1883

Qualvolle Wochen in Naumburg

Do. 4. bis Sa. 6. Okt. 1883

Mit Overbeck in Frankfurt am Main

Sa. 6. bis So. 7. Okt. 1883

Anfall in Freiburg im Breisgau

So. 7. bis Di. 9. Okt. 1883

Drei Tage in Basel bei Overbecks

Mi. 10. bis Do. 11. Okt. 1883

Basel – Reise via Genua nach La Spezia

ca. Fr. 12. bis ca. So. 21. Okt. 1883

In La Spezia in Ligurien

ca. Mo. 22. Okt. 1883

Zurück in Genua

So. 2. Dez. 1883 bis So. 20. April 1884

Erster, viermonatiger Winteraufenthalt in Nizza

Stellen wir uns nun die damaligen Reiseumstände per Bahn, Kutsche und Schiff vor; denken wir uns weiter dazu die praktische Unbeholfenheit des Baseler Professors der Altphilologie; vor allem aber seine körperlichen Gebresten wie seine Kopf- und Magenbeschwerden wie seine Halbblindheit – so scheint es fast ein Wunder, daß er diese Reisetätigkeit nicht nur unbeschadet durchzuführen in der Lage war – auch wenn er selbst oder sein Gepäck des öfteren zunächst am verkehrten Ort landete. Vielmehr rang sich dieser zähe "kleine Professor" gleichzeitig noch ein schriftstellerisches Werk ab, das allein schon vom Umfang her – und auf die ihm gewährte Schaffenszeit berechnet – seinesgleichen sucht.

Nun, wir haben Nietzsche am Ende der vorigen Abteilung II Tautenburg Ende August verlassen sehen – Lou hingegen hatte sich zu Paul Rée nach Stibbe begeben, auf das (Ritter-)Gut von dessen Eltern bei Tütz in Westpreußen. Nachdem Nietzsche um den 1. September noch seiner Schwester gegenüber "das neue auftauchende Gespenst in das Nichts" zurückgeschickt, also seine Schwester mit ihren Vorwürfen Lou und ihm gegenüber erneut zurückgestoßen hatte. Er wandte sich zunächst nach Naumburg und unternahm einige Schritte, um die geplante Übersiedlung mit Lou und Rée nach Paris vorzubereiten. Und er paßt seine Komposition "Hymnus an die Freundschaft" dem ihm von Lou überlassenen Text von deren "Lebensgebet" an (s. zu diesem Komplex die "Musik"-Seite sowie den Artikel "Nietzsche als Komponist"): "... ich habe Ihr Gebet an das Leben componirt ... Zuletzt, meine liebe Lou, die alte tiefe herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind! Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipiren, und schließlich muß man sich noch von dieser Emancipation emancipiren!" (KSB, 6, Nr. 293, S. 247 f.)

Der Stellung Nietzsches zu Lou sei in Verbindung mit dieser "Bitte" noch einmal grundsätzlich auf die Spur gegangen: Aus allem, was wir bisher in diesem Zusammenhang von ihm gehört und gelesen, aber auch an Handlungen gesehen haben, scheint sich eine zweifache Einstellung Nietzsches zu Lou herauszukristallisieren, wohingegen diejenige Lous gegenüber Nietzsche in mehrfacher Hinsicht nur und recht einfach erscheint.

1. Nietzsches Hauptmotiv ist nach allen Äußerungen und deren jeweiliger Betonung philosophischer Natur, hierin selbst wieder dreifach geschichtet:

a) Er will im Zusammenwirken mit Lou "die Philosophie selbst" voranbringen.

b) Er will Lou selbst auf ihrem Weg, wie er ihn selbst sich vorstellt, voranbringen.

c) Er sucht für sein eigenes Philosophieren einen "Bruder im Geiste" und "Erben", wobei ihm Lou dafür geradezu als vom Himmel geschickt erscheint.

2. Wie es in einem solchen Falle wohl kaum ausbleiben kann, spricht die junge Frau auch die hinter- und untergründige Seite des Mannes an – unausweichlich schleichen sich emotionale Motive seitens Nietzsche mit ein, die jedoch nicht deckungsgleich mit denen Lous sind.

Ich bin überzeugt – und alles andere wäre bei einem Psychologen wie Nietzsche auch ein Wunder –, daß er diese Motivmischung bei sich durchaus wahrnahm; dabei waren für ihn selbst von überragender Bedeutung die unter 1. genannten Beweggründe, wohingegen die emotionale Seite eine zwar mit Hoffnungen durchsetzte, aber untergeordnete Rolle spielte. Dies scheint mir aus allen bekannten Äußerungen, in denen Nietzsche immer wieder und ausdrücklich auf die unter 1. genannten Motive insistiert, klar und unzweideutig hervorzugehen.

Lou hingegen ging es weder um die Sache der Philosophie (1a) noch um eine zukünftige Liaison mit Nietzsche (2), sondern vor allem um sich selbst (1b), wobei für sie dieses Motiv des "eigenen Werdens in Freiheit" dermaßen im Vordergrund stand, daß sie auch mit der Rolle als "Schüler und Erbe" (1c) sich überfordert sehen mußte.

Dies umso mehr, als sie sich längst für Rée entschieden hatte, ohne daß dies von den beiden "Freunden" Nietzsche entsprechend zur Kenntnis gebracht worden wäre. Für sie war ersichtlich alles eindeutig und klar, während Nietzsche gleichzeitig noch auf Seiten seiner eigenen Familie "unters Feuer" geriet. Die Rolle seiner Schwester ist in Teil II ja schon ausführlich angesprochen worden, dazu traten nun in Naumburg Schwierigkeiten mit der eigenen Mutter hinzu.

Zunächst hatte sich Nietzsche dort wieder einmal fotografieren lassen; dabei entstand jener Satz von fünf Fotografien, von denen zwei Nietzsche besonders gut gefielen, so daß er sie öfter nachbestellte, und die so zur quasi "offiziellen" bildlichen Darstellung Nietzsches wurden – eine davon befindet sich oben auf dieser Seite.

Satz der Fotografien vom Anfang Sepember 1882

Die Schwester hatte natürlich in der Zwischenzeit ebenfalls von Lou aus ihrer Sicht nach Hause berichtet, wohl auch von der berüchtigten Fotografie, auf der Lou mit Peitschchen die beiden Herren vor ihren Karren spannt, und weigerte sich zu kommen; im Streit geht die Mutter so weit, Nietzsche eine "Schande für das Grab des Vaters" zu nennen – worauf Nietzsche sofort seine Koffer packen läßt und abreist.

Lou schreibt er am 7. September dazu: "Heute siedele ich nach Leipzig über ... Es kommt mir jetzt so vor, als ob meine Rückkehr »zu den Menschen« dahin ausschlagen sollte, daß ich die Wenigen, die ich noch in irgend einem Sinne besaß, verliere. Alles ist Schatten und Vergangenheit. Der Himmel erhalte mir mein Bischen Humanität! –"

Daß er das Verhältnis zu Lou und Rée noch ganz ungetrübt sieht, geht daraus hervor, daß er im gleichen Schreiben auf ihre Diskussionen über die Entwicklung des "Verantwortlichkeitsgefühls" eingeht: "Das Ichgefühl des Einzelnen der Heerde, ebenso wie sein Gewissensbiß als Heerden-Gewissensbiß ist außerordentlich schwer mit der Phantasie zu erfassen – und ganz und gar nicht nur zu erschließen. Die größte Bestätigung meiner Heerden-Instinkt-Theorie gab mir jüngst das Nachdenken über die Entstehung der Sprache." (Hg. E. Pfeiffer, Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 224 – s. dazu ausführlich auf der Dokumentenseite) Und er schließt, ganz im Sinne seiner oben angesprochenen Position: "Vorwärts, meine liebe Lou, und aufwärts!"

An Overbeck schreibt er etwa Mitte September: "Die Tautenburger Wochen haben mir wohlgethan, namentlich die letzten; und im Ganzen Großen habe ich ein Recht, von Genesung zu reden." "Das Nützlichste aber, was ich diesen Sommer gethan habe, waren meine Gespräche mit Lou. Unsre Intelligenzen und Geschmäcker sind im Tiefsten verwandt – und es giebt andererseits der Gegensätze so viele, daß wir füreinander die lehrreichsten Beobachtungs-Objekte und -Subjekte sind. Ich habe noch Niemanden kennengelernt, der seinen Erfahrungen eine solche Menge objektiver Einsichten zu entnehmen wüßte ... Gestern schrieb mir Rée »Lou ist entschieden um einige Zoll gewachsen in Tautenburg« – nun, ich bin es vielleicht auch. Ich möchte wissen, ob eine solche philosophische Offenheit, wie sie zwischen uns besteht, schon einmal bestanden hat."

Und auch vom Verhalten seiner Schwester erzählt er Overbeck: "Leider hat sich meine Schwester zu einer Todfeindin L’s. entwickelt, sie war voller moralischer Entrüstung von Anfang bis Ende und behauptet nun zu wissen, was an meiner Philosophie ist. Sie hat an meine Mutter geschrieben, »sie habe in Tautenb. meine Philosophie in’s Leben treten sehen und sei erschrocken: ich liebe das Böse, sie aber liebe das Gute. Wenn sie eine gute Katholikin wäre, würde sie in’s Kloster gehen und für all das Unheil büßen, das daraus entstehen werde.«

Kurz, ich habe die Naumburger »Tugend« gegen mich, es giebt einen wirklichen Bruch zwischen uns." (Pfeiffer, Dokumente S. 228 f.)

Und Rée gegenüber bezeichnet er Lou im Brief vom 15. September gegenüber als "meine Schwester (nachdem ich die natürliche Schwester verloren habe, muß mir schon eine übernatürliche Schwester geschenkt werden.)" Im Brief vom nächsten Tag an Lou fallen die berühmten Worte vom "Geschwistergehirn" – ihren "Gedanke[n] einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber", den sie selbst später bei ihrer Nietzsche-Biografie anwenden wird, heißt Nietzsche ausdrücklich gut und mit seiner eigenen Auffassung völlig übereinstimmend. Seine Briefe sind launig und selbstironisch im Ton, da kann denn auch Rée nicht anders – nachdem Nietzsche die oben angesprochene Fotografie an beide gesandt hatte, als enthusiastisch auszubrechen: "...gerade jetzt und für alle Zukunft kann uns nichts trennen, da wir in einem Dritten verbunden sind, dem wir uns selbst unterordnen." – womit natürlich Lou gemeint ist.

In Nietzsche sieht es jedoch nicht so "sonnig" aus, wie es seine Briefe an Lou und Rée zu spiegeln scheinen – das ließ sich schon dem angeführten Brief an Overbeck entnehmen; und so notiert er in dieser Zeit einen Briefentwurf an seine Schwester, der offenbar nicht abgeschickt wurde: "Diese Art von Seelen, wie Du eine hast, meine arme Schwester, mag ich nicht; und am wenigstens mag ich sie, wenn sie sich gar noch moralisch blähen; ich kenne Eure Kleinlichkeit.– Ich ziehe es bei weitem vor, von Dir getadelt zu werden." (Pfeiffer, Dokumente S. 233) Auch zehrt der Vorwurf seiner Mutter nach wie vor schwer an ihm, denn das Vorbild des Vaters hält er zeitlebens hoch und in Ehren.

Das Spannungsfeld Lou – Schwester – Mutter zwingt Nietzsche in eine seiner schwersten Krisen; aus diesem Grunde stelle ich auf der Dokumentenseite einige in neuerer Zeit zunehmenden Spekulationen über Nietzsches Verhältnis zum weiblichen Geschlecht zusammen, die auf dem familiären Hintergrund bzw. im Zusammenhang mit der Schwester konstruiert werden.
Dort finden Sie auch zwei Gedichte von 1858 (Zwei Lerchen, Colombo), die recht aussagekräftig für die Entwicklung des jungen Nietzsche sind und die Sie sich daher nicht entgehen lassen sollten: Schon in diesem Alter von 13 Jahren ist ihm eine Haltung zum Leben eigen – jene Suche im Unbekannten und ein über sich hinaus Streben – , die auch noch sein Verhalten zu Lou bestimmt, wie es in seinen Briefen an sie immer wieder zum Ausdruck kommt.–

Die "Dreieinigkeit" wechselt indessen eifrig weiter Briefe:

Über Carmen schreibt Nietzsche an Lou gleich zweimal. Zunächst anläßlich einer Aufführung im Rosenthal in Leipzig, wo er "den zweiten Cognac des Jahres" trank: "... und dachte in aller Unschuld und Bosheit darüber nach, ob ich nicht irgendwelche Anlage zur Verrücktheit hätte. Ich sagte mir schließlich Nein. Dann begann die Carmen-Musik, und ich gieng für eine halbe Stunde unter in Thränen und Klopfen des Herzens." – und ein weiteres Mal mit Brief vom 26. September anläßlich einer Berliner Aufführung – und zwar mit Lilli Lehmann (1842-1929), die er in Bayreuth 1872 persönlich kennengelernt hatte: Frau Lehmann sang bei der Uraufführung 1876 eine der Rheintöchter (Woglinde) und hat in ihren Memoiren das Erlebnis der ersten Festspiele festgehalten – offenbar hat Nietzsche sie zu diesem Anlaß nicht persönlich wiedergesehen, da er Bayreuth damals fluchtartig verlassen hatte. Jedenfalls spricht er von ihr mit Vornamen, was auf eine nähere Beziehung ("ein paar Spaziergänge") schließen läßt. Ich gehe darauf näher ein, da ich in der glücklichen Lage bin, Ihnen hier den zusammengefaßten Bericht Lilli Lehmanns von 1876 (Sendung des Bayer. Fernsehens vom April 2001) als Video anzubieten.


Lili Lehmann über Bayreuth 1876 - 3,5 MB ca. 5 Min.

Anfang Oktober treffen Lou und Rée in Leipzig ein – die "Dreieinigkeit" besucht ein Wagner-Konzert der Bayreuther Künstler sowie Lessings Nathan der Weise. Lou reflektiert über letzteres Stück ausführlich in ihren Aufzeichnungen und hält unter anderem fest: "So wie die christliche Mystik (wie jede) gerade in ihrer höchsten Extase beim grobreligiöser Sinnlichkeit anlangt, so kann die idealste Liebe – gerade vermöge der großen Empfindungsaufschraubung in ihrer Idealität wieder sinnlich werden. Ein unsympathischer Punkt, diese Rache des Menschlichen,– ich liebe nicht die Gefühle da, wo sie in ihrem Kreislauf wieder einmünden, denn das ist der Punkt des falschen Pathos, der verlorenen Wahrheit und Redlichkeit des Gefühls. Ist es dies was mich N entfremdet?" (Pfeiffer, Dokumente S. 239)


Blick auf Leipzig - Theater und Stadt 1866

Ein weiteres Motiv ihrer Entfremdung von Nietzsche bietet Lou in ihrem Lebensrückblick: "Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée, bei mir schlecht machen sollten – und auch das Erstaunen, daß er diese Methode für wirksam halten konnte." So habe Nietzsche von Paul Rée (der ständig eine Giftphiole bei sich trug) gesagt, er sei »ein Feigling, wie es keinen gibt« (Gesamttext siehe Dokumentenseite)

Einen Tag vor der Abreise aus Leipzig lernte auch Peter Gast Lou persönlich kennen – hören wir seine Schilderung: »Sie ist wirklich ein Genie, und von Charakter ganz heroisch; von Gestalt ein wenig größer als ich, sehr gut proportioniert im Bau, blond mit altrömischem Gesichtsausdruck. Ihre Einfälle lassen erkennen, daß sie sich bis an den äußersten Horizont des Denkbaren, sowohl im Moralischen, als im Intellektuellen, gewagt hat, wie gesagt: ein Genie, an Geist und Gemüt.« (E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, Weimar 1932, S. 82.) Diese Schilderung muß natürlich als stark von Nietzsche beeinflußt angesehen werden – in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konnte Gast Lou unmöglich aus eigener Anschauung in dieser Weise kennengelernt haben (und so lauten spätere Äußerungen, als er sich beim Weimarer "Archiv" der Schwester verdingt hat, denn auch ganz anders ...)

Am 5. November reisten Lou und Rée nach Berlin ab, wo sie die Mutter des letzteren trafen, um von dort aus nach Stibbe weiterzufahren. Nietzsche schreibt noch in der zweiten November-Woche an Oberbeck: "Lou und Rée sind in diesen Tagen abgereist, zunächst um mit Mutter Rée sich in Berlin zu treffen: von da geht es nach Paris. Mit der Gesundheit von Lou steht es bejammernswürdig, ich gebe ihr nun viel kürzere Zeit als noch in diesem Frühjahr. Wir haben unser gut Theil Sorge; Rée ist wie geschaffen für seine Aufgabe in dieser Sache. Für mich persönlich ist L. ein wahrer Glücksfund, sie hat alle meine Erwartungen erfüllt – es ist nicht leicht möglich, daß sich zwei Menschen verwandter sein können als wir es sind." (Pfeiffer, Dokumente, S. 246)

Doch dies sind – ohne daß sich Nietzsche dessen wohl bewußt ist – bereits melancholische Rückblicke; so schreibt er am 8. November an Lou: "Wie seicht sind mir heute die Menschen! Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich ertrinken kann! Ich meine ein Mensch." Gleichzeitig wendet sich seine Mutter Franziska, den Einflüsterungen Elisabeths ausgeliefert, mit einem längeren Brief an ihn; er muß sich von ihr fragen lassen, warum er so würdelos dem Mädchen nachlaufe, "was ihn so geringschätzig behandelt wie noch kein Mensch auf der Welt". "Aber wenn nun gar Jemand mit dem Finger an die Stirn gelegt von Dir sagt ‚Er ist ein Verrückter der nicht weiß, was er will’ ‚Ein gemeiner Egoist der meinen Geist ausbeuten will’ – –". (KGB II, 2, Nr. 152, S. 301 f.) So sich zwischen allen Stühlen wiederfindend reist er in plötzlichem Entschluß, die Paris-Pläne endgültig verwerfend, am 15. November zuerst nach Basel, wo er den Overbecks berichtete, "daß wohl zwischen ihnen alles aus sei" (Bernoulli I, S. 338), um sodann über Genua nach Santa Marguerita weiterzufahren.


Übersicht ligurische Küste

Overbeck beschreibt seinen Eindruck von Nietzsche, den er in den drei Tagen vom 16.-18. November gewann, in einem Brief an Rohde vom 27.12.1882 (Chronik S. 538): "Er hat wohl im vergangenen Sommer und Herbst die schlimmste Zeit seines Lebens durchgemacht ... Die Folge ist jetzt eine Vereinsamung von einer Vollständigkeit, die selbst ihm neu und unerträglich ist, und Einsamkeit ist nach den Erfahrungen dieses Sommers für ihn das schlimmste Gift. ... Was N zur Zeit völlig niedergeworfen hat, [...] ist nächst dem Auseinandergehen jener Geschichte mit der Russin – was wie die Dinge lagen, an sich ein wahres Glück ist – nun auch der völlige Bruch mit seiner Familie, womit nun seine an dunklen Punkten überreiche Zukunft sich vollends verfinstert. ... Seine Verlassenheit von Glück und Menschen kann kaum grösser gedacht werden."

Am 23. November zieht Nietzsche nach Rapallo um als der einzige Gast im albergo della Posta: "Mein Reich erstreckt sich jetzt von Portofino bis Zoagli; ich wohne in der Mitte, nämlich in Rapallo, aber meine Spaziergänge führen mich täglich an die genannten Grenzen meines Reichs. Der Hauptberg der Gegend, von meiner Wohnung an aufsteigend, heißt ‚der fröhliche Berg’, Monte allegro: ein gutes omen – hoffe ich."


Blick auf Rapallo heute

Gegenüber Lou und Rée sucht er zu retten, was (nicht mehr) zu retten ist: "Denken Sie, liebster Freund, so gut als möglich von mir, und bitten Sie auch Lou um eben dasselbe für mich. Ich gehöre Ihnen Beiden mit meinen herzlichsten Gefühlen – ich meine dies durch meine Trennung mehr bewiesen zu haben als durch meine Nähe. Alle Nähe macht so ungenügsam – und ich bin zuletzt überhaupt ein ungenügsamer Mensch. Von Zeit zu Zeit werden wir uns schon wiedersehen, nicht wahr? Vergessen Sie nicht, daß ich von diesem Jahre an plötzlich arm an Liebe und folglich sehr bedürftig der Liebe geworden bin." An Lou: "... schaffen Sie reinen Himmel! Ich will nichts mehr, in allen Stücken als reinen hellen Himmel; sonst will ich mich schon durchschlagen, so hart es auch geht. Aber ein Einsamer leidet fürchterlich an einem Verdachte über die Paar Menschen, die er liebt – namentlich wenn es der Verdacht über einen Verdacht ist, den sie gegen sein ganzes Wesen haben. ... Ich fühle jede Regung der höheren Seele in Ihnen, ich liebe nichts an Ihnen als diese Regungen ... Lassen Sie sich nicht über mich täuschen – Sie glauben doch nicht, daß ‚der Freigeist’ mein Ideal ist?! Ich bin – Verzeihung! Liebste Lou, seien Sie, was Sie sein müssen."

In unzähligen, sich im Ton steigernden Briefentwürfen an Lou und Rée, die er meist nicht abschickt, versucht er seine Verzweiflung abzureagieren: "Himmel, was bin ich einsam". Dazu nahm er "Unmengen von Chloral und Opium" (damals noch ein zugelassenes Heilmittel), um überhaupt schlafen zu können; schließlich überwindet er jedoch den ihn ankommenden Gedanken zum Selbstmord, "das beneficium mortis erlange ich aber nicht von mir – ich will noch etwas von mir".

Offenbar hat er, in Gegenreaktion und als Gegenstück dieser tiefsten Verzweiflung, bereits das dunkle Gefühl der "Schwangerschaft", einer bevorstehenden Eruption; an Overbeck schreibt er (ca. 20. Dezember 1882, Briefwechsel Nietzsche und Overbeck, S. 186): "Trotz alledem muß ich in dem nächsten Jahre etwas in Hinsicht auf meine Zukunft erfinden und mich mir selber etwas mehr sicher stellen. Mit aller meiner 'Vernunft' bleibe ich ein leidenschaftliches und plötzliches Wesen; die Einsamkeit ist, je länger je mehr, etwas Gefährliches.– ... Nun stehe ich ganz einsam vor meiner Aufgabe und weiß auch, was mich nach deren Lösung erwarten wird." Mit Mutter und Schwester hat er, wie er am 25.12.1882, dem für ihn immer so wichtigen Weihnachtstag, schreibt, jeden Verkehr abgebrochen: "es war längst nicht mehr zum Aushalten ... Wie weit inzwischen die feindseligen Urtheile meiner Angehörigen um sich gegriffen haben und mir den Ruf verderben – – nun, ich möchte es immer noch lieber wissen als an dieser Ungewißheit leiden." (Pfeiffer, Dokumente S. 279)

Lou sendet Neujahr 1882/3 eine rückschauende Zusammenfassung der Erlebnisse dieses Jahres aus Berlin an Rée in Stibbe, kommt dabei sogar auf Orta, Luzern zu sprechen – und feiert ihr Bündnis, ohne daß Nietzsches auch nur irgendwie am Rande gedacht würde; er, der nach wie vor Seiten über Seiten mit Briefentwürfen an sie und Rée füllt, ist bei Lou längst zur Unperson geworden. Nicht ganz zu Unrecht benennt dies Nietzsche als "Katzenegoismus" ... und Rée selbst wie noch manch anderer Mann werden diese Eigenart Lous künftig zu spüren bekommen. [Nachdem sie sich Ende 1886 mit Friedrich Carl Andreas verlobt hatte, schied Rée still aus ihrem Leben, einen Zettel hinterlassend: "barmherzig sein, nicht suchen". Er studierte dann Medizin und betätigte sich zuerst in seiner Heimat, sodann in der Schweiz als Armenarzt; am 28. Okt. 1901 ist er auf dem oberen, sehr steilen Weg durch die Charnadüra-Schlucht, bei Celerina, tödlich in den Inn abgestürzt.]

Zu Georg Ledebour, in den sie sich nach und trotz ihrer Heirat mit Friedrich Carl Andreas verliebt, sagt sie etwa, daß sie über dessen sich aus der Situation ergebende Probleme nie nachgedacht habe, "er würde ihr gleichgültig sein, wenn er wegen einer Frau zugrundegehen könnte." (C. Koepcke, Lou Andrea-Salomé, S. 169 – Wer sich für den reichen weiteren Lebensweg Lous interessiert, etwa ihren Begegnungen mit Rilke und Freud, dem kann dieses Buch nur empfohlen werden).

Janz (Band II, S. 167) resümmiert: "Liebe in ihrer letzten Tiefe und verpflichtenden Bindung mit dem geliebten Gegenüber, dazu war Lou v. Salomé ... unbegabt. ... sie ist sich ihrer Einseitigkeit auch nie hinlänglich bewußt geworden. Daß sie damit anderen Menschen Schmerz bereitete, hat sie hie und da zur Kenntnis genommen, mehr aber nicht. Zu einem Gefühl der Verantwortung oder Schuld oder gar Mitleid ist es dabei nicht gekommen. Und gerade dieses Mangels in ihren Beziehungen ist Nietzsche sich nun bewußt geworden, daran litt er am meisten, weil diese Lou so abstoßend zu dem Bilde kontrastierte, das er sich von ihr gemacht, das er in sie projiziert hatte."

Wie schafft es Nietzsche, aus diesem tiefen Tal herauszukommen? Im oben bereits zitierten Weihnachts-Brief schreibt er an Overbeck: "Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem – Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren.– Ich habe da die allerschönste Gelegenheit zu beweisen, daß mir ‚alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle Menschen göttlich’ sind!!!! Alle Menschen göttlich.–"


Franz und Ida Overbeck

Noch am 20. Januar 1883 schreibt er an den Freund: "Es geht gar nicht gut, und am besten wäre es, ich schwiege davon." (Briefwechsel Nietzsche-Overbeck, S. 195) – in den paar Tagen bis zum 1. Februar 1883 aber, da hat er die Wende erzwungen, sich quasi am eigenen Schopfe aus dem Sumpf gezogen: "Jetzt hatten wir Regenwetter: aber vorher gab es eine ganze Reihe vollkommen reiner Tage, die ich gut benützt habe. Ich war vorher in einem wahren Abgrund von Gefühlen (meine Briefe waren sehr unvollständig –), aber ich habe mich ziemlich ‚senkrecht’ aus dieser Tiefe in meine Höhe erhoben. ... Inzwischen, im Grunde in ganz wenig Tagen, habe ich mein bestes Buch geschrieben, und, was mehr sagen will, jenen entscheidenden Schritt gethan, zu dem ich im vorigen Jahre noch nicht den Muth hatte [Sie erinnern sich? Bereits im Frühjahr 1882, am Schluß der Fröhlichen Wissenschaft, kündigte sich Zarathustra an; siehe Dokumenten-Seite 1]. Diesmal hatte ich alle meine zehn Kräfte nöthig, – und sie waren auch zu meinen Diensten. Ich bin jetzt noch ein Paar Tage mit der ‚Nagelprobe’ beschäftigt, eine Sache des feinen Hörens, für die man nicht einsam genug sein kann. ... Unter diesen Umständen geht es auch mit der Gesundheit wieder vorwärts." (Briefwechsel Nietzsche-Overbeck, S. 199/200)

Was war geschehen? Er hatte den Ersten Teil des Zarathustra aus sich herausgestellt – im Rückblick schreibt er dazu: "Seine Entstehung war eine Art Aderlaß, ich verdanke ihm, daß ich nicht erstickt bin. Es war etwas Plötzliches, die Sache von 10 Tagen." (Chronik S. 545)

Und so finden sich darin denn auch reichlich Spuren dieser "Überwindung", die auf das Lou-Erlebnis zurückweisen, und in ihrer daraus resultierenden einseitigen Sichtweise das weibliche Geschlecht gewiß verzeichnen. Bei der Lektüre einiger hier dazu angeführter Stellen sollte man also immer auch daran denken, daß sich ihnen eine Reaktion ausspricht, daß sie vor allem auch Selbstrettung sind – und so gilt dies sicherlich vor allem bereits für die berühmte Stelle mit der Peitsche, die beim Gang zum Weibe nicht vergessen werden soll; ist diese doch durchaus als eine Reminiszenz an das sattsam bekannte Foto einzuordnen. Allerdings haben sich Peitscheninhaber und die Qualität der Peitsche als Reaktion auf die Geschehnisse verkehrt: Stellt zunächst Lou eine Art antreibende Muse mit dem lustig-symbolischen Blumenpeitschchen dar, so ist es im Zarathustra die Alte, welche die Peitsche nicht zu vergessen mahnt, um sich vor falschen Verführungen durch das Weibliche zu sichern und es damit in die "gehörigen" Schranken zu verweisen. Die Peitsche ist hier also ebenso symbolisch gemeint wie auf dem Foto – sie dient nicht zur "gewaltsamen Unterordnung" des Weibes als vielmehr zum Selbstschutz des "Mannes" Nietzsche, der seine Naivität in Sachen Frauen soeben bitter zu bezahlen hatte.

Klingt es nicht wie eine direkte (und ungerechte! ebenso ungerecht wie viele seiner Briefentwürfe, zu denen diese Stelle eine direkte Parallele zu sein scheint ...) Erinnerung an Rée und Lou, wenn Zarathustra in "Von der Keutschheit" sagt:

"Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als in die Träume eines brünstigen Weibes?
Und seht mir doch diese Männer an: ihr Auge sagt es – sie wissen nichts Bessere auf Erden, als bei einem Weibe zu liegen.
Schlamm ist auf dem Grunde ihrer Seele; und wehe, wenn ihr Schlamm gar noch Geist hat!"

Oder im "Vom Freunde" – hier spricht sich überdeutlich aus, was er von Lou eigentlich erwartet hatte (und – ach – auch die meisten Männlein, wie etwa Rée, erweisen sich ja als Weiblein ...):

"Allzulange war im Weibe ein Sclave und ein Tyrann versteckt.
Desshalb ist das Weib noch nicht der Freundschaft fähig: es kennt nur die Liebe.
In der Liebe des Weibes ist Ungerechtigkeit und Blindheit gegen Alles, was es nicht liebt. Und auch in der wissenden Liebe des Weibes ist immer noch Überfall und Blitz und Nacht neben dem Lichte.
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel. Oder, besten Falles, Kühe.
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig. Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn fähig der Freundschaft?"

Und in "Von alten und jungen Weiblein", direkt vor dem so oft verfälschten Peitschenzitat, gibt er sehr deutlich sein letztes Wort über Lou und die Weiblein:

"Des Mannes Gemüth aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht."

Welche Konsequenz er schließlich aus diesem letzten und mißglückten Versuch, sich mit realen Menschen zu verbinden, gezogen hat, sein aus dem "Kothe" gewonnenes Gold, spricht er in der Rede "Von Kind und Ehe" aus:

"Eure Liebe zum Weibe und des Weibes Liebe zum Manne: ach, möchte sie doch Mitleiden sein mit leidenden und verhüllten Göttern! Aber zumeist erraten zwei Tiere einander.
Aber auch noch eure beste Liebe ist nur ein verzücktes Gleichnis und eine schmerzhafte Glut. Eine Fackel ist sie, die euch zu höheren Wegen leuchten soll.
Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und darum mußtet ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken.
Bitternis ist im Kelch auch der besten Liebe: so macht sie Sehnsucht zum Übermenschen, so macht sie Durst dir, dem Schaffenden!
Durst dem Schaffenden, Pfeil und Sehnsucht zum Übermenschen: sprich, mein Bruder, ist dies dein Wille zur Ehe?
Heilig heißt mir solch ein Wille und solche Ehe.–
Also sprach Zarathustra."

Auch noch im ganzen Jahre 1883 ist er dennoch nicht völlig darüber hinweg, insbesondere auch im Verhältnis zu seiner Mutter und vor allem seiner Schwester finden sich in dieser Zeit verschiedene Briefentwürfe, die das Thema zu verarbeiten suchen – er hatte sich bereits mit beiden einigermaßen versöhnt und im Mai mit der Schwester über längere Zeit in Rom getroffen; doch diese beginnt wieder gegen Lou zu hetzen und reißt die Wunden damit wieder auf – und Nietzsche läßt sich zunächst verhetzen, versteigt sich zu Äußerungen über Lou wie: "Diese dürre schmutzige übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten ein Verhängniß!" (Chronik S. 562) und droht Rées Bruder gar mit einem Duell. Selbst mit den treuen Overbecks gibt es deswegen Irritationen. Im Juli ist er wieder in Sils, wo er bei den Durischs, im heutigen "Nietzsche-Haus" wohnt, und den Zarathustra II beendet.

Sowohl das Lou-Erlebnis wie die Entstehung des dadurch mitbedingten Zarathustra hat immer wieder auch Psychotherapeuten zu mehr oder weniger wissenschaftlichen Deutungsversuchen der Person und Philosophie Nietzsches angeregt; einen besonders verunglückten Versuch aus dem Jahre 1954 von Dr. Max Kesselring, dem ehemaligen Chefarzt der Nervenheilanstalt Hohenegg in Meilen bei Zürich möchte ich hier nicht versäumen vorzustellen. Im ganzen Buch findet sich nämlich kein einziges wirklich wissenschaftliches Argument, sondern ausschließlich Behauptungen: Nietzsche wird geschildert als "haltloser Mensch", der Zeit seines Lebens zwischen euphorischer Manie und Depression pendle. Als einzige Belege für eine solche Auffassung werden benannt zum einen die Briefe Nietzsches, die ausgiebig zitiert werden, sowie die eigene berufliche Kenntnis des Verfassers, die er an manisch-depressiven Patienten erworben haben will, nirgends aber durch konkrete und wissenschaftlich fundierte Vergleiche nachweist. Auch hier führt wieder einmal ein bestimmtes Vorurteil um das, was man - gewonnen aus der eigenen Subjektivität - als "normal" durchgehen läßt, die Feder. Alles, was anders ist, wird als "krank" eingestuft - lesen Sie selbst, wie unsäglich sich angebliche Wissenschaft verirren kann: Max Kesselring - Nietzsche und sein Zarathustra

Schließen wir mit einem Entwurf Nietzsches in Nizza vom Frühjahr 1884 an Elisabeth, in dem ihm eine gerechte Würdigung des Vergangenen gelingt (Pfeiffer, Dokumente S. 353 f.): "Das Eine ist: von allen Bekanntschaften, die ich gemacht habe, ist mir die wertvollste und ergebnisreichste die mit Fräulein Salomé. Erst seit diesem Verkehr war ich reif zu meinem Zarathustra. Ich habe diesen Verkehr Deinetwegen abkürzen müssen. Verzeihung wenn ich dies härter empfinde als Du mir nachfühlen kannst. – Lou ist das begabteste, nachdenklichste Geschöpf, das man sich denken kann – natürlich hat sie auch bedenkliche Eigenschaften. Auch ich habe solche. Indessen das Schöne an bedenklichen Eigenschaften ist, daß sie zu denken geben, wie der Name sagt. Natürlich nur für Denker ... Du kannst mir nicht nachfühlen, welcher Trost mir jahrelang Dr. Rée gewesen ist. – faute de mieux [in Ermangelung eines Besseren] wie es sich von selber versteht, und welche unglaubliche Wohlthat mir gar der Verkehr mit Fräulein Salomé gewesen ist."


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