Ulrike Ackermann-Hajek Nietzsche und Heine – Verwandte im Geiste?* Einleitung Auf den ersten Blick erscheint die Fragestellung des Titels völlig unsinnig: Wie sollen zwei so offensichtliche Antipoden Verwandte im Geiste sein? Die Traditionsschienen des 20. Jahrhunderts haben uns Heine und Nietzsche auf verschiedenen Bahnen überliefert. Heine wird tradiert als politischer Freiheitsdichter, Romantiker, Exilant, Jude und Trommler für die Ideale der französischen Revolution, Nietzsche hingegen als Philosoph, Proklamator des Übermenschen, deutscher Ideologe der "blonden Bestie" und Anti-Idealist. Da beide auch von den entgegengesetzten politischen Bewegungen als Vorläufer, Künder, "Hausideologen" benutzt wurden, stellt sich die Frage um so deutlicher: Wie sollen diese verwandt sein im Geiste? Die Idee zu dieser Zusammenstellung ergibt sich aus Nietzsches Werk. Er selbst hat Heine an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Punkten immer wieder hervorgehoben, auch zu verschiedenen Zeiten seines Lebens, was also auf eine für Nietzsche ungewöhnliche Stabilität der Hochschätzung hindeutet. So ist denn zu vermuten, dass die Quelle des Gegensatzes nicht (zuallererst) in den beiden Autoren, sondern in den Besonderheiten der kulturellen und politischen Tradition des 20. Jahrhunderts zu suchen ist. Um dieser Vermutung nachzuspüren, soll hier versucht werden, "ex fontibus" zu klären, welche Berührungspunkte die beiden verbinden, aber auch worin sie sich unterscheiden. Kurze Biografie Heines Wer war nun dieser Heinrich Heine, auf den Nietzsche so oft zurückkommt? Zunächst eine kurze Biografie: Heinrich Heine wurde als Harry Heine am 13.12.1797 in Düsseldorf als Sohn eines jüdischen Handelsmannes geboren. Da zu dieser Zeit das Rheinland von den französischen Truppen besetzt war, wuchs Heine unter den Gesetzen der Tricolore heran. Nach dem Besuch des Lyzeums begann der Jüngling zunächst der Familientradition folgend eine Lehre in einem Handelshaus, die er später noch im Bankhaus seines Onkels Salomon Heine fortsetzte. Nachdem er sich als kaufmännisch völlig unbegabt erwiesen hatte, ermöglichte ihm die Familie ein Jurastudium, das er in Bonn, Göttingen und Berlin absolvierte und schließlich mit dem Dr. jur. in Göttingen abschloss. Neben den juristischen besuchte er philosophische und literarische Vorlesungen. In Berlin kam er in Kontakt mit Rahel Varnhagen und war ein wichtiges Mitglied ihres Salons. Seine Hoffnung auf eine preußische Staatsanstellung erfüllte sich nicht und so lebte er bei seinen Eltern, machte Reisen und veröffentlichte ab 1827 seine literarischen Werke. Außerdem begann er als Zeitungskorrespondent zu arbeiten. Im Mai 1831 reiste er nach Paris und arbeitete auch dort für verschiedene Journale, besonders für die "Augsburger Allgemeine Zeitung" des Verlegers Cotta. Da im Jahre 1835 in Deutschland seine sämtlichen Schriften verboten wurden, in Preußen sogar seine zukünftigen, blieb er dauerhaft in Paris. In dieser Zeit verfasste er vor allem theoretische Schriften, wie "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" und "Die romantische Schule". Diese haben sowohl das Ziel, den Franzosen die geistigen Entwicklungen in Deutschland näher zu bringen als auch seinen deutschen Landsleuten Mut zu machen, die fortschrittlichen geistigen Strömungen in Deutschland in Politik – und damit Realität – umzusetzen. Erst im Jahre 1843 reiste er wieder einmal zu Besuch nach Deutschland, und der neuerliche Besuch 1844 war sein letzter in seiner Heimat. Die Eindrücke dieser Reisen finden ihren Niederschlag in dem Gedicht "Deutschland – ein Wintermärchen". Im selben Jahr starb sein Onkel Salomon und erst nach einem erbitterten Erbschaftsstreit gelang es ihm, auch durch Vermittlung Meyerbeers, seine jährliche Pension für sich und über seinen Tod hinaus für seine Frau Mathilde zu sichern. Dies erwies sich schon bald als dringend notwendig, denn nach einer steten Verschlechterung seines Gesundheitszustandes konnte Heine ab 1848 seine Wohnung nicht mehr verlassen, es begann sein Siechtum in der "Matratzengruft". Während dieser Zeit entstanden noch einige Gedichtbände und seine Werke wurden immer wieder aufgelegt, aber die Krankheit verzehrte einen Großteil seiner Einkünfte. Am 17. Februar 1856 starb H. Heine in Paris und wurde auf dem Friedhof Montmartre begraben. Inwiefern kann nun dieser Dichter und Journalist, dieser jüdische Flüchtling vor der Restauration, dem Pfarrerssohn, Pfortaschüler und Philosophen Nietzsche "im Geiste verwandt" sein? Dem aufmerksamen Leser von Nietzsches Werken kann nicht entgehen, dass er Heine immer wieder lobend erwähnt. Außerdem fällt auf, dass sich wichtige Themen und Probleme in den Werken beider finden lassen, die sie auf ähnliche Weise beleuchten, trotz einer Zeitdifferenz von Jahrzehnten. Diesen beiden Strängen soll nun im Folgenden nachgegangen werden. Dabei sei darauf hingewiesen, dass komplexere, lebenslange Fragestellungen wie die nach Haltung zu Religion, Philosophie, Menschenbild etc. in diesem Rahmen nur schlaglichtartig beleuchtet werden können. Frankreich als Vorbild Da ist zuerst das Stichwort "Frankreich als Kulturmacht". Da Nietzsche der deutschen "Kultur" seiner Zeit höchst kritisch gegenübersteht, finden sich einige Zitate wie das anschließende, in denen Frankreich bewundernd hervorgehoben wird. In demselben Augenblick, wo Deutschland als Großmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als Kulturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris übergesiedelt; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland – die Deutschen sind selbst unfähig zu dieser Art Ernst. – In der Geschichte der europäischen Kultur bedeutet die Heraufkunft des »Reichs« vor allem eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiß es überall bereits: in der Hauptsache – und das bleibt die Kultur – kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt: habt ihr auch nur einen für Europa mitzählenden Geist aufzuweisen? wie euer Goethe, euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte? – Daß es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr gibt, darüber ist des Erstaunens kein Ende. (1) Er sieht dabei, dass ungewöhnliche Geister, außergewöhnliche Menschen, in Deutschland nicht entsprechend zum Zuge kommen, seien es welche vom Anfang seines Jahrhunderts, wie Heine, oder aus der Mitte, wie Schopenhauer, in Frankreich aber auf die ihnen gebührende Resonanz stoßen. Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taines – das heißt des ersten lebenden Historikers – einen beinahe tyrannischen Einfluß ausübt.(2) In Bezug auf Frankreich lassen sich einige Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in der Sicht der beiden Autoren feststellen, in denen sich die Wirkung der historischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zeigt. Beiden gemeinsam ist die Hochschätzung Frankreichs als Hort der Kultur, als Kulturmacht. Beide preisen die französische Aufklärung (Voltaire, Montaigne) – und die französische Kultur ihrer jeweiligen Gegenwart. So werden an letzterer auch ihre unterschiedlichen Sichtweisen deutlich. Zu Heines Zeit existierte "Deutschland" de facto nicht. Es gab nach Beendigung des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" durch Napoleon den Deutschen Bund und die Habsburger Donaumonarchie. Diese Konstruktion des Wiener Kongresses ließ Heine – je nach Anlass und Umständen – spotten oder Gift und Galle spucken: Franzosen und Russen gehört das Land, Hier üben wir Hegemonie, Wir haben sechsunddreißig Herrn Wir nennen sie Väter, und Vaterland Vor allem zeigen viele von Heines Texten seine Empörung über die Restauration der Verhältnisse nach dem Wiener Kongress, über all die gebrochenen Verfassungsversprechen von 1813 bis 1815 und die Duldsamkeit seiner Landleute in rebus politicis. So war für Heine Deutschland das Land der Kultur, der Dichter und Denker, der geistigen Aufklärung und Revolution – aber ohne politische Konsequenzen, gezeichnet von großer politischer Rückständigkeit. Ganz anders Frankreich: Hier sah und erlebte Heine die Umsetzung der philosophischen Aufklärung. Was die Deutschen im Kopf lösten, lösten die Franzosen durch die Tat. In seinem zeitgenössischen Frankreich sah Heine keine besondere Kulturmacht, aber ein Vorbild an Zivilisation. Nietzsche war grundsätzlich Kosmopolit und Frankreich-Freund. Seine Teilnahme am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 war von einem Konglomerat widersprüchlicher Motive getragen, wurde von den Wagners, seinen damaligen engsten Vertrauten, eher missbilligt, hatte für ihn schwere gesundheitliche Folgen – war also summa summarum ein persönliches Desaster. Genauso desaströs bewertete er das Ergebnis des Krieges für die Entwicklung in Deutschland und Europa Zeit seines Lebens. Er kritisierte das neue "Deutsche Reich" – stark als Staat, national bis nationalistisch in der Gesinnung, fortschrittlich in der Industrie, philiströs in der Kultur – von seinen ersten Schriften an, der "Geburt der Tragödie" und seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" bis hin zur "Götzendämmerung". Nietzsche sah und erlebte Deutschland als vereinigt und mächtig, vermisste aber die Kulturmacht, Heine sah und erlebte Deutschland als Kulturmacht, aber als unvereint und ohnmächtig. Gute Europäer Die Hochschätzung Frankreichs und die Verachtung der Entwicklungen des geistigen Lebens in Deutschland führen Nietzsche weiter zu einem universalen Europäertum als Ziel. Die Nation ist ihm ein zu begrenzter Raum und ein zu leicht zu missbrauchender Begriff. Hier sieht er Heine als Vorkämpfer, als Vorbild im Leben. Umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesamt-Richtung in der geheimnisvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den »Vaterländern« – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie »Patrioten« wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer; man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Mißverständnisse verführen lassen darf – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. (4) Heines Leben und Werk sind in diesem Sinne tatsächlich beispielhaft. So sehr Heine subjektiv unter dem Emigrantensyndrom des "Verlusts der Muttersprache" immer wieder litt, so warb er doch stets persönlich und in seinem Werk für ein gegenseitiges Verständnis von Deutschland und Frankreich und deren tiefgreifende Versöhnung. Des weiteren hatte er in seiner "Reisezeit" Italien (damals noch Teil des Habsburger Reiches) und England besucht. Seine Reisebilder haben neben der Reiseführer- und Unterhaltungsfunktion stets auch die, eine Vorstellung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des jeweiligen Landes zu vermitteln und Vorurteile satirisch aufzugreifen. Dabei kam er immer wieder auf Frankreichs Vorbildfunktion als Staat zurück, da er, aller Mängel und Skandale zum Trotz, das Frankreich des Bürgerkönigtums als politisch fortschrittlicher und individuell freier erlebte als den Rest Europas. Ihm war aller Nationalismus, wie er auch in der deutschen Emigrantenszene immer wieder aufkeimte, zutiefst zuwider. Nietzsche seinerseits war nie in Paris, obwohl er immer wieder diesen Plan hatte, führte aber ein gesamteuropäisches, kosmopolitisches Leben. Zeitungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen bezog er aus Deutschland und Frankreich. Seine Sommer verbrachte er im Engadin, die Winter in Genua oder Nizza. Zur Erholung fuhr er nach Sorrent und Rom, sein Verleger war in Sachsen. Diese Lebensweise war sicher einerseits verursacht durch seine Krankheit und der ständigen Suche nach dem "reinen Himmel", diente aber auch dazu, den engen Grenzen des deutschen Reiches, in jedem Wortsinne, zu entgehen. Politik In einem Punkte sind Heine und Nietzsche sogar politisch einer Meinung: In ihrer Ablehnung des platten "Volkssozialismus", der zu einer befürchteten "Diktatur des Proletariats" führen könnte. Für Heine ist ein Teil der deutschen Emigrantenszene in Paris, die sich mit Plänen für eine Neuordnung Deutschlands unter solch "kommunistischen" Vorzeichen befasst, ein besonders abschreckendes Beispiel. Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Hierin, und in noch manchen andern Dingen, unterscheiden wir uns von den Männern der Revolution. Wir wollen keine Sansculotten sein, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten: wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien – Seid deshalb nicht ungehalten, Ihr tugendhaften Republikaner! Auf Eure zensorische Vorwürfe entgegnen wir Euch, was schon ein Narr des Shakespeare sagte: meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben? (5) Hier sind Anklänge an die Auffassungen Ludwig Feuerbachs unübersehbar. Nietzsche hingegen äußert sich dazu mit ähnlichen Befürchtungen, zielt aber insgesamt in eine ganz andere Richtung. Ihm ist jede Form von Demokratie o.ä. suspekt, sowohl asketische, als auch lebenszugewandte Formen derselben. Die Gesamt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den sozialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der Zukunft" erscheint, – als ihr Ideal! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Herdentiere (oder wie sie sagen, zum Menschen der "freien Gesellschaft"), diese Vertierung des Menschen zum Zwergentiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr als die übrigen Menschen – und vielleicht auch eine neue Aufgabe! (5 a) Große Individuen Eine herausragende Rolle spielt bei beiden die Verehrung Napoleons. Nietzsche sieht, aus der größeren historischen Distanz, Napoleon als großen Menschen, in gewisser Weise als ein Beispiel für den "Übermenschen". Große Männer sind wie große Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft angehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt ... und bewahrt worden ist – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu groß geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das "Genie", die "Tat", das große Schicksal in die Welt zu rufen ... Man nehme den Fall Napoleons ... Die großen Menschen sind notwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, zufällig.(6) Heine hat Napoleon persönlich erlebt, ist unter französischer Besetzung und Verwaltung des Rheinlandes aufgewachsen und hat die bürgerlichen Freiheiten des Code Napoleon genossen. Von da an hat er aus seiner Verehrung kein Hehl gemacht, von poetischer Verarbeitung ("Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen ...") bis hin zu analytischen Sätzen in "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland". Heines Stellung zum Kaiser Napoleon war zwiespältig: auf der einen Seite würdigte er den Ausnahmemenschen und entschuldigte ihn (da er sich an die Gesetze hielt), auf der anderen kritisierte er ihn als "Verräter der Revolution". Es gibt aber mehrere Anmerkungen in dem Sinne, dass Napoleon die Revolution zwar "verraten", aber auch gerettet habe, da ohne ihn die Allianz-Mächte einmarschiert wären und die Restauration installiert hätten. Bei einer Vergleichung der französischen Revolution mit der deutschen Philosophie, habe ich einst, mehr aus Scherz als im Ernste, den Fichte mit Napoleon verglichen. Aber, in der Tat, es bieten sich hier bedeutsame Ähnlichkeiten. Nachdem die Kantianer ihr terroristisches Zerstörungswerk vollbracht, erscheint Fichte, wie Napoleon erschienen, nachdem die Konvention ebenfalls mit einer reinen Vernunftkritik die ganze Vergangenheit niedergerissen hatte. Napoleon und Fichte repräsentieren das große unerbittliche Ich, bei welchem Gedanke und Tat eins sind, und die kolossalen Gebäude, welche beide zu konstruieren wissen, zeugen von einem kolossalen Willen. Aber durch die Schrankenlosigkeit dieses Willens gehen jene Gebäude gleich wieder zu Grunde, und die Wissenschaftslehre, wie das Kaiserreich, zerfallen und verschwinden eben so schnell, wie sie entstanden ... Den Freiheitsfreunden, die in Deutschland blieben, wäre es aber noch weit schlimmer ergangen, wenn nicht bald Napoleon und seine Franzosen uns besiegt hätten. Napoleon hat gewiß nie geahnt, daß er selber der Retter der Revolution wird. Ohne ihn wären unsere Philosophen mitsamt ihren Ideen durch Galgen und Rad ausgerottet worden.(7) Aber nicht nur in der Verehrung Napoleons, auch in der Wertschätzung europäischer Geistesgrößen sind sich beide weitgehend einig. Als besonders wichtig erachten sie: Heine: Luther, Lessing, Spinoza, Kant, Hegel, Napoleon ... Nietzsche: Luther, Spinoza, Schopenhauer, Goethe, Napoleon ... Dazu ein Zitat Nietzsches: Schopenhauer. – Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt (– der ein europäisches Ereignis gleich Goethe, gleich Hegel, gleich Heinrich Heine ist, und nicht bloß ein lokales, ein »nationales«), ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig genialer Versuch, zugunsten einer nihilistischen Gesamt-Abwertung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die großen Selbstbejahungen des »Willens zum Leben«, die Exuberanz-Formen des Lebens ins Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das große Mitgefühl, die Erkenntnis, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der »Verneinung« oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des »Willens« interpretiert – ...(8) Heine hat seinerseits seinen Favoriten in "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" wie auch in anderen Werken ein Denkmal gesetzt – so unter anderem Ludwig Feuerbach: Selbst die Deutschen, einst die Bessern, Sind jetzt glaubenlos und gottlos, Goethe als heidnisch-antikes Vorbild Als Gegensatz zum Christentum und dessen Lebensfeindlichkeit schätzen beide die Antike. Nietzsche war von Anfang an als Philologe von den Vorsokratikern fasziniert und sollte eine spezielle Neigung zum Dionysischen entwickeln, Heine schätzte, weniger fachlich vorgebildet, die philosophische Freiheit, die Lebensbejahung und die schönen Kunstwerke der Antike. Die Hochschätzung Goethes gehört mit in diesen Zusammenhang. Da dieser einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Kenntnis der und Auseinandersetzung mit der Klassik in Deutschland geleistet hat und eine starke Affinität zu deren Werten zeigte, wurde er von beiden darin hochgeschätzt, von Nietzsche zusätzlich noch als "Ausnahme-Erscheinung", ähnlich wie Napoleon. So schreibt Heine über Goethe: ‘Der große Heide‘ ist nämlich der Name, den man in Deutschland dem Goethe beilegt. ... Das Heidentum Goethes ist wunderbar modernisiert. Seine starke Heidennatur bekundet sich in dem klaren ... Auffassen aller äußeren Erscheinungen ...; aber das Christentum hat ihn zur gleichen Zeit mit einem tieferen Verständnis begabt, trotz seines sträubenden Widerwillens ..., und dadurch verstand er die verborgensten Stimmen der Natur, gleich Siegfried, ... Es ist merkwürdig, wie bei Goethe jene Heidennatur von unserer heutigsten Sentimentalität durchdrungen war, wie der antike Marmor so modern pulsierte und wie er die Leiden eines jungen Werthers ebenso stark mitempfand wie die Freuden eines alten Griechengottes ... (9) Nietzsche bringt Goethe u.a. als positives Beispiel, als Vorbild, das anderen Wert verleiht: – Zu Ehren Mendelssohns: ein Element Goethe darin und nirgends sonst! (ebenso wie ein andres Element Goethe in der Rahel zur Vollendung kam; ein drittes in Heinrich Heine.) (10) Was Nietzsche an Goethe so anzieht, ist dessen Ausnahmestellung unter den Deutschen wie unter den Künstlern. Er schätzt dessen Selbstbehauptung und Freiheit von Dogmen aller Art, unabhängig davon, ob diese Goethesche Lebenshaltung womöglich auf Selbsttäuschung beruhte oder aus seinem Naturell entsprang. Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandlung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wiederzugewinnen und den stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit anzudichten. ... So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst ... keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten. (10 a)
Es ist auffällig, dass Heine als Beurteilungskriterium für philosophische Systeme und Religionen ihre Lebenszugewandtheit und ihre Vielseitigkeit einschließlich ihrer sozialen Komponenten aufstellt. Wichtige Punkte sind für ihn die Stellung des Individuums und seines Denkens, die Rolle der Religion, bzw. des Gottesbildes und das Menschenbild des Denkers oder Autors. Er bringt als wichtigste Messlatte in seinen theoretischen Schriften die Unterscheidung von Nazarenertum und Heidentum. Ich sage nazarenisch, um mich weder des Ausdrucks »jüdisch« noch »christlich« zu bedienen, obgleich beide Ausdrücke für mich synonym sind und von mir nicht gebraucht werden, um einen Glauben, sondern um ein Naturell zu bezeichnen. »Juden« und »Christen« sind für mich ganz sinnverwandte Worte im Gegensatz zu »Hellenen«, mit welchem Namen ich ebenfalls kein bestimmtes Volk, sondern eine sowohl angeborne als angebildete Geistesrichtung und Anschauungsweise bezeichne. In dieser Beziehung möchte ich sagen: alle Menschen sind entweder Juden oder Hellenen, Menschen mit ascetischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen Trieben, oder Menschen von lebensheiterem, entfaltungsstolzem und realistischem Wesen. (11) Und Nietzsche? Die Unterscheidung Nazarenertum – Heidentum findet sich bei ihm ebenso, in verschiedenen Varianten und mit verschiedenen Angriffsrichtungen. Lebenszugewandtheit ist für den Philosophen des höheren Lebens eine Hauptforderung. Ein Beispiel für Christentumskritik aus der Forderung nach dem "Ja zum Leben" heraus: Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später wieder um das Erbe der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische Kulturwelt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten ... warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben ja sagte ...(12) In dem Punkte des Antiklerikalismus, der kirchenfeindlichen Haltung, ist Heine Vorläufer und Mitstreiter Nietzsches, wenn dieser Gott für tot erklärt. Bei Heine lautet das so: Von dieser Katastrophe (des Deismus Anm. d.V.) sprechen wir im folgenden Stücke. Ein eigentümliches Grauen, eine geheimnisvolle Pietät erlaubt es uns heute nicht, weiterzuschreiben. Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten ...Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er ... ein liebevoller Vater wurde, ... ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen – Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte. (13) Für Nietzsche ist die Kirchenkritik eine persönliche und philosophische Notwendigkeit, eine Frage der Redlichkeit. Auf der anderen Seite klingt auch bei Nietzsche der Respekt vor und die alte Gebundenheit an ein Gottesbild immer wieder durch, vor allem in seinen ersten Feststellungen zum Tode Gottes. Er sieht stets auch die Rückseite der Medaille für die Lebenden. Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen Schatten in einer Höhle – einen ungeheueren, schauerlichen Schatten. Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist wird es vielleicht noch jahrhundertelang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!(13a) Hören wir noch nichts vom Lärm der Totengräber, ... Riechen wir noch nichts von göttlicher Verwesung? ... Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, ist unter unseren Messern verblutet... (13 b) Ein wesentlicher Unterschied besteht aber zwischen beiden in ihren Diagnosen über die Schädlichkeit der Religion. Während Nietzsche das Mitleid, das er als Moral des Christentums diagnostiziert hat, als schlimmstes Übel und Schaden des großen Individuums ansieht, ist dies bei Heine eher eine der wenigen, möglichen Existenzberechtigungen, wenn es denn da wäre. So schreibt er: Das endliche Schicksal des Christentums ist also davon abhängig, ob wir dessen noch bedürfen. Diese Religion war eine Wohltat für die leidende Menschheit während 18 Jahrhunderten, sie war providentiell, göttlich heilig. (14) In der Kritik an Praxis und Institution der Kirche sind sie sich einig. Während Heine besonders die Verdummung der Menschen, die Heuchelei und die weltliche Macht der Kirche ironisch darstellt und dadurch kritisiert, klingt das bei Nietzsche u.a. so: Als Kirche summiert sich endlich die kranke Barbarei selbst zur Macht – die Kirche, diese Todfeindschaftsform zu jeder Rechtschaffenheit, zu jeder Höhe der Seele, zu jeder Zucht des Geistes, zu jeder freimütigen und gütigen Menschlichkeit...(14a) Bei Heine hat sich diese anti-kirchliche Haltung Zeit seiner Veröffentlichungen nicht geändert, auch wenn er am Ende sich mit einem persönlichen Gott versöhnt hat: In der Theologie hingegen muß ich mich des Rückschreitens beschuldigen, indem ich, was ich bereits oben gestanden, zu dem alten Aberglauben, zu einem persönlichen Gotte, zurückkehrte. Das läßt sich nun einmal nicht vertuschen, wie es mancher aufgeklärte und wohlmeinende Freund versuchte. Ausdrücklich widersprechen muß ich jedoch dem Gerüchte, als hätten mich meine Rückschritte bis zur Schwelle irgendeiner Kirche oder gar in ihren Schoß geführt. Nein, meine religiösen Überzeugungen und Ansichten sind frei geblieben von jeder Kirchlichkeit; kein Glockenklang hat mich verlockt, keine Altarkerze hat mich geblendet. (15) Haltung gegenüber den Juden (Anti-Antisemitismus) Heines Haltung zum Judentum könnte man mit der Familiengebundenheit von Erwachsenen vergleichen. Einerseits kennt man die Schwächen der Väter und ihrer Vorstellungen, hat eine Zeit lang dagegen opponiert, aber letztendlich erkennt man auch seine eigenen Wurzeln in dieser Familie und weiß sich unentrinnbar zugehörig. Heine blieb dem Judentum Zeit seines Lebens verbunden, sei es in der Arbeit im "Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden" zusammen mit Rahel Varnhagen, sei in der genauen historischen Herleitung christlicher Vorurteile gegen Juden in theoretischen Werken, sei es in der poetischen Verarbeitung jüdischen Schicksals im Mittelalter bis hin zum großen Bibelzitat am Ende des Nachwortes des "Romanzero", mit dem er sich gleichsam von seinem Publikum verabschiedet. Heines Übertritt zum Protestantismus am Ende seines Studiums war ein – immer auch so beschriebenes – Hilfsmittel zur Erlangung einer preußischen Beamtenkarriere, hat aber doch nichts geholfen. Der Autor der "Reisebilder" war schon nicht mehr konform genug – oder zu jüdisch.... In den Auseinandersetzungen mit dem Judentum, bzw. in der Darstellung desselben gibt es bei Heine mehrere Schwerpunkte. Einer ist die Darstellung der Leiden des jüdischen Volkes in der europäischen Geschichte und der Zähigkeit und des Überlebenswillens des "auserwählten Volkes", zum Beispiel Das neue Israelitische Hospital zu Hamburg Ein Hospital für arme, kranke Juden, Das schlimmste von den dreien ist das letzte, Unheilbar tiefes Leid! Dagegen helfen Wird einst die Zeit die ewige Göttin, tilgen Ich weiß es nicht! Doch mittlerweile wollen Oder in Prosatexten, wie im "Rabbi von Bacherach" ...welches man die zweite Judenschlacht nannte. Später bedrohte man die Juden noch oft mit dergleichen Schlachten, und bei innern Unruhen Frankfurts, besonders bei einem Streite des Rates mit den Zünften, stand der Christenpöbel oft im Begriff das Judenquartier zu stürmen. Letzteres hatte zwei Tore, die an katholischen Feiertagen von außen, an jüdischen Feiertagen von innen geschlossen wurden, und vor jedem Tor befand sich ein Wachthaus mit Stadtsoldaten.( 17) Der zweite Schwerpunkt ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Judentum wie mit dem Christentum als Wurzeln der europäischen Kultur, wobei er die nazarenischen und hellenischen Ausprägungen beider Religionen beleuchtet, wie schon im Zitat aus dem Börne-Buch ersichtlich (Fußnote Nr. 11 ). Der dritte Punkt ist der Antisemitismus von Seiten des "aufgeklärten Bürgertums" und zu Zeiten der emanzipierten Juden, die gerade in Preußen die Bürgerrechte erhalten hatten. Dazu ein frühes Beispiel aus einem Teil der "Reisebilder" und ein spätes aus seinen privaten Aufzeichnungen und Vorüberlegungen von 1844: »Die altjüdische Religion scheint Ihnen gewiß viel zweckmäßiger, mein Lieber?« »Herr Doktor, bleiben sie mir weg mit der altjüdischen Religion, die wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. Man hat nichts als Schimpf und Schande davon. Ich sage Ihnen, es ist gar keine Religion, sondern ein Unglück. Ich vermeide alles, was mich daran erinnern könnte, und weil Hirsch ein jüdisches Wort ist, und auf Deutsch Hyazinth heißt, so habe ich den alten Hirsch laufen lassen und unterschreibe mich jetzt: "Hyazinth"...« (18) Schöne Geschichte die jüdische – Aber die jungen Juden schaden den alten – die man weit über die Griechen und Römer setzen würde – ich glaube, gäbe es keine Juden mehr und man wüßte, es befände sich noch irgendwo ein Exemplar von diesem Volk, man würde hundert Stunden reisen, um es zu sehen und ihm die Hände zu drücken – und jetzt weicht man uns aus. Tragische Geschichte die Geschichte der neueren Juden, und schrieb man über dieses Tragische, so wird man noch ausgelacht – das ist das Allertragischste – (19) Doch auch das eigene Volk, bzw. einzelne Individuen desselben, bleiben nicht von kritischer Darstellung verschont, auch im Hinblick darauf, wie manche Gewohnheiten oder Sichtweisen den Vorurteilen in die Hände arbeiten, wie zum Beispiel Geld- und Finanzmacht oder Rückständigkeit. Namentlich ist dies der Fall bei dem Manne, der unter dem scheinlosen Namen Baron James (de Rothschild, A.d.V.) bekannt ist...Dieser Nero der Finanz, der sich in der Rue Lafitte einen goldenen Palast erbaut hat und von dort aus als unumschränkter Imperator die Börsen beherrscht, er ist....am Ende ein gewaltsamer Zerstörer des bevorrechteten Patriziertums und Begründer der neuen Demokratie..." Zu jeder Begründung einer neuen Ordnung von Dingen" –sagte er mir – "gehört ein Zusammenfluß von bedeutenden Menschen, die sich mit diesen Dingen gemeinsam beschäftigt haben. Dergleichen Menschen lebten früher vom Ertrag ihrer Güter oder Ämter und waren deshalb niemals ganz frei.....jetzt gewährt das Staatspapierensystem diesen Menschen die Freiheit, jeden beliebigen Aufenthalt zu wählen.....und sie ziehen sich zusammen und bilden die eigentliche Macht in den Hauptstädten...(20) Widerwärtiger war mir der Anblick von schmutzigen Bartjuden, die aus ihren polnischen Kloaken kamen, von der Bekehrungsgesellschaft in Berlin für den Himmel angeworben wurden und in ihrem maulfaulen Dialekte das Christentum predigten und entsetzlich dabei stanken.(21) Nietzsches Grundhaltung zu den Juden war eine kritisch positive. Einerseits sieht er sie als die "Erfinder"/Prototypen des Ressentiments, die als solche seinem Urteil über Decadence und schwächliche Instinkte verfallen: Die beiden entgegengesetzten Werte "gut und schlecht", "gut und böse" haben einen furchtbaren, jahrtausendelangen Kampf gekämpft; ... Das Symbol dieses Kampfes... heißt "Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom"... Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen,... Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen innewohnte...(22) Auf der anderen Seite sieht er durchaus die wichtige Rolle, die jüdische Individuen und die Schicht gebildeter Juden für die Kultur Deutschlands und Europas spielten. Auch ihr Kosmopolitismus, oft nicht freiwillig, aber in seiner innereuropäisch versöhnenden Rolle deutlich, ist ihm wertvoll. Was Europa den Juden verdankt? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den großen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit moralischer Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Teil jener Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unserer europäischen Kultur, ihr Abend-Himmel, glüht – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar.(23) ...man sehe sich die jüdischen Gelehrten an – sie alle halten große Stücke auf die Logik, das heißt auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, dass sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen- und Klassen-Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts ist nämlich demokratischer als die Logik; sie kennt kein Ansehen der Person und nimmt auch krumme Nasen für Gerade...Europa ist gerade in Hinsicht auf die Logisierung, auf reinlichere Kopf – Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig...(24) Als antisemitische Tendenzen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auch in der Umgebung Nietzsches auftauchten, reagierte er sehr vehement, besonders wenn Heinrich Heine davon betroffen war. Zwei Beispiele aus seinen Briefen: Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires, in denen er auf eine leidenschaftliche Weise Heinrich Heine gegen französische Kritik (Jules Janin) in Schutz nimmt. – Sp. ist durch meine Fürspräche auch Mitarbeiter des »Kunstwarts« und, nach meinem Geschmack, dessen einzige interessante Feder. Im übrigen habe ich das Blatt abgeschafft: auf einen jüngst eingetroffenen Brief des Hr. Avenarius, der sich schmerzlich über die Abmeldung beklagte, habe ich ihm kräftig die Wahrheit gesagt (– das Blatt bläst in das deutschtümelnde Horn und hat z.B. in der schnödesten Weise Heinrich Heine preisgegeben – Herr Avenarius, dieser Jude!!!). (25) Nietzsche zu Heines Sprache Nietzsche erwähnt Heine seinerseits in einem weiteren Zusammenhang, der ihm besonders wichtig ist: geschliffene Sprache: Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag – ich schätze den Wert von Menschen, von Rassen danach ab, wie notwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen. – Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, was bloße Deutsche mit ihr gemacht haben. – (26) – Wenn ich abends auf den Schlafsaal komme, scheint gewöhnlich der Mond auf mein Bett. Es ist dies ein ganz eigentümliches Gefühl und mir wird merkwürdig zumute. Es ist ausgemacht, daß der Mond mit dem Geist des Menschen korrespondiert; die Nerven werden durch eine Mondnacht mehr aufgeregt als durch die wärmsten Strahlen der Sonne. Wer kennt nicht jenes liebliche Gedicht von Heine: Die Lotosblume? (27) Das Gedicht, auf das Nietzsche anspielt: 30 Lotosblume Wahrhaftig, wir beide bilden Sie ist ein leidendes Kätzchen, Vertraut sind ihre Seelen, Sie sei eine Lotosblume, Die Lotosblume erschließet Resume: Nachdem wir nun aus ihren Werken einige Standpunkte und Denkrichtungen verglichen haben, lässt sich die Frage der Verwandtschaft durchaus bejahen. Der größte Unterschied zwischen beiden liegt aber in ihrer Selbsteinschätzung und in ihren Zielen. Wer war und als was sah sich Heine? Er sah sich von Beruf als Poet, von seiner Haltung her Zeit seines dokumentierten Lebens als Demokrat, der Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit, Freiheit der Kunst – kurz Freiheit des Individuums – gegen alle Ideologien verteidigte, als Aufklärer in dem Sinne, dass er die Aufklärung (noch ?) nicht unter das Volk, aber unter das Bürgertum bringen wollte und seine Leser zum Denken erziehen wollte. Er war kein Revolutionär, kein Philosoph, kein Gründer einer Bewegung – er war Künder und Herold, Vermittler von Gedanken und Systemen, in der Auswahl sein Ziel verfolgend. Dazu nochmal er selbst: Ich habe nie geglaubt daß sie meinen vorgeblichen Atheismus verfolgen; sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt sich verständlich zu machen, (Kants Glück war seine Obskurität) und einen verschrieenen Demokraten; es erschreckt sie, wie ein Gespenst, die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine Philosophie weckt.« (29) Was mich betrifft, so kann ich mich in der Politik keines sonderlichen Fortschritts rühmen; ich verharrte bei denselben demokratischen Prinzipien, denen meine früheste Jugend huldigte und für die ich seitdem immer flammender erglühte. (30) Nietzsche wiederum sah sich als Künder einer neuen Wahrheit, er sah sich als Philosoph, der die Weltgeschichte in zwei Hälften sprengen wollte. Dieses Ziel verfolgte er aber in unendlich vielen aphoristisch überlieferten Erkenntnisschritten, und was von ihm bleibt ist vor allem sein unerbittlicher Anspruch an die intellektuelle Redlichkeit, seine Aufforderung, niemandes Jünger zu werden, seine tiefen psychologischen Erkenntnisse über die Selbsttäuschungsmechanismen des Menschen – und seine poetischen Werke, ob er’s wollte oder nicht. Anmerkungen: * Josef Rattner, Nietzsche Leben – Werk – Wirkung, Verlag Königshausen & Neumann im Jahr 2000. In einem Aufsatz in diesem Buch wird das Verhältnis Nietzsches zu Heine ebenfalls behandelt, hauptsächlich ausgehend von Nietzsches Erwähnungen Heines. 1 Friedrich Nietzsche: Was den Deutschen abgeht, S. 6. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 7531 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 985-986) (c) C. Hanser Verlag 2 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Achtes Hauptstück. Völker und Vaterländer, S. 30. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 7083 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 721) (c) C. Hanser Verlag 3 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, Deutschland ein Wintermärchen, Caput 7, S. 3878 3a Heinrich Heine: Werke, Zeitgedichte Nr. 20, Zur Beruhigung, S. 277, Emil Vollmer Verlag Wiesbaden 4 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Achtes Hauptstück. Völker und Vaterländer, S. 35. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 7088 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 724) (c) C. Hanser Verlag 5 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B. Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 2799 5a Friedrich Nietzsche: Werke III, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 203,, S. 662, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag Frankfurt/M.. 1979 6 Friedrich Nietzsche: Werke III Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 44, S.1019, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag Frankfurt/M.. 1979 7 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 86, 98, Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 8 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Streifzüge eines Unzeitgemäßen, S. 22. Digitale Bibliothek Band 31, S. 7558 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 1002) (c) C. Hanser Verlag 8a Heinrich Heine: Zeit Leben Werk, Atta Troll, Caput 8, Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 3751 9 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 2873 10 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: [12], S. 48. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 8834 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 3, S. 503) (c) C. Hanser Verlag 10a Friedrich Nietzsche: Werke I, Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 221, S. 580/581, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 11 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Ludwig Börne, Erstes Buch, S. 260, Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 12 Friedrich Nietzsche: Werke III Der Antichrist, Nr. 60, S. 1232 , Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 13 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 71, Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 13a Friedrich Nietzsche: Werke II, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 108, S. 115, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 13b Friedrich Nietzsche: Werke II, Die fröhliche Wissenschaft , Nr. 125, S. 127, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 14 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 14 , Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 14a Friedrich Nietzsche: Werke III Der Antichrist, Nr. 37, S.1198 , Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 15 Heinrich Heine: Werke, Nachwort zum "Romanzero", S.429, Emil Vollmer Verlag Wiesbaden 16 Heinrich Heine: Werke, Zeitgedichte Nr.11, S. 270, Emil Vollmer Verlag Wiesbaden 17 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 579 18 Heinrich Heine: Werke, Die Bäder von Lucca, S. 833, Emil Vollmer Verlag Wiesbaden 19 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 5831 20 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Ludwig Börne, S. 268, Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 21 Heinrich Heine: Beiträge zur deutschen Ideologie, Ludwig Börne, S, Ullstein Verlag Frankfurt/M. 1971 22 Friedrich Nietzsche: Werke III, Zur Genealogie der Moral, Nr. 16, S. 795, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 23 Friedrich Nietzsche: Werke III, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 250, S. 716 Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 24 Friedrich Nietzsche: Werke II, Die fröhliche Wissenschaft Nr. 348, S. 214, Hg. Karl Schlechta, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., 1979 25 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Pforta, S. 18. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 8065 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 3, S. 52) (c) C. Hanser Verlag 26 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Warum ich so klug bin, S. 13. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 7693 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 1088-1089) (c) C. Hanser Verlag 27 Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: 1888, S. 59. Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche, S. 10388 (vgl. Nietzsche-Werke Bd. 3, S. 1304) (c) C. Hanser Verlag 28 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 5394 29 Heinrich Heine: Zeit Leben Werk Verlag J.B.Metzler, Reihe Heureka-Klett, S. 2884 30 Heinrich Heine: Werke, Nachwort zum "Romanzero", S. 429, Emil Vollmer Verlag Wiesbaden |
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