Legendenbildung in Bayreuth - Nietzsches letzter Besuch und ein Nachklang im Zarathustra Der Zufall spielte mir auf dem Nürnberger Trempelmarkt im Herbst 2002 das Buch von Sophie Rützow, Richard Wagner und Bayreuth, Verlag Knorr & Hirth, München 1943, in die Hände. Naturgemäß ist das Werk ganz im Sinne Wagners und Bayreuths abgefaßt – dies belegen schon die Überschriften der Hauptteile: I. Richard Wagner wählt Bayreuth II. Vollendet das ewige Werk! III. Weihe und Ausklang. Gegen die frühere Bayreuther Gepflogenheit des Totschweigens Nietzsches wird seiner im Buch überraschend oft, und in der Zeit vor 1876 sogar recht objektiv, wenn auch allein bezogen auf Wagnern, gedacht. Wie zwiespältig die Sicht auf Nietzsche jedoch gerade auch nach Wagners Tod in Bayreuth bis in die 40-iger Jahre des 20. Jahrhunderts geblieben ist, mag der folgende Auszug belegen – den ich im übrigen auch deshalb mitteile, da er ein Schlaglicht auf die Interpretation der Seiltänzer-Episode im "Zarathustra" zu werfen vermag: Besucher in Bayreuth (S. 127 ff.) Schon in der Dammallee war ein anderer innig begrüßter Besuch erschienen: Friedrich Nietzsche. Dann aber gab’s kein Wiedersehen mehr mit ihm bis zum August 1874, und danach trat wiederum eine Pause ein bis zum Juli 1876. Wagner, der fein empfindende Mensch, fühlte, daß irgend etwas in Nietzsches Seele aufgestanden war, das der Anwesenheit in Bayreuth widerstrebte, und er, der dem jungen Freund kurz nach der Übersiedlung nach Bayreuth geschrieben hatte: "Genau genommen sind Sie nach meiner Frau der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt", der lud ihn nun halb ermutigend, halb wehmütig ein. "O Freund, warum kommen Sie nicht zu uns? Nur nicht so abgesondert! Ich kann Ihnen dann nichts sein! Ihr Zimmer ist bereit!" Nietzsche konnte sich sein Zögern selber kaum erklären. 1875 suchte er in einem Brief an seinen Freund Rhode diesen Zwiespalt in sich in Worte zu fassen: "Überall Desperation! Und ich habe sie nicht! Und ich bin doch nicht in Bayreuth! Wie sich das reimt, begreifst Du’s? Ich begreife es fast nicht. Und doch bin ich mehr als dreiviertel des Tages im Geiste dort und schwärme wie ein Gespenst immer um Bayreuth herum. . ." Damals bereitete sich Nietzsches Abkehr von Wagner vor. In der Tribschener Zeit hatte er Wagner als einen seiner Erzieher gewählt. Nun aber kreiste sein Denken immer näher um die Erkenntnis, daß die Wirklichkeit niemals der erträumten Idealgestalt eines solchen Erziehers standhalten könne. Erste Zweifel stiegen auf, und sie verdichteten sich immer mehr bis zum Festspieljahr 1876 – bis Nietzsche, der schon zu den Proben gekommen war und mit rasenden Kopfschmerzen und versagenden Sehnerven kämpfte, an die Schwester schrieb: "Gestern habe ich die Walküre nur in einem dunklen Raum mitanhören können: Alles Sehen unmöglich. Ich sehne mich weg, es ist unsinnig, wenn ich bleibe." Nietzsche floh damals in den Bayerischen Wald. Danach gab es nur noch ein einziges Wiedersehen zwischen ihm und Richard Wagner – im Herbst nach den ersten Festspielen in Sorrent. Die "Sternenfreundschaft" war erloschen. Glasenapp, Wagners Biograph, sieht den Keim zu Nietzsches Abkehr darin, daß es der junge Denker nicht ertragen konnte, immer nur als Wagnerschriftsteller gewertet zu werden und daß er zu feinnervig war, um der dauernden Fehde, die in ihm den ‚Wagnerschriftsteller’ verfolgte, gewachsen zu sein. Hans Richter aber hat eine andere Theorie entwickelt. Er brachte Nietzsches Abkehr mit dessen musikalischem Ehrgeiz in Verbindung. "Ich lasse es mir nicht nehmen", sagte er, "daß Nietzsches ‚Abfall’ bereits Anfang des Jahres 1872 begann, an jenem Abend, als er Frau Cosima eine eigene Komposition widmete. Er hielt sich für produktiv-musikalisch begabt, und er hat in Tribschen, selbst in des Meisters Gegenwart, nicht selten auf dem Klavier phantasiert. Richard Wagner sagte darauf bezüglich einmal doppelsinnig: ‚Nein, Nietzsche, Sie spielen zu gut für einen Professor!’ Nun hatte er Frau Cosima seine Komposition ‚Sylvesterglocken’ zugeeignet. Wir spielten sie zusammen mit ihr. Ich blickte verstohlen auf den Meister und sah, wie er unruhig dabei saß und sein Barett knetete. Schließlich ging er hinaus. An der Tür stand der ehrliche Jakob Stocker und sagte: ,Das scheint nicht gut zu sein!’ Als das Stück beendet war, ging ich auch hinaus, ich fürchtete ein Donnerwetter. Doch Jakobs ehrliche Kritik hatte es schon abgeschwächt. Ich fand den Meister bloß in vollem Lachen, und lachend sagte er: Da verkehrt man schon anderthalb Jahre mit dem Menschen, und nun kommt er meuchlings, die Partitur im Gewande.‘" Auch in Bayreuth gab’s musikalisches Mißverstehen zwischen Wagner und seinem einstigen ‚Zögling’. Als Nietzsche Ostern 1873 kam, brachte er wiederum eine Komposition mit. Malvida von Meysenbugs Pflegetochter hatte sich mit dem Pariser Professor Monod verheiratet, und diesem jungen Paar galt Nietzsches vierhändiges Tonstück, das er ‚Une Monodie ä deux’ betitelt hatte. Richard Wagner und Cosima gingen in dieser Osterzeit in schweren Sorgen umher. Von den dreizehnhundert Patronatsscheinen fürs Festspielhaus waren erst zweihundert gezeichnet, das Werk auf dem Hügel drohte zu scheitern. So fand man in der Dammallee noch weniger als sonst Gefallen an "dilettantischen Spielereien", und da das junge Ehepaar sich nur bürgerlich hatte trauen lassen, konnte man auch Nietzsches kirchliche Schlußklänge nicht ganz begreifen. Scherzend meinte Wagner, nachdem er mit Nietzsche das Stück zu Ende gespielt hatte: "Da haben Sie den Monods doch noch den päpstlichen Segen aufgedrängt." In Nietzsche aber, der wohl eine sachliche Kritik erhofft hatte, blieb ein Stachel zurück. Und dann kam jener Besuch im August 1874, bei dem er einen Klavierauszug von Brahms ,Triumphlied’, das er voll Begeisterung im Basler Dom gehört hatte, mit sich führte. "Ihr Bruder legte mir den roten Band auf den Flügel", hat später Richard Wagner Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, über die Begebenheit berichtet. "Immer, wenn ich in den Saal hinunterkam, starrte mich das rote Ding an, es reizte mich förmlich, wie einen Stier das rote Tuch. Ich merkte wohl, daß er damit sagen wollte, ‚Siehst Du, das ist auch einer, der was Gutes kann’ – und eines Abends bin ich losgebrochen. Und wie!" Und als die Schwester fragte, was der Bruder darauf erwidert habe, antwortete er; "Der sagte gar nichts. Er errötete und sah mich mit bescheidener Würde an ..." Nietzsche litt an Wagner. Sein sich weitender, in einsame Höhen wandernder Geist wollte sich von dem Großen befreien, den er sich einst zum Führer gewählt. Aber seine Bewunderung für das Einzigartige dieses Mannes trieb ihn immer noch zu neuer Huldigung. Und so erlebten es die Gäste in Wahnfried, daß der Philosoph Nietzsche sie in irgend eine stille Ecke zog und sich dort in der Verherrlichung Wagners erging. Und Besuchern bei Angermann begegnete es, daß plötzlich ein junger Mann aufsprang, ihnen im dichtgefüllten Lokal einen Platz verschaffte und sich dann neben sie setzte, bloß um von Wagner reden zu können. Immer sprach er ruhig, leise und mit einem unendlich schönen Ausdruck in seinen Augen. Durch diese Ruhe aber glühte die Begeisterung hindurch. Die damals in Wahnfried, bei Angermann oder sonstwo in Bayreuth dem mit sich selber ringenden und sich selber in der Zwiespältigkeit der Empfindung nicht begreifenden Nietzsche begegneten, sind alle aus dieser Welt gegangen. Nur einer lebt noch, zu dem damals Nietzsche in Beziehungen trat. Das ist Adolf Wallnöfer. Als dieser 1876 wiederum nach Bayreuth kam, wohnte er nicht mehr in der Nibelungen-Kanzlei, sondern in der ,Sonne’. "Eines Tages klopfte es an meiner Türe", erzählt Wallnöfer. "Draußen stand ein Unbekannter mit dicht hängendem Schnurrbart und gütigen Augen hinter einer Brille. Er stellte sich als mein Zimmernachbar, Professor Nietzsche vor, und weil er in Wahnfried gehört hatte, daß ich sein Werk ‚Die Geburt der Tragödie’ gelesen hatte, wollte er sich mit mir bekannt machen.
Es gab nun lange Spaziergänge, auf denen wir über dieses Werk, über Bayreuth und mannigfaltige andere Fragen der Kunst sprachen, und wir verstanden uns ausgezeichnet. Einmal nach einer ausgiebigen Wanderung an den Grenzen der Stadt waren wir müde und durstig geworden. Wir sahen in einiger Entfernung ein großes Haus, das im Grünen lag, und gingen darauf zu. Ein Herr empfing uns, als wir durch die Pforte traten, wir fragten, ob wir nicht etwas zu trinken bekommen könnten, und es wurde uns bedeutet, wir möchten nur eintreten, wir bekämen ausgezeichneten Tee, denn wir seien in einem Krankenhaus. Es waren viele Männer da. Es waren Billards da, an denen gespielt wurde, merkwürdig regellos. Manche Männer starrten uns an, andere nahmen keinerlei Notiz von uns. Und auf einmal wurde es uns klar, daß wir – im Bayreuther Irrenhaus waren! Als die Geisteskranken hörten, ein junger Sänger und Komponist aus Wien und ein Professor Nietzsche aus Basel seien da, kamen zahlreiche von ihnen heran und drängten sich um uns. Trotz der Abwehr des Direktors sprachen sie mit uns, erzählten uns allerlei, und da auch Kranke darunter waren, die sich für geistige und künstlerische Genies hielten, wurden wir bedrängt, ihre Werke’ zu würdigen. Ein Kranker, dem der irre Sinn aus den Augen sah, nötigte uns ein Gedicht auf. Nietzsche sollte sein Urteil darüber abgeben, ich sollte es komponieren. Ich besitze das Gedicht des Irren als Erinnerung an jene seltsame Stunde heute noch. Es trägt den Titel: ,Christus als Schmetterlingsrüssel’. Als Nietzsche und ich uns endlich aus dem Kreis der Geisteskranken losgemacht und die Irrenanstalt verlassen hatten, lasen wir auf dem Weg nach der Stadt die wirre Dichtung. Nietzsche meinte: ‚Der Einblick in ein Irrenhaus war doch hochinteressant. Wie entsetzlich und grotesk zugleich, wenn ein Mensch seine geistigen Kräfte verliert!’ Und plötzlich schüttelte ihn ein heftiges Lachen. An die Stunde mit Nietzsche im Bayreuther Irrenhaus habe ich oft zurückdenken müssen, als dann Nietzsche geistig erkrankte ..." Ist auch Nietzsche nach 1876 nicht mehr nach Bayreuth gekommen, so hat doch gerade diese Stadt zwei Marksteine in seinem Schaffen gesetzt. Seine Gabe zum ersten Festspieljahr war ‚Richard Wagner in Bayreuth’, dieser unvergleichliche Hymnus auf den großen Freund, der vielleicht das Schönste enthält, was über Wagner gesagt worden ist. Der empfand es selbst so. "Freund", schrieb er erschüttert als Dank, "Ihr Buch ist ungeheuer!" Und noch an einer anderen Stelle ist Bayreuth mit Nietzsches Werk verknüpft: In der Vorrede zum Zarathustra. Es ist wohl so gewesen, daß Nietzsche einmal, oder vielleicht sogar öfter, mit Cosima und den Kindern in einer der Gassen um die alte Stadtkirche stand und halb schaudernd, halb begierig zusah, wie da droben auf dem Seil zwischen den Türmen einer aus der Seiltänzerfamilie Knie tollkühne Sprünge vollführte. "Und Zarathustra", heißt es in der Vorrede, "kommt in die nächste Stadt, die an den Wäldern liegt, da fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markt, denn es war verheißen worden, daß man einen Seiltänzer sehen sollte ... Der aber trat aus einer Tür hoch oben auf dem Turm auf das Seil zwischen den Türmen . . ."
Die Stadt an den Wäldern, das ist Bayreuth. Die Türme, das sind die Türme der Stadtkirche, und nur aus eigener Anschauung konnte die Seiltänzerszene so bayreuthgetreu gezeichnet werden. Wer ist dann aber der "bunte Gesell", der sich aufs Seil schwingt und dämonisch des Seiltänzers Sturz und Tod herbeiführt? Die Erklärer Nietzsches bezeichnen ihn als Richard Wagner, und im "Volk" in dieser Stadt wollen sie die Wagnergemeinde geschildert sehen. Hat Nietzsche die Vision Bayreuths wirklich bis zu diesem persönlichsten Grad gesteigert, so muß er, wie durch geheime Fäden, auch im Zarathustra noch mit Wagner und Bayreuth verknüpft gewesen sein. Denn als Nietzsche den ersten Teil des Zarathustra vollendete, da starb in Venedig in derselben "heiligen Stunde" der einstige geliebte Freund – Richard Wagner. |