Eine Link-Empfehlung zur Wagner-Abteilung meiner Übersetzerin Ingrid Sabharwal-Schwaegermann
aus Edmonton, Canada, mit ausführlicher Wagner-Zeittafel und dessen Beethoven-Schrift in Deutsch und Englisch.
Informieren Sie sich auch über eine wichtige theoretische Grundsatzschrift Wagners, die in meinem Vortrag Feuerbach, Wagner und das "Kunstwerk der Zukunft" besprochen wird.
Nietzsche lernt Richard Wagner kennen. Nietzsche war im März 1868 durch seinen Reitunfall beim Militärdienst monatelang erkrankt; Pfingsten 1868 besuchte den in Naumburg Rekonvaleszierenden Ernst Windisch, ein Kommilitone aus Leipziger Zeiten (1844-1918, lehrte später als Professor der Indologie in Leipzig); er riet Nietzsche zu, sich bei Ritschl in Leipzig zu habilitieren, und sollte noch in einer weiteren Hinsicht für die Zukunft Nietzsches sehr bedeutsam werden. Im Oktober 1868, genesen nach Leipzig zurückgekehrt, schrieb er an Freund Rohde: "... Im übrigen nehme ich mir vor, etwas mehr Gesellschaftsmensch zu werden: insbesondere habe ich eine Frau aufs Korn genommen, von der mir Wunderdinge erzählt sind, die Frau des Professor Brockhaus, Schwester Richard Wagners: über deren Kapazitäten Freund Windisch (der mich besucht hat) eine erstaunliche Meinung hat ... Ritschls gehen fast nur mit Familie Brockhaus um." (Briefwechsel mit Rohde, S. 71) Man sieht, für den (noch) kritischen Kenner der Wagnerischen Musik (so hatte er sich etwa 1866 mit dem Klavierauszug der Walküre beschäftigt) verknüpfen sich hier zwei gewichtige Motive – im selben Brief schreibt er: "Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft usw." (S. 72) Wieder ist es Windisch, der ihm die Wohnung in Leipzig vermittelt, in der Lessingstraße bei Professor Biedermann. Am 27. Oktober hört Nietzsche, dem sogar "die Kritik der Oper [...] offerirt" worden war, das Tristan-Vorspiel und die Meistersinger-Ouvertüre – und war hingerissen. An Rohde Tags darauf (S. 77): "Heute Abend war ich in der Euterpe, die ihre Winterconcerte begann und mich sowohl mit der Einleitung zu Tristan und Isolden als auch mit der Ouvertüre zu den Meistersingern erquickte. Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre." Als Nietzsche am 6. November von seinem Eröffnungsvortrag vor dem "Philologischen Verein" nach Hause kam, wartete dort bereits eine Nachricht von Windisch auf ihn: "Willst Du Richard Wagner kennenlernen, so komme um ¾4 in das Café Théâtre." Wagner war völlig inkognito zu Besuch bei der Schwester Ottilie, die mit dem Orientalisten Hermann Brockhaus verheiratet war, bei dem Windisch seine Habilitation vorbereitete. Mit Frau Brockhaus war Frau Ritschl, Nietzsches alte Gönnerin, befreundet. Als nun Wagner ihr und seiner Schwester das Meisterlied aus den Meistersingern vorspielte, erzählte ihm Frau Ritschl, daß es ihr bereits wohlbekannt sei, und zwar durch einen jungen Philologen und Schüler ihres Mannes, Friedrich Nietzsche, der musikalisch sehr begabt sei. Darauf wünschte Wagner diesen jungen Mann kennenzulernen. So kam es zu dem Zettel von Windisch und nach einigem Hin und Her zu der ersten Begegnung Nietzsches mit Wagner bei Professor Brockhaus am Abend des 8. November 1868. Nietzsche selbst berichtete darüber an Rohde am folgenden Tage (Briefwechsel mit Rohde, S. 86 ff.): "In der Meinung, daß eine große Gesellschaft geladen sei, beschloß ich, große Toilette zu machen, und war froh, daß gerade für den Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug versprochen hatte. Es war ein schrecklicher Regen- und Schneetag, man schauderte, ins Freie zu gehen, und so war ich denn zufrieden, daß mich nachmittags Roscherchen besuchte, mir etwas von den Eleaten erzählte und von dem Gott in der Philosophie ... Es dämmerte, der Schneider kam nicht und Roscher ging. Ich begleitete ihn, suchte den Schneider persönlich auf und fand seine Sklaven heftig mit meinem Anzug beschäftigt: man versprach in ¾ Stunden ihn zu schicken. Ich ging vergnügter Dinge weg, streifte Kintschy, las den ‚Kladderadatsch‘ und fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, daß Wagner in der Schweiz sei, daß man aber in München ein schönes Haus für ihn baue: während ich wußte, daß ich ihn heute abend sehen würde und daß gestern ein Brief vom kleinen König (Ludwig II. von Bayern) an ihn angekommen sei, mit der Adresse »An den großen deutschen Tondichter Richard Wagner«. Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider, las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudocia und wurde von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewißheit, daß an dem altväterlichen eisernen Gittertore jemand warte: es war verschlossen, ebenso wie die Haustür. Ich schrie über den Garten weg dem Mann zu, er solle in das Naundörfchen kommen: unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu machen. Das Haus geriet in Aufregung, endlich wurde aufgeschlossen, und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war ½7 Uhr; es war Zeit, meine Sachen anzuziehen und Toilette zu machen, da ich sehr weit ab wohne. Richtig, der Mann hat meine Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er präsentiert die Rechnung. Ich akzeptiere höflich: Er will bezahlt sein, gleich bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm auseinander, daß ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen Schneider zu tun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehn, der Mann ergreift die Sachen und hindert mich sie anzuziehn: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Szene. Ich kämpfe im Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehn. Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur: währenddem entfernt sich das Männchen mit meinen Sachen. Ende des 2. Aktes: ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist. – Draußen gießt der Regen – Ein viertel auf Acht: um halb acht, habe ich mit Windisch verabredet, wollen wir uns im Theatercafé treffen. Ich stürme in die finstre Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack, doch in gesteigerter Romanstimmung: das Glück ist günstig, selbst die Schneiderszene hat etwas Ungeheuerlich-Unalltägliches. Wir kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus an: es ist niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard und wir beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte der Verehrung: er erkundigt sich sehr genau, wie ich mit seiner Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Aufführungen seiner Opern, mit Ausnahme der berühmten Münchener und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester im gemütlichen Tone zurufen: »Meine Herren, jetzt wird's leidenschaftlich«, »Meine Gutsten, noch ein bißchen leidenschaftlicher!« Wagner imitiert sehr gern den Leipziger Dialekt.
Nun will ich Dir in Kurze erzählen, was uns dieser Abend bot, wahrlich Genüsse so eigentümlich pikanter Art, daß ich auch heute noch nicht im alten Gleise bin, sondern eben nichts Besseres tun kann, als mit Dir, mein teurer Freund, zu reden und »wundersame Mär« zu künden. Vor und nach Tisch spielte Wagner, und zwar alle wichtigen Stellen der »Meistersinger«, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer: ach, und Du begreifst es, welcher Genuß es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe: dann erkundigte er sich, wie sich jetzt die Professoren zu ihm verhalten, lachte sehr über den Philosophenkongreß in Prag und sprach »von den philosophischen Dienstmännern«. Nachher las er ein Stück aus seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche Szene aus seinem Leipziger Studienleben, an die ich jetzt noch nicht ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich gewandt und geistreich. – Am Schluß, als wir beide uns zum Fortgehen anschickten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philosophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine Anverwandten mit seiner Musik bekanntzumachen: was ich denn feierlich übernommen habe." Am 9. Dezember (Briefwechsel mit Rohde, S. 110) schrieb er an Rhode, "daß wir uns über einen Genius ganz verstehen werden, der mir wie ein unlösliches Problem erschien und zu dessen Verständnis ich jahraus, jahrein neue Anläufe machte: dieser Genius ist Richard Wagner. Dies ist nun das zweite Beispiel, wo wir, fast unbekümmert um die herrschende und gerade unter Gebildeten gültige Meinung, uns unsre eignen Götzen aufstellen: und man tut schon das zweite Mal diesen Schritt mit mehr Sicherheit und Selbstvertrauen. Wagner, wie ich ihn jetzt kenne, aus seiner Musik, seinen Dichtungen, seiner Ästhetik, zum nicht geringsten Teile aus jenem glücklichen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftigste Illustration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt: ja die Ähnlichkeit all der einzelnen Züge ist in die Augen springend. Ach, ich wollte, ich könnte Dir in behaglicher Abendstunde die vielen kleinen Einzelheiten erzählen, die ich über ihn, meistens durch seine Schwester, weiß; ich wollte, wir könnten die Dichtungen miteinander lesen (die Romundt so hoch schätzt, daß er Richard Wagner für den bei weitem ersten Dichter der Generation hält, und über die auch Schopenhauer, wie Wagner mir erzählte, sehr gut gedacht hat), wir könnten zusammen den kühnen, ja schwindelnden Gang seiner umstürzenden und aufbauenden Ästhetik gehen, wir könnten endlich uns von dem Gefühlsschwunge seiner Musik wegreißen lassen, von diesem Schopenhauerischen Tonmeere, dessen geheimsten Wellenschlag ich mitempfinde, so daß mein Anhören Wagnerischer Musik eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sichselbstfinden ist."
Anstatt auf einer mit Rohde ins Auge gefaßten Paris-Reise naturwissenschaftlichen Studien nachzugehen erhielt Nietzsche Februar 1869 im Alter von 24 Jahren eine außerordentliche Philologie-Professur in Basel, die schon ein Jahr später in eine ordentliche umgewandelt wurde. Am 19. April 1869 kam Nietzsche in Basel an und nahm zunächst am Spalentorweg 2, später am Schützengraben 45 (heute 47) Wohnung. Am 15. Mai schließlich überwand er seine verständlichen inneren Bedenken, ob er die Leipziger Einladung Wagners beim Wort nehmen dürfe, und begab sich auf seinen Antrittsbesuch nach Tribschen. Dort lebte Wagner seit April 1866, nachdem er schmählich aus München hatte weichen müssen; nach kurzem war auch Cosima von Bülow zu ihm gezogen, die von ihm, noch mit Hans von Bülow verheiratet, ihr drittes Kind, die Tochter Isolde, erwartete. Ludwig II. unterstützte Wagner weiter finanziell und besuchte ihn auch in Tribschen, nahe Luzern am Vierwaldstätter See gelegen. Wagner arbeitete in dieser Zeit gerade an der Kompositionsskizze des 3. Aktes zum Siegfried, als Nietzsche am Pfingstsamstag 1869 seine Karte beim Diener abgibt – der "Meister" aber darf bei der Arbeit nicht gestört werden; Nietzsche notiert dazu: "... Vor dem Hause stand ich lange still und hörte einen immer wiederholten schmerzlichen Accord. Einladung zu Tisch ... auf Montag angenommen." "Montag mit dem Morgenschiff nach Tribschen ..., Baronin von Bülow. [...] Mit Wagner zurück zum Rößli, herzliche Einladung." (Janz I, 293 f.) Am 5./6. Juni war Nietzsche zufällig im Haus, als Siegfried, Wagners zweites Kind mit Cosima, geboren wurde; am 3. September 1869 berichtet er an Rohde über seine neue "Insel der Seligen" (Briefwechsel mit Rohde, S. 165 ff.): "Übrigens habe auch ich mein Italien, wie Du; nur daß ich mich dahin immer nur die Sonnabende und Sonntage retten kann. Es heißt Tribschen und ist mir bereits ganz heimisch. In letzter Zeit bin ich, kurz hintereinander, vier Mal dort gewesen, und dazu fliegt fast jede Woche auch ein Brief dieselbe Bahn. Liebster Freund, was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Aeschylus und Pindar leben noch, glaub es mir." Wie eng man sich austauschte, zeigt eine andere Stelle dieses Briefes an Rohde, in der er ihm von seiner "Antrittsrede" (vor der Universität) berichtet, die er verschiedenen Freunden und Autoritäten vorher zugeschickt hatte. Von Ritschl habe er "das Lob eines guten Stilisten davongetragen" (man beachte, wie hier Ritschl lobt, und was er nicht sagt!). Zuletzt gab er die Rede "Freund Wagner, der sie Frau v. Bülow vorgelesen hat: er stimmt, was mich sehr stärkt, mit allen vorgetragenen ästhetischen Ansichten überein und gratuliert mir, das Problem richtig gestellt zu haben..." Seinen Tagesablauf in Basel beschrieb der Philologieprofessors Nietzsche seinem alten Lehrer Ritschl so: "Jeden Morgen der Woche halte ich um 7 Uhr meine Vorlesung und zwar die drei ersten Tage über Geschichte der griechischen Lyrik, die drei letzten über die Choephoren des Aeschylus. Der Montag bringt das Seminar mit sich, das ich für meinen Teil ungefähr nach Ihrem Schema eingerichtet habe. ... Dienstag und Freitag habe ich am Pädagogium zweimal zu unterrichten, Mittwoch und Donnerstag einmal." Wie einsam Nietzsche sich in Basel jedoch fühlt, geht aus seinem Schreiben von Ende Januar bis 15. Februar 1870 (Briefwechsel mit Rohde, S. 180) hervor: "...Nun will ich eins Dir recht eindringlich sagen. Denke daran, auf Deiner Rückreise einige Zeit bei mir zu wohnen: weißt Du, es möchte vielleicht für lange Zeit das letzte Mal sein. Ich vermisse Dich ganz unglaublich: mache mir also das Labsal Deiner Gegenwart und sorge dafür, daß sie nicht so kurz ist. Das ist mir nämlich doch eine neue Empfindung, auch so gar niemanden an Ort und Stelle zu haben, dem man das Beste und Schwerste des Lebens sagen könnte... Meine Freundschaft bekommt unter so einsiedlerischen Umständen, so jungen und schweren Jahren, wirklich etwas Pathologisches: ich bitte Dich, wie ein Kranker bittet: ‚komm nach Basel!‘ Mein wahres und nicht genug zu preisendes Refugium bleibt für mich Tribschen bei Luzern: nur daß es doch nur selten aufzusuchen ist. Die Weihnachtsferien habe ich dort verlebt: schönste und erhebenste Erinnerung! Es ist durchaus nöthig, daß Du auch in diese Magie eingeweiht wirst. Bist Du erst mein Gast, so reisen wir auch zusammen zu Freund Wagner... Ich gewinne immer mehr Liebe für das Hellenenthum: man hat kein besseres Mittel sich ihm zu nähern, als durch unermüdliche Fortbildung seines eigenen Persönchens. Der Grad, den ich jetzt erreicht habe, ist das allerbeschämendste Eingeständniß meiner Unwissenheit. Die Philologenexistenz in irgend einer kritischen Bestrebung, aber tausend Meilen abseits vom Griechenthum, wird mir immer unmöglicher. Auch zweifle ich, ob ich noch je ein rechter Philologe werden könne: wenn ich es nicht nebenbei, so zufällig erreiche, dann geht es nicht. Das Malheur nämlich ist: ich habe kein Muster und bin in der Gefahr des Narren auf eigne Hand. Mein nächster Plan ist, vier Jahre Culturarbeit an mir, dann eine jahrelange Reise – mit Dir vielleicht... – Ich habe hier einen Vortrag über "Sokrates und die Tragödie" gehalten, der Schrecken und Mißverständnisse erregt hat. Dagegen hat sich durch ihn das Band mit meinen Tribschener Freunden noch enger geknüpft. Ich werde noch zur wandelnden Hoffnung: auch Richard Wagner hat mir in der rührendsten Weise zu erkennen gegeben, welche Bestimmung er mir vorgezeichnet sieht. Das ist alles sehr beängstigend... Doch ich will mich nicht anfechten lassen: litterarischen Ehrgeiz habe ich eigentlich gar nicht, an eine herrschende Schablone mich anzuschließen brauche ich nicht, weil ich keine glänzenden und berühmten Stellungen erstrebe. Dagegen will ich mich, wenn es Zeit ist, so ernst und freimüthig äußern, wie nur möglich. Wissenschaft, Kunst und Philosophie wachsen so sehr in mir zusammen, daß ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde." Hören Sie, wie Nietzsche aus dem Krieg an Cosima schrieb! Ende 1870 war er von seinem freiwilligen Sanitätseinsatz im deutsch-französischen Krieg krank zurückgekehrt und mußte sich erholen (lesen Sie dazu auch den Text "Nietzsche als Sanitäter") – nur langsam kam er mit seinem ersten Werk, der Geburt der Tragödie voran, während Wagner an seiner Festschrift über Beethoven arbeitete. Ein Podcast von Bayern 4 zur Scheidung von Cosima und Hans von Bülow Und so konnten in der kriegsbedingten Abwesenheit Nietzsches Richard und Cosima im August 1870 endlich heiraten, nachdem sie bereits drei Kinder von ihm hatte. Cosima zu ihrer Hochzeit mit Wagner Wie eng das Verhältnis geworden war, geht auch daraus hervor, daß Nietzsche sogar in Wagners Überraschung für Cosimas Geburtstag Weihnachten 1870 – sie wurde am 25.12. 33 Jahre alt – eingeweiht war, diese mit dem "Tribschener Idyll" (oder "Treppenmusik" – später Siegfried-Idyll) zu wecken (Nietzsche war vom 24.12.1870 bis zum 1.1.1871 in Tribschen eingeladen). Wie sehr man sich zugeneigt war, läßt sich auch an den gegenseitigen Weihnachtsgeschenken sehen: "Zu Weihnachten bekam ich ein prachtvolles Exemplar des ‚Beethoven‘, dann eine stattliche Ausgabe des Montaigne (den ich sehr verehre) und – Etwas ganz Einziges – das erste Exemplar vom Klavierauszug des ‚Siegfried‘ erster Akt, eben fertig geworden, während noch ein Jahr vergehen kann, ehe der Klavierauszug dieses Werkes in die Öffentlichkeit kommt." Für Richard Wagner hatte Nietzsche ein Dürer-Blatt ("Ritter, Tod und Teufel") besorgt, das sich dieser wünschte, wie er wußte. Und für Cosima hatte er eine Reinschrift seiner Studie "die Entstehung des tragischen Gedankens" angefertigt, eine Vorstufe seiner Geburt der Tragödie. Hören Sie einen von Cosima kommentierten Ausschnitt (427 KB) des Siegfried-Idylls
Daß Nietzsche in seinem Erstling, der sich zunächst ja noch als philologische Schrift verstand, so ausführlich auf das Wagnersche Schaffen und dessen Bedeutung für die kulturelle Bildung einging, hängt sicherlich mit den ausführlichen Diskussionen und mehr oder weniger sanften Einwirkungen Richards und Cosimas zusammen, die er weder umgehen konnte noch wollte: bereits das Vorwort richtet er "An Richard Wagner". Und sicherlich ist es auch der Verbindung mit Wagner ein Stück weit zu danken, daß dessen Verleger Fritzsch in Leipzig die Schrift annahm – und er es nicht mehr, weil verlegerlos, "stückweise zur Welt" bringen mußte, wie er Rohde schrieb: "welche Tortur für die Gebärende!" (Briefwechsel mit Rohde, S. 248) Der Hauptgedankengang der Schrift ist verkürzt folgender: Die attische Tradgödie entstand demnach aus dem Verschmelzen des Apollinischen und Dionysischen, wobei Apollo für das Träumerisch-Ästhetische und dessen bändigende Formgebung als prinicipium individuationis, Dionysos für das Wild-Rauschhafte und Verzückte als Aufgehen im Gesamt der Welt stehen. Aus dem Chor (und damit aus dem "Geist der Musik") tritt in der Tragödie der individuelle Held hervor, sich eine Welt erträumend und notwendig an ihr scheiternd – und so tritt er wieder zurück in seinen Ursprung, das Spiel beginnt von Neuem. Der "Dämon" dieses Höhepunktes der griechischen Kultur sei die sokratische Aufklärung, die auf das Wissen und die Reflexion gesetzt habe und sich damit von den lebendigen Wurzeln des Menschen entferne; Christentum und der Glaube an die Wissenschaft seien weitere Schritte in dieser Richtung. Dieser Verflachung des Geistes als bloßes Wissen müsse im Wege einer neuen Kunst entgegengewirkt werden – natürlich mittels der Wagnerschen als Wiedergeburt der Tragödie: "Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein notwendiges Korrelativum und Supplement der Wissenschaft?" (Geburt der Tragödie, Nr. 14, Schluß) Am 2. Januar 1872 konnte Nietzsche Widmungsexemplare nach Tribschen schicken; Wagner schrieb: "Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nicht gelesen!" Und am 18. antwortete Cosima: "O wie schön ist Ihr Buch! Wie schön und wie tief und wie kühn! Wer soll es Ihnen lohnen, würde ich beklommen fragen, wüßte ich nicht, daß Sie in dieser Konzeption der Dinge den höchsten Lohn gefunden haben müssen ... Sie haben in diesem Buche Geister gebannt, von denen ich glaubte, daß sie einzig unsrem Meister dienstpflichtig seien; über zwei Welten, von denen wir die eine nicht sehen, weil sie zu fern, die andere nicht erkennen, weil sie uns zu nahe ist – haben Sie den hellsten Schein geworfen, so daß wir die Schönheit fassen, die uns ahnungsvoll entzückte, und die Häßlichkeit begreifen, die uns beinahe erdrückte; und trostreich lassen Sie Ihre Leuchte in die Zukunft – die unsren Herzen Gegenwart ist – scheinen, daß wir hoffnungsvoll erflehen können >das Gute siege!< Ich kann Ihnen nicht sagen, wie erhebend Ihr Buch mich dünkt ... und wie ist Ihnen die schönste Anschaulichkeit in den schwierigsten Fragen gelungen! Wie eine Dichtung habe ich diese Schrift gelesen ... denn sie gibt mir eine Antwort auf alle unbewußten Fragen meines Inneren. ... Nun aber leben Sie wohl; seien Sie gegrüßt vom unteren und oberen Gemach, in letzterem webt jetzt der Meister und ruht neben allem mir wertvollen, Ihr Buch!" Wagner selbst schrieb am 10. Januar 1872 an Nietzsche: "Wir haben in Ihnen seit unsrer Bekanntschaft auffällige Beunruhigungen
wahrgenommen, zu deren Erklärung Sie zwar oft sehr vertraulich beitrugen,
welche sich dennoch aber in fest regelmäßigen Perioden so bestimmt
wiederholten, daß wir uns schließlich zu einer freundschaftlichen
Vorsicht für unseren Verkehr mit Ihnen angehalten fühlten. Nun
veröffentlichen Sie eine Arbeit, welche ihresgleichen nicht hat. Jeder
Einfluß, der etwa auf Sie ausgeübt worden wäre, ist durch den ganzen
Charakter dieser Arbeit fast auf nichts zurückgeführt. Was Ihr Buch vor
allen anderen auszeichnet, ist die vollendete Sicherheit, mit welcher sich
eine tiefsinnige Eigentümlichkeit darin kundgibt. Wie anders hätte sonst
mir und meiner Frau der sehnlichste Wunsch erfüllt werden können, einmal von
außen etwas auf uns zutreten zu sehen, das uns vollständig einnehmen möchte?
Wir haben Ihr Buch, früh jedes für sich, abends gemeinsam, doppelt
durchgelesen. Auch unter seinen Freunden und Bekannten, so namentlich von Hans von Bülow, Jacob Burckhardt, Franz Overbeck und Erwin Rohde wurde das Buch einhellig begrüßt. Ganz anders jedoch die Fachkollegen – von dieser Seite her umgab Nietzsche seit der Veröffentlichung eisiges Schweigen; nicht einmal sein Lehrer Ritschl ließ etwas hören – letzterer hatte sich in sein Tagebuch notiert: "Buch von Nietzsche Geburt der Tragödie ( = geistreiche Schwiemelei)". Erst im Mai 1872 erschien eine Streitschrift des vier Jahre jüngeren Fachkollegen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (später einer der bedeutendsten deutschen Philologen, der Nietzsche noch im Oktober des Vorjahres als verehrtem Vorbild in Naumburg seine Aufwartung gemacht hatte ...), betitelt: Z U K U N F T S P H I L O L O G I E ! Darin griff er Nietzsche in seinen philologischen Aussagen an, verteidigte den Rationalismus der Wissenschaft und höhnte über die Verbindung mit dem weithin umstrittenen Wagner ("...hier schlug man die götterbilder in trümmer, mit denen poesie und bildende kunst unseren himmel bevölkert, um das götzenbild Richard Wagner in ihrem staube anzubeten.") – und trotz öffentlicher Verteidigung durch Wagner und vor allem durch Rohdes kontra Wilamowitz gerichtete Polemik "Afterphilologie" war Nietzsche wissenschaftlich damit erledigt, im nächsten Semester blieben in Basel, die Forderung von Wilamowitz befolgend, die Philologie-Studenten gänzlich aus:
Damit war Nietzsche auch von der Außenseite her vor ein Problem gestellt, das er aus innerlicher Gedrängtheit – leider vergeblich –- schon zu lösen versucht hatte,
indem er einen seiner Freunde, vor allem Rohde, auf seinen eigenen Baseler Philologenstuhl holen und selbst zur philosophischen Fakultät wechseln wollte. "Da Sie mir, lieber Herr Professor, Ihr Buch nur durch den Verleger, ohne eine persönliche Begleitzeile, zukommen zu lassen so freundlich waren, so habe ich wirklich auch nicht geglaubt, daß Sie meinerseits sogleich eine persönliche Rückäußerung erwarteten ... Wenn ich nun aber ... zu einer eingehenden Besprechung ... mich auch jetzt noch außer Stande fühle und wohl auch weiterhin außer Stande fühlen werde, so müssen Sie bedenken, daß ich zu alt bin, um mich noch nach ganz neuen Lebens- und Geisteswegen umzuschauen. Meiner ganzen Natur nach gehöre ich, was die Hauptsache ist, der historischen Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden zu sein schien ... – so wenig wie eine Religion für die verschiedenen Völkerindividualitäten ausreicht, ausgereicht hat und je ausreichen wird. – Sie können dem 'Alexandriner' und Gelehrten unmöglich zumuten, daß er die Erkenntnis verurteile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke ... Ob sich Ihre Anschauungen als neue Erziehungsfundamente verwerten lassen, – ob nicht die große Masse unserer Jugend auf solchem Wege nur zu einer unreifen Mißachtung der Wissenschaft gelangen würde, ohne dafür eine gesteigerte Empfindung für die Kunst einzutauschen, – ob wir nicht dadurch, anstatt Poesie zu verbreiten, vielmehr Gefahr liefen, einem allseitigen Dilettantismus Tür und Tor zu öffnen : – das sind Bedenken, die dem alten Pädagogen vergönnt sein müssen, ohne daß er sich, meine ich, deshalb als 'Meister Zettel' zu fühlen braucht ... Gegenüber Ihrer 'Fülle der Gesichte' würde es wenig am Platze sein, wenn ich eine alexandrinische Frage an Sie richten wollte über historisch-bibliothekarische Laertiana oder über des Alcidamas Mouseion und dergleichen frivola: daher unterlasse ich es. Vielleicht kommen Sie doch noch einmal von selbst darauf zurück, wenn auch etwa nur zur Abwechslung und Ausspannung." Am Rande sei hier auf eine durchaus auffällige Stilähnlichkeit der inneren und äußeren Form zwischen Ritschl und Nietzsche hingewiesen, die sicherlich nicht nur zufällig ist ... Nietzsche sagt von ihm im Ecce homo (Werke II, 426 f.) selbst: "Ritschl – ich sage es mit Verehrung – der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besaß jene angenehme Verdorbenheit, die uns Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch wird – wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege vor." Noch im Ecce homo von 1888 dankt Nietzsche Wagnern für seine Hilfe, die er ihm im Streit mit Wilamowitz, erschienen im Juni in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, hatte angedeihen lassen (Janz I, 483 f.): So sehr der Verkehr mit Richard Wagner – und nicht zu vergessen auch der mit Frau Cosima – in Tribschen Nietzsche "Flügel verliehen" hatte, so hatte das vor allem dazu geführt, daß er nun zwischen allen Stühlen saß. Mit seiner reichen Begabung, die ja schon Ritschl hervorgehoben hatte, stellte er sich den jeweiligen Anforderungen zur Verfügung, ohne von der Wissenschaft in Form der Philologie noch von der "Kunst" im Sinne Wagners, aber auch nicht einmal von der Philosophie Schopenhauers wirklich "befriedigt", befriedet zu sein. Macht man es sich nicht vielleicht zu leicht, eine solche Weise des unbedingten Strebens, wie es bei Nietzsche zum Ausdruck kommt, und das deshalb zwangsläufig ins "Unzeitgemäße" gerät, als "Romantizismus" zu verunglimpfen?
Bayreuth
Im Frühjahr 1872 war Richard Wagner bereits nach Bayreuth abgegangen, unter Zurücklassung seiner Frau Cosima (sie hatten August 1870 während der kriegsbedingten Abwesenheit Nietzsches geheiratet) und der Kinder, vom 25.-27. April besuchte Nietzsche – noch ohne Kenntnis des Angriffs von Wilamowitz – letztmalig Tribschen und half Cosima beim Zusammenpacken. Er berichtet an Carl von Gersdorff: "Vorigen Sonnabend war trauriger und tiefbewegter Abschied von Tribschen. Tribschen hat nun aufgehört: wie unter lauter Trümmern gingen wir herum, die Rührung lag überall, in der Luft, in den Wolken, der Hund fraß nicht, die Dienerfamilie war, wenn man mit ihr redete, in beständigem Schluchzen. Wir packten Manuskripte, Briefe und Bücher zusammen – ach es war so trostlos! Diese drei Jahre, die ich in der Nähe von Tribschen verbrachte, in denen ich 23 Besuche dort gemacht habe – was bedeuten sie für mich! Fehlten sie mir, was wäre ich! Ich bin glücklich, in meinem Buche [der Geburt der Tragödie] mir selbst jene Tribschener Welt petrifiziert zu haben." Für den 22. Mai 1872, Wagners 59. Geburtstag, hatten sich Nietzsche und Rohde in Bayreuth zur Grundsteinlegung für das Festspielhaus verabredet – trotz völligen Vorausverkaufs aller 700 Plätze der Festaufführung waren für sie auf Veranlassung Wagners "auf das Bestimmteste zwei Plätze" reserviert worden ("Die zwei 'Wagnerischen' Professoren dürfen nicht fehlen." – Briefwechsel mit Rohde, S. 311, 4. Mai). Nun aber reagierte – bei all diesen Erregungen und Belastungen und angesichts der Konstitution Nietzsches kein Wunder – sein Körper mit einer Gürtelrose, er aber schreibt an Rohde am 12. Mai: "Zwar bin ich etwas krank, im Besitze einer ‚Gürtelrose‘ im Nacken: ich hoffe aber, daß zwischen Hautaffektion und Gehirnfunktion zur rechten Zeit Friede geschlossen wird: denn ich muß nach Bayreuth, trotz cingulum."
Bei der zweiten Orchesterprobe zur Festaufführung am 20. Mai lernten die beiden Malwida von Meysenbug kennen, die Nietzsche Zeit seines Lebens eine mütterlich-treue Freundin bleiben sollte. Nietzsche konnte sich noch einmal der Anwesenheit seiner weiteren alten Freunde, Gustav Krug und Carl von Gersdorff erfreuen, dann kam am 22. Mai nach der Grundsteinlegung Beethovens 9. Symphonie im Bayreuther Markgrafen-Theater zur Aufführung, Wagner dirigierte. Nach dem Bericht von Janz (I, 460) "mag es in jenen Tagen gewesen sein, daß Nietzsche sich in seinem Glücksüberschwang in Improvisationen am Klavier erging, nicht zu Wagners Vergnügen, wie Malwida v. Meysenbug überliefert. Wagner habe dem Spiel mit der hämischen (und unter Musikern vernichtenden) Glosse: ‚Nein, Nietzsche, Sie spielen zu gut für einen Professor‘ ein Ende gemacht. Sie selber empfand es als ein ‚wahrhaft wundervolles Klavierspiel, meist freie Improvisation.‘" Wagner selbst, der diese Sache sicherlich nicht so bedeutungsvoll gesehen hatte, schrieb am 12. Juni 1872 an Nietzsche aus Bayreuth: "Was wir von Ihnen erwarten, kann nur die Aufgabe eines ganzen Lebens sein, und zwar des Lebens eines Mannes, wie er uns auf das höchste not tut, und als welchen Sie all denen sich ankündigen, welche aus dem edelsten Quelle des deutschen Geistes, dem tiefsinnigen Ernste in allem, wohin er sich versenkt, Aufschluß und Weisung darüber verlangen, welcher Art die deutsche Bildung sein müsse, wenn sie der wiedererstandenen Nation zu ihren edelsten Zielen verhelfen soll." Dann machte er sich trotz ständigen Geldmangels vor allem daran, die Fertigstellung seiner eigenen "bescheidenen Bleibe" voranzutreiben, jenes "Wahnfried", wo sein Wähnen Frieden fand ... - unten ein Foto des heutigen Aussehens der Villa Wahnfried, heute Richard-Wagner-Museum.
Im nächsten Jahr gibt Wagner Nietzsche Gelegenheit, nun endlich auch konkret nach Außen zu wirken: Er beauftragt ihn, in seinem, Wagners und der
Bayreuth-Vereine Namen wegen der Geldnot beim Bau des Festspielhauses – ein nicht geringer Teil der dazu vorgesehen Beträge steckte schließlich in der obigen Bleibe des Meisters ... – einen Aufruf an alle Deutschen zu verfassen, um auf diese Weise weitere Mittel zu beschaffen. Am 18. Okt. 1873 schreibt Nietzsche dazu an Rohde (Briefwechsel S. 416 ff. ): Mahnruf an die Deutschen (1873) , KSA 1, S. 895 f. ... Könnt ihr irgend einen Moment aus der Geschichte unserer Kunst nennen, in dem wichtigere Probleme zur Lösung hingestellt und reicherer Anlass zu fruchtbaren Erfahrungen geboten wurde als jetzt, wo der von Richard Wagner mit dem Namen "Kunstwerk der Zukunft" bezeichnete Gedanke leibhafte und sichtbare Gegenwart werden soll? Was für eine Bewegung der Gedanken, Handlungen, Hoffnungen und Begabungen damit eingeleitet wird, dass vor den Augen mitwissender Vertreter des deutschen Volkes der viergethürmte Nibelungen-Riesenbau nach dem allein von seinem Schöpfer zu erlernenden Rhythmus sich aus dem Boden hebt, welche Bewegung in die fernste fruchtbringendste, hoffnungsreichste Weite hinaus – wer möchte kühn genug sein, hier auch nur ahnen zu wollen! ... ehrwürdig und heilbringend wird der Deutsche erst dann den anderen Nationen erscheinen, wenn er gezeigt hat, dass er furchtbar ist und es doch durch Anspannung seiner höchsten und edelsten Kunst- und Culturkräfte vergessen machen will, dass er furchtbar war. Die Differenz in der Motivlage zu Wagner springt ins Auge, und so ist es kein Wunder, daß dieser Entwurf des Aufrufs für Bayreuth von den versammelten Patronen abgelehnt wurde. Die Motivmischung bei Wagner und Nietzsche überschneidet sich zwar vielfältig, entscheidend ist aber die unterschiedliche Priorität: Aus dem Genie Wagners drängt das Werk in die Wirklichkeit, verbunden mit dem notwendigen Ehrgeiz des Künstlers, zu diesem Zwecke leiht er sich die passenden Umhänge aus den jeweils herrschenden Zeitströmungen, von Jesus über Feuerbach zu Schopenhauer; und so kann er mit dem Parsifal am Gegenteil dessen enden, was er einst mit dem "Siegfried" wollte. Für Nietzsche hingegen liegt die sich bis zu seinem Ende stets gleichbleibende Betonung auf dem paradox-ethischen Postulat, mittels des apollinischen ästhetischen "Kunstwerks der Zukunft" die unterstellte dionysische Roh- und Wildheit der deutschen Instinkte für Europa nicht furcht-, sondern fruchtbar zu machen – die Quintessenz der "Geburt der Tragödie".
Brahms – Nietzsche und Wagner: Nietzsche berichtet am 14. Juni 1874 an Rohde über ein Konzert des Basler Gesangvereins vom 9. Juni im Basler Münster, an dem das Triumphlied von Brahms (1871 aus Anlaß des deutschen Sieges komponiert) zur Aufführung gelangte: "In der letzten Zeit war Dein Landsmann Brahms hier, und ich habe viel von ihm gehört, vor allem sein Triumphlied, das er selbst dirigierte. Es war mir eine der schwersten ästhetischen Gewissens-Proben, mich mit Brahms auseinanderzusetzen; ich habe jetzt ein Meinungchen über diesen Mann. Doch noch sehr schüchtern." (Briefwechsel mit Rohde, S. 464) Nietzsche mußte das Brahms’sche Triumphlied doch einen starken Eindruck gemacht haben, denn bereits am 12. Juli fuhr er mit Romundt eigens zu einer erneuten Aufführung des Werkes in Zürich – und er beschaffte sich einen Klavierauszug. Dieses Konzert wurde übrigens von dem Kapellmeister Friedrich Hegar dirigiert, dem Nietzsche ebenfalls seine "gegen den süßlichen Sachsen" (= Schumann) komponierte Manfred-Meditation zuschickte, nachdem er ihn anläßlich der "Treppenmusik", bei der jener mitwirkte, persönlich kennengelernt hatte. Nietzsche war natürlich bewußt, daß Wagner Brahms aus tiefstem Herzen ablehnte und – wie von den meisten anderen zeitgenössischen Komponisten auch – nichts hören wollte. Trotzdem nahm er bei seinem Besuch vom 4.-15. August des Jahre 1874 in Bayreuth die Noten zum Triumphlied mit. Hören Sie einen kleinen Ausschnitt (345 KB) des Triumphliedes Lassen wir hier Janz berichten (Janz I, S. 585 f.): Über die Erlebnisse dieser elf Tage gibt es verschiedene Memoirenberichte, die als authentische Darstellungen des Hergangs zitiert werden. Ohne auf Einzelheiten darin einzugehen, können wir ihnen aber als grundsätzliche Begebenheit entnehmen, daß Nietzsche beharrlich versuchte, mit dem Klavierauszug des Triumphliedes Wagner an Brahms heranzuführen, und daß Wagner mit Wut und Toben auf dieses Ansinnen reagiert habe. Nur der Diplomatie, Güte und Liebe Cosimas gelang es, den offenen Bruch im Streit zu vermeiden. Die Enttäuschungen waren beidseitig und haben, mindestens für Wagner, ihre Ursachen nicht nur in dem Brahms-Zwischenfall. Nietzsche [der krank angereist war] hatte sich rasch erholt, und schon für den Abend des 5. August kann Cosima notieren: "Wir verleben einen heiteren Abend zusammen." Am folgenden Tag dreht sich das Gespräch zunächst um Nietzsches Verlegersorgen, die Angriffe der Presse auf ihn im Gefolge des Strauß, dann um Universitäts- und Literatur-Zustände in Deutschland, so "daß Herr Du-Bois-Reymond in Berlin den Vorschlag zu einer Akademie gemacht habe, worin Goethe als die deutsche Sprache verderbend, Lessing gegenüber, geschildert wird." Man findet sich auch in Bedenken gegenüber dem preußisch geführten Deutschland Bismarcks. Am Abend spielt dann Wagner die Rheintöchter-Szene aus dem Schluß der Götterdämmerung, und da hinein platzt nun Nietzsche mit dem Triumphlied von Brahms! Viel ungeschickter hätte er es nicht anstellen können. "Richard lacht laut auf, daß Musik auf das Wort ‚Gerechtigkeit‘ gemacht würde." Dann schweigt man einen Tag über die Sache. Samstag den 8. August kommt es zur Entscheidung. "Nachmittags spielen wir" ('wir': sicher Cosima, aber wer noch? Wagner, Nietzsche oder Paul Klindworth, der am Klavierauszug der Götterdämmerung arbeitet?) "das Triumphlied von Brahms, großer Schrecken über die Dürftigkeit dieser uns selbst von Freund Nietzsche gerühmten Komposition, Händel, Mendelssohn und Schumann in Leder gewickelt; Richard wird sehr böse und spricht von seiner Sehnsucht, etwas zu finden in der Musik, auch von der Überlegenheit des Christus (von Liszt), wo doch ein Gestaltungstrieb, eine Empfindung, welche zur Empfindung spreche, vorhanden sei." Abends läßt Wagner aus Opern von Auber spielen und zum Schluß seinen Kaisermarsch. Damit scheint die Diskussion um Brahms beendet. Zum Oratorium "Christus" von Franz Liszt: Der mit Wagner bereits in Zürich in großen Zügen besprochene Plan des Werkes geht auf das Jahr 1853 zurück; ausgeführt wurde die Komposition in den Jahren 1855-1866. Eine denkwürdige Aufführung des 1. Teiles, des Weihnachtsoratoriums, fand am Neujahrsabend 1871 in Wien statt: Es dirigierte Anton Rubinstein, Anton Bruckner schlug die Orgel, es sang der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde. Hören Sie einen Ausschnitt aus Teil 1, Nr. 3, dem Stabat Mater speciosa (1,5 MB, WMA-File). Aus einer Aufnahme von Brillant Classics, Leitung: Helmuth Rilling, RSO Stuttgart, Gächinger Kantorei, Krakauer Kammerchor. Nietzsche ist noch eine Woche in Bayreuth und reist am 15. ab, "nachdem er Richard manche schwere Stunde verursacht. Unter anderem behauptete er, keine Freude an der deutschen Sprache zu finden, lieber lateinisch zu sprechen usw." Es ist also nicht nur das Triumphlied von Brahms, sondern der Blick in seine unheilvolle innere Zerrissenheit, den er den Bayreuthern gewährt, was hier zu ernsten Bedenken Anlaß gab – Bedenken, nicht "Bruch", denn mit tiefem Mitempfinden nehmen Wagner und Cosima in den folgenden Tagen den Bericht Overbecks über die Vereinsamung ihres Freundes im Kreise seiner Fachkollegen entgegen. "Der ganze Bann der Universität liegt auf ihm." Davon, daß Nietzsche bei diesem Besuch seine Kompositionen gespielt habe, erwähnt Cosima im Tagebuch nichts. Erst 15 Jahre später schreibt sie an Felix Mottl: "Ein Hymnus an die Freundschaft (s. Musik-Seite) hat eigentlich den Bruch begonnen. Der kam nach Bayreuth und war sehr traurig..." Doch, wann "kam" dieser Hymnus nach Bayreuth? 1874 war er noch nicht ausgeformt. Es wäre denkbar, daß die endgültige Gestalt, welche die Komposition im folgenden Herbst erhielt, auf Kritik und Ratschlägen Wagners aufgrund der Entwurffassung beruht. Noch im November 1876 trifft man sich in Sorrent, mindestens von Wagners Seite in alter Herzlichkeit. Von "Bruch" ist da noch nichts zu spüren, höchstens von Besorgtheit, wie jetzt, August 1874 schon... Der "Bruch" beginnt mit Nietzsches Absage an die Philosophie Schopenhauers und seinem Menschliches - Allzumenschliches, davor liegt höchstens eine Entfremdung oder "Befremdung". Dagegen schloß sich die Enttäuschung auf seiten Nietzsches vorwiegend an das Brahms-Erlebnis an. Plötzlich stand der hehre "Meister" aller Hoheit und "Größe" entblößt als kleiner eifersüchtiger Despot da, nicht stark genug, das Können eines anderen zu würdigen, ohne für die eigene Geltung fürchten zu müssen. Was auch hier vorgefallen sein mag, Nietzsche erlebte in diesem Sommer 1874 das, wovor er später (im Zarathustra "Von der Schenkenden Tugend") seine Adepten warnt: "Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage." – Bayreuth
Neben dem soeben beschriebenen Besuch war Nietzsche auch schon im April 1873 bei Wagners zu Gast gewesen mit einer Abhandlung über die Vorsokratiker im Gepäck, die unvollendet bleiben sollte. An dieser Nichtvollendung war Wagner nicht ganz unschuldig, da er ihn in den Diskussionen auf aktuelle Zeitthemen hinwies, insbesondere auf David Friedrich Strauß und dessen Buch "Der alte und der neue Glaube", das er nach den Worten Cosimas "entsetzlich seicht" fand. Wagner hatte mit Strauß noch eine alte Rechnung offen – Strauß hatte sich 1868 öffentlich auf die Seite des wegen Wagner beurlaubten Komponisten und Dirigenten Franz Lachner gestellt. Nietzsche unterzog sich der ihm damit gestellten Aufgabe und begann die erste seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller (erschienen 8.8.1873). Es folgten – von geplanten 13 (!) – weitere drei; diese dienten allerdings weniger Wagner als der Selbstfindung Nietzsches: – Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) In diesen Tagen der Ersten Unzeitgemäßen sind noch zwei Ereignisse festzuhalten: Nietzsche lernte Dr. Paul Reé kennen, dessen noch im Sorrenter Abschnitt sowie im Zusammenhang mit Lou Salome zu gedenken sein wird; und er erlebte seinen ersten schweren Augenanfall (Sehkraftverlust, gegen den mit Atropin angegangen wurde). Gersdorff, selbst erkrankt, erstellte nach Nietzsches Diktat das Druckmanuskript für den Strauß. Nietzsche muß sich noch oft in dieser Weise helfen lassen. Auch beginnt er sich (trotz seines Augenleidens) jetzt mit naturwissenschaftlicher Literatur zu beschäftigen (Physik, Chemie, Mathematik) und stellt eine erste "Zeitatomlehre" auf, mit der er Atomistik und Empfindung verbinden will, in welcher allein Materie gegeben sei (s. meinen Artikel Feuerbach und Nietzsche, Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit) – und das Dasein als Philologie-Professor wird ihm immer unerträglicher ... Wagner selbst läßt gleichzeitig mit dem Festspielhaus die Villa Wahnfried erbauen (kein Wunder, daß das Geld hinten und vorne nicht reicht – man beachte auch sein "Hauswesen", wie es Elisabeth Nietzsche schildert, die in diesem Jahr zeitweise die "Leitung" desselben wegen der Konzertreisetätigkeit der Wagners übernimmt: Die zurückbleibenden Kinder haben nach den Worten Cosimas "... ihre Erzieherin...; die Haushälterin, ihre Schwester, Kuni..., der Gärtner, der Knecht, alles vortreffliche Leute ..." – nach Janz I, 605) und bezieht es im April 1874.
In diesen Jahren 1874/75 beginnen die gesundheitlichen Störungen bei Nietzsche ein derartiges Ausmaß anzunehmen, daß er häufig tageweise das Bett hüten und sich Kuren unterziehen muß – Erbrechen, Kopfschmerzen und Sehstörungen lassen ihn sich abgesehen von den Freunden (Overbeck, Gersdorff und Rohde) immer mehr zurückziehen – auch kommt die Schwester nach Basel, um sich um seinen Hausstand zu bekümmern und die Rolle der Vorleserin zu übernehmen. An Gersdorff: "Ich habe eine sehr schlimme Zeit hinter mir und vielleicht eine noch schlimmere vor mir. Der Magen war nicht zu bändigen, ... mehrtägige Kopfschmerzen der heftigsten Art, in wenigen Tagen wieder kommend, stundenlanges Erbrechen ..., kurz die Maschine schien in Stücke gehen zu wollen, und ich will nicht leugnen, einige Male gewünscht zu haben, sie wäre es ..." (Janz I, 611) Unter diesen Umständen war nicht daran zu denken, zu den Ring-Proben für die ersten Festspiele im Sommer 1875 nach Bayreuth zu gehen – um so begieriger nimmt er die Berichte seiner Freunde davon auf. Im November 1875 beginnt das neue Semester in Basel; neben der Tätigkeit am Pädagogium hat Nietzsche wieder Zulauf an der Universität, im Hauptkolleg 10 Mann, im Nebenkolleg 6 Mann und 10 Mann im Seminar, darunter Heinrich Köselitz, unter dem Namen "Peter Gast" Nietzsches getreuer Musikus und Anfertiger vieler Reinschriften für den Druck von Nietzsches Werken; auf ihn geht auch die Fertigstellung der Vierten Unzeitgemäßen zurück, zu der er Nietzsche drängte, so daß er diese 1876 kurz vor den Festspielen Richard Wagner übersenden lassen konnte. Wagner, von den Vorbereitungen überlastet, konnte diese Schrift sicher nur überfliegen, reagierte aber sofort und ganz anders, als Nietzsche befürchtete, den schwere Bedenken plagten, wie dort sein Buch wohl aufgenommen würde: "Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?" Wagner lud Nietzsche schon zu den Proben ein, und schickte die Schrift sogar an Ludwig II. (Janz I, 714) "Geliebter Freund, ... es geht mir wieder, seit 3-4 Wochen, miserabel, und ich muß sehen, mich bis und vor allem durch Bayreuth durchzuschlagen.– Von Oktober an gehe ich nach Italien: man gab mir, anständigst und achtungsvoll, einen Urlaub auf Ein Jahr.–", so schreibt Nietzsche am 7. Juli 1876 aus Basel an Rohde (Briefwechsel S. 529).
Unter diesen Umständen kommt nur unter Qualen Nietzsche Ende Juli nach Bayreuth und schreibt schon wenige Tage später an seine Schwester, nachdem er zunächst unter heftigsten Kopfschmerzen litt, dann aber die Proben zu Götterdämmerung und Walküre gesehen hatte: "... es geht nicht mit mir ... Fortwährender Kopfschmerz ... alles Sehen unnmöglich! Ich sehne mich weg ... Mir graut vor jedem dieser langen Kunstabende ... Ich habe es ganz satt. Auch zur ersten Vorstellung will ich nicht da sein." (Janz I, 715) Nietzsche reist ab nach Klingenbrunn. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig, vordergründig ist es vor allem der schlechte Gesundheitszustand. Zwei weitere ausschlaggebende Momente sind aber vor allem: – Nietzsche hatte sich innerlich von Wagner und seiner "Kunst" bereits weit entfernt, stand der Person und dem Werk mindestens seit 1874 sehr kritisch gegenüber. – Wagner schenkte Nietzsche in der Zeit seiner Anwesenheit, obwohl der ihm doch seinen "Richard Wagner in Bayreuth" gerade erst überbracht hatte, kaum Beachtung, auch Cosima nicht; man war beschäftigt mit der sogenannten "guten Gesellschaft", die nun reichlich in Bayreuth anwesend war, in Wahnfried selbst und bei Cosima dominierte ihr Vater Franz Liszt, der die Festspiele mit seine Anwesenheit beehrte – wie groß war da der Unterschied für Nietzsche zur Zeit mit den Wagners in Tribschen!
Dem allen entzog er sich zunächst durch die Flucht in die Einsamkeit des Bayer. Waldes, während in Bayreuth die Generalproben des Ringes als Privataufführungen für Ludwig II. abliefen, an denen niemand anders teilnehmen durfte.
Am selben Tag wie der deutsche Kaiser Wilhelm I., am 12. August traf auch Nietzsche wieder in Bayreuth ein, und am 13. ging die erste offizielle Aufführung der Festspiele, das Rheingold in Szene. Lassen wir Wilhelm Marr berichten, was er in der Gartenlaube 1876 veröffentlichte (Janz I, 720 ff.): "Ich darf sagen, daß ... eine gesangliche und dramatische Vollendung bei den Darstellern in Erscheinung trat, wie ich sie nie zuvor gesehen und gehört habe ... Wagner wird glücklich gewesen sein ob seines Erfolges? – Nein. Und zwar leider nicht mit Unrecht. ... so darf ich doch nicht verschweigen, daß die dekorative Inszene-Setzung ... manches, ja –, vieles zu wünschen übrig läßt ... Die Maschinerie des Ganzen ging matt und zerstückelt vonstatten... Mit einem Worte, es >haperte< oft sehr bedenklich ... Die Stimmung in den artistischen Kreisen war denn auch nach der Vorstellung sehr wenig exklusiv mehr ... Als man Wagner am Schlusse herausrief, erschien er nicht ... zwei Kaiser und diverse andere Monarchen und Notabilitäten warteten in der >Fürstengalerie< auf das Erscheinen des Meisters. Aber Richard Wagner kam nicht ... Ich kann mich lebhaft in die Stimmung eines so heißblütigen Mannes, wie Wagner, hineindenken, der als musikalischer und dichterischer Triumphator eine so starke Verlustliste bei der dekorativen Waffengattung zu registrieren hat. Ganz Bayreuth war bis Mitternacht glänzend und geschmackvoll illuminiert ... Raketen stiegen zur Feier des Tages in die Höhe ... Wotan-Wagner aber, der dreißig Jahre seines Lebens an das Werden dieser Götternacht gesetzt hatte, konnte wohl mürrisch und verstimmt sein, wo die alten nordischen Götter von – Theaterarbeitern um ihre Illusionskraft gebracht werden können.«
Das war zu Rheingold gesagt; und zur Walküre:. »Der dämonische Gesang der Walküren ... , regt ... unsere Phantasie so gewaltig auf, daß wir ganz vergessen würden, im Theater zu sein, wenn nicht ... ganz miserable Pappfiguren als wildes Heer in der >Wolfsschlucht< vorüberzögen, eine Szene, die in München durch ... verkleidete Reiter zehnmal besser dargestellt wurde ... Ebenso war der >Feuerzauber< am Schluß ziemlich bescheiden.« Und zur "Gesellschaft": »Flüchtig sah und sprach ich gestern Abend Liszt im Theater. Es ist erstaunlich, wie dieser grand seigneur der Kunst, je älter er wird – schöner wird ... Daß mit Liszt zugleich Scharen von Klavierjünglingen und -Jungfrauen nach Bayreuth geströmt sind, versteht sich von selbst ... Man spricht jeden an und wird von jedem angesprochen. Die Großherzöge von Mecklenburg und Weimar, die Herzöge von Anhalt und Meiningen promenieren und plaudern unter der Menge und mit ihr. Die schönen Frauen schimmern wie Blumen, obgleich man nicht leugnen kann, es sind eine Menge welker Lilien mit künstlichen Rosen gefärbt darunter.« »Den Mittelpunkt desselben bildet natürlich Richard Wagner, obgleich er, verhindert durch seine artistische Tätigkeit, welche ihn fast unausgesetzt in Anspruch nimmt, nicht so individuell scharf hervortritt, wie man wohl zu glauben versucht ist ... Das Amt des >Repräsentierens< hat Frau Cosima ... übernommen ... Sie hat ein merkwürdiges Talent, ein echt französisches Talent, jedermann irgend ein paar Worte zu sagen, über die man sich freut, und ein Dutzend Gespräche auf einmal zu leiten. Aber man sieht es ihr an, daß sie ihr eigentliches Element in den Kreisen der haute volée lieber erblickt, als in den Künstlerkreisen, und daß sie des Weihrauchs nicht entbehren kann. Man ist nicht ungalant, wenn man behauptet, sie sei auf ihren Mann mehr eitel als stolz ... Franz Liszt, untrennbar von den beiden Genannten, bildet gleichwohl einen Kontrast zu seiner Tochter ... Auch ihm ist der >Hofsonnenschein< Bedürfnis. Er ist ein musikalischer Tasso, der ohne platonische Leonoren nicht existieren kann ...«
Tschaikoskij, der ebenfalls anwesend war, beschrieb die Beschwerlichkeiten der ersten Festspiele, die sich insbesondere durch spartanische Quartiere, eine schändliche Bewirtung und aus völlig ungenügenden Verkehrsverbindungen ergaben, so: Diese Berichte möchte ich zum Anlass nehmen, hier auch gleich allerdings etwas später (1891) verfasste Aufzeichnungen von Mark Twain zu seinem Bayreuth-Erlebnis einzufügen, da diese die "Bayreuther Umstände" so humorvoll wie zeitlos wiedergeben und die Problematik der Verwirklichung des Wagnerschen Festspielgedankens auf ihre Weise widerspiegeln. Und nicht zuletzt gedenkt Twain auch meiner Heimatstadt Nürnberg dabei, über welche er nach Bayreuth reiste, und so mag dieser Beitrag - für dessen Übersetzung ich Frau Schwägermann (Edmonton/Kanada) herzlich danke - dem Leser das eine oder andere Lächeln ablocken. Mark Twain über Bayreuth (und Nürnberg) im Jahr 1891 Es ist erstaunlich, daß Nietzsche unter diesen Umständen es ganze zwei Wochen in Bayreuth aushielt und erst am 27. August in Begleitung von Rée abreiste, ohne Wagners noch einmal begegnet zu sein. Er hält in Basel noch Unterricht am Pädagogium, bis er entsprechend der Beurlaubung im Oktober nach Sorrent geht. Lesen Sie, was die Journalistin Sophie Rützow aus den Berichten der letzten überlebenden Zeitgenossen Wagners im Jahre 1943 über Nietzsches Anwesenheit in Bayreuth berichtet: Legendenbildung in Bayreuth
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Das Ende in Sorrent Von jenem stillen Aufenthalte da unten habe ich eine Art Sehnsucht und Aberglauben zurückbehalten, wie als ob ich dort, wenn auch nur ein paar Augenblicke, tiefer aufgeatmet hätte als irgendwo sonst im Leben. (Nietzsche an Malwida, 12.5.1887) Noch bevor sich Nietzsche 1876 zu den Bayreuther Festspielen begab, hatte ihm Malwida von Meysenbug am 30. April des Jahres geschrieben, die sich um die Gesundheit von Nietzsches Schüler Albert Brenner kümmern wollte: »Ich bin bereit, um eine edle Individualität zu retten, das Opfer zu bringen, Rom zu verlassen und einen kleineren Ort zu beziehen, wahrscheinlich Fano am adriatischen Meer ... mit gesundem Klima, herrlichen Seebädern, primitiv billig... Und nun kommt der zweite Punkt. Nicht ihm allein, auch Ihnen möchte ich diese Heimat, wenigstens für ein Jahr lang bieten. Sie müssen im nächsten Winter von Basel fort! Sie müssen sich ausruhen unter einem milderen Himmel, unter sympathischen Menschen, wo Sie frei denken, reden und schaffen können, was Ihre Seele füllt, und wo wahre verstehende Liebe Sie umgibt. Dies wäre hier der Fall ... Was mich aber bedenklich macht, ist dieses: daß es eben nicht Rom wäre, was ich Ihnen zu bieten hätte ... Freilich Ruhe wäre da mehr, als hier, und das Klima würde Ihnen vielleicht auch zusagender sein, da es, des Meeres wegen, frischer und anregender ist – aber es wären eben nicht die Eindrücke von Rom, es wäre nicht der große Zug, der hier durch alles geht, und den man gleichsam mit der Luft eintrinkt.« Am 11. Mai antwortete Nietzsche bereits: »Später will ich Ihnen sagen, wie zur rechten Zeit dies Wort von Ihnen gesprochen wurde und, wie gefährlich mein Zustand ohne dieses Wort geworden sein würde: heute melde ich Ihnen nur: daß ich kommen werde, um in Fano mit Ihnen zusammen ein Jahr zu leben. Ich sprach mit dem Präsidenten der hiesigen Universitäts-Kuratel über die Möglichkeit eines Urlaubs vom Oktober 1876-7; die definitive Beantwortung meiner Anfrage kann erst in 14 Tagen gegeben werden, aber daß man mir die volle Freiheit dazu geben wird, steht völlig sicher: darauf dürfen Sie sich verlassen! ... Ich dachte diese Tage fast immer an >Fanum Fortunae<: für mich soll es ein >Glückstempel< sein!« Schließlich hatten sich Malwida und Nietzsche für die Gegend um Neapel entschieden, wo auch Wagner für kürzere Zeit hinkommen wollte. An Freiherrn v. Seydlitz schrieb Nietzsche am 24. September: »Sie gehen am 1. Oktober nach Davos, und ich, am gleichen Tage, nach Italien, um in Sorrent meine Gesundheit wieder zu finden ... ebenfalls begleiten mich ein Freund (Paul Rée!) und ein Schüler (Albert Brenner) dahin ... es wird eine Art Kloster für freiere Geister. Von dem erwähnten Freunde will ich nicht verschweigen, daß er der Verfasser eines anonymen sehr merkwürdigen Buches ist >Psychologische Beobachtungen< ... wir bleiben ungefähr ein Jahr in Sorrent. Dann kehre ich nach Basel zurück, es sei denn, daß ich irgendwo mein Kloster, ich meine >die Schule der Erzieher< (wo diese sich selbst erziehen) in höherem Stile aufbaue.« Daß auch Paul Rée mit nach Sorrent gehen würde, teilt er Malwida erst zwei Tage später mit: »Wissen Sie, daß Dr. Rée mich begleiten will, im Vertrauen darauf, daß es Ihnen so recht ist? Ich habe an seinem überaus klaren Kopfe ebenso wie an seiner rücksichtsvollen, wahrhaft freundschaftlichen Seele die größte Freude ... Ihre Pläne sollen natürlich, wenn dies nicht angeht, in keiner Weise gestört werden.« Über ihre Ankunft am 26. Oktober in Sorrent berichtet Malwida an ihre Pflegetochter Olga: »Vorgestern abend fuhr ich mit meinen drei Herren am Posilipo hin; es war eine göttliche Beleuchtung, wirklich feenhaft, über dem Vesuv standen majestätisch Gewitterwolken, aus deren Flammen und düsterem Schwarzrot ein Regenbogen aufstieg, die Stadt glänzte, als wäre sie aus purem Gold gebaut und auf der anderen Seite lag das Meer tiefblau ... Es war so wunderbar, daß die Herren wie trunken vor Entzücken waren. Nietzsche habe ich niemals so lebhaft gesehen. Er lachte vor lauter Freude. Es wurde nach reiflichem Rat beschlossen, nach Sorrent zu gehen, und so zogen wir gestern morgen ab, bei herrlichem Wetter hier ein, und gingen gleich in die am Wege liegende Pension allemande, Villa Rubinacci, die ich neulich schon gesehen hatte, und wo es den Herren so gut gefiel, daß sie gleich zu bleiben beschlossen. Es ist auch hier sehr schön und insofern bequem, als die Herren ganz ihr besonderes Revier haben, so daß ich ganz ungeniert bin. Bei Wagners, wo wir abends waren, waren sie böse, daß wir nicht ein Nebenhaus ihres Hotels, das volle Sonne hat, genommen haben, aber es ist teurer dort und weniger unabhängig. Hier sind wir unsere eigenen Herren ... Auf allen Seiten sind Terrassen. Die Fenster des Salons haben gerade gegenüber Neapel im Sonnenglanz, mein geliebtes Ischia und den Vesuv. Vor dem Haus ist ein wahrer Wald von Oliven und Orangenbäumen, der einen grünen Vordergrund vor dem Gemälde bildet.« Janz (Band I, 745 f.) berichtet über dieses letzte Zusammensein von Nietzsche und Wagner: "Man hatte also am Abend des Ankunftstages (27. Oktober) noch die Aufwartung bei Wagners gemacht, die seit dem 5. Oktober dort waren und bis zum 7. November blieben, um dann zunächst nach Rom zu reisen. Der Despot in Wagner wollte es dabei erzwingen, daß Malwida mit ihnen gehe. Sie begleitete Wagners noch für zwei Tage bis Neapel, entzog sich aber dort am 9. der Unannehmlichkeit, »noch einmal zu hören, wie Wagner außer sich war«, indem sie das Lebewohl schrieb und »mit einem Strauß von Rosen, Orangen und Heliotrop« begleitete. Am 8. November vermerkt Rée in einem Brief an Nietzsches Mutter: »Wagners sind gestern abgereist, was insofern ganz gut ist, als man besonders Abends ungenierter ist und früh zu Bett kommt.« Es muß tatsächlich in den wenigen Tagen der sich überlagernden Aufenthalte zu lebhaftem gesellschaftlichem Verkehr gekommen sein, denn Brenner schreibt nach Hause: »... wir waren etwa ein halbdutzendmal bei ihnen zu Gaste. Sie waren alle hier mit ihren Kindern. Wagner war sehr vergnügt, spielte mit seinen Kindern und freute sich der schönen Gegend.« Nimmt man noch etwaige Gegenbesuche und gemeinsame Ausflüge hinzu, so bietet sich äußerlich das Bild wiederhergestellter Harmonie. Daß sie es aber im Tiefsten nicht war, dafür ist Nietzsches »beredtes Schweigen« in seinen Briefen ein unheimliches Zeugnis. Während er in der Tribschener Zeit und noch Jahre danach jedes Zusammentreffen mit Wagner, ja jedes erhaltene Lebenszeichen triumphierend nach allen Seiten mitteilt, enthält jetzt nur eine Postkarte an Marie Baumgartner die Sätze: »Wagners wohnen 5 Minuten von uns Hôtel Victoria«, und eine Karte an Overbeck. vom 11. November: »Wagners sind seit einigen Tagen fort nach Rom.« ... Und merkwürdig: auch Cosima breitet ein »beredtes Schweigen« über diese Begegnung. Sie hatte sich noch darauf vorbereitet, indem sie am 15. Oktober die IV. »Unzeitgemäße« wieder las. Am 27. notiert sie im Tagebuch: »Besuch von Malwida, Dr. Rée und unserm Freund Nietzsche, letzterer sehr angegriffen und mit seiner Gesundheit sehr beschäftigt«, dann aber verschwindet der Name des Freundes bis auf eine kurze Erwähnung. Im Vordergrund steht Malwida. Schon den folgenden Tag, Samstag 28. Oktober, heißt es: »Verkehr mit Malwida, deren Geburtstag heute ist«, und dann wieder am 30. Oktober: »Besuch bei Malwida.« Nietzsche war doch sicher auch zugegen, ist aber nicht mehr erwähnt. Am 31. Oktober feiert man »Malwidens Geburtstag mit einer Partie zu Esel zum Deserto«. Am 1. November notiert sie: »Abends besucht uns Dr. Rée welcher uns durch sein kaltes pointiertes Wesen nicht anspricht, bei näherer Betrachtung finden wir heraus, daß er Israelit sein muß.« Auch diesmal dürfte Nietzsche mit dabei gewesen sein. Nur am 2. November findet sich noch einmal der Name: »Den Abend verbringen wir mit unseren Freunden Malwida und Prof. Nietzsche.« Am 6. November »speist Malwida mit uns«, am 6., den Abend vor der Abreise, wird »mit Wehmut alles noch einmal betrachtet, mit Malwida den Abend zugebracht«. Am 7. verreist die Familie Wagner am Vormittag um 11 Uhr nach Neapel, von Malwida geleitet, denn nochmals sagt Cosima, »abends mit Malwida zugebracht«. Brenner ist überhaupt nie erwähnt, und auch für den Abschied von »Freund Nietzsche« findet sich kein Wort mehr. Man hatte sich auseinandergelebt." Robert Gutman schildert in seiner Biografie über Richard Wagner (Piper & Co Verlag, München 1970, S. 394 f.) das Ende dieser Freundschaft in Sorrent folgendermaßen: "Ende Oktober unternahmen sie ihren letzten gemeinsamen Spaziergang. Beim Anblick der Bucht und der Inseln, der seit der Antike bewundert wird, begann Wagner plötzlich über seinen Parsifal zu sprechen als einer eigenen religiösen Erfahrung, was umwerfend gewesen sein muß für jeden, der um seinen Atheismus wußte. Nietzsche kannte das Drama bereits – Cosima hatte ihm den Prosa-Entwurf Weihnachten 1869 vorgelesen und den »furchtbaren Eindruck« festgehalten, den es auf ihn machte, eine höchst zweideutige Beobachtung. Nietzsche hatte schon lange gesehen, welch großer Schauspieler sich in Wagner verbarg; aber in Sorrent entsetzte es ihn doch entdecken zu müssen, daß das Ausmaß dieses theatralischen Bedürfnisses so weit ging, daß er seine Dramen auch im Leben spielte. Und wenn Wagner seine Rolle so hingegeben vor einem alten Freund agierte; der sich sehr wohl an die Sarkasmen erinnern konnte, mit denen er Cosimas rührselige Anwandlungen von Frömmelei abtat – wo war dann Anfang und Ende des Posierens? Was Fürstin Wittgenstein seine »gottlose Gesinnung« nannte, war all seinen Freunden bekannt. Und wie unerträglich erschien dieser Frömmigkeit heuchelnde Wagner einem jungen Manne, der geistige Aufrichtigkeit als oberste Tugend bewunderte. Ein Philosoph kann nicht handeln – es gab für ihn nichts zu sagen. »Sie verstummen ja ganz, lieber Freund?« fragte Wagner. Die beiden begegneten sich nie wieder. [Von diesem "letzten Spaziergang" berichtet allerdings ausschließlich, und dies erst sehr spät, Elisabeth Nietzsche in ihrer Biografie über ihren Bruder, der ihr das erzählt habe – der Wahrheitsgehalt ist mithin mehr als fraglich ...] Nietzsche selbst notiert 1884 in seinem Nachlass (KSA 11, 250) zum Bruch mit Wagner: Ende 1877 hatten sie sich noch weiter entfremdet durch einen fast unglaublichen Zwischenfall. Im Oktober erdreistete sich Wagner, Nietzsches Arzt darauf hinzuweisen, daß der junge Mann im Grunde an den Auswirkungen übermäßiger Masturbation litte, und empfahl eine Wasserkur. Nietzsche wurde natürlich wütend, als er davon hörte. Westernhagen, der den Briefwechsel zwischen Wagner und Dr. Otto Eiser aus Frankfurt veröffentlicht hat, sah in Wagners Vorgehen liebevolles Besorgtsein; man könnte darin aber auch eine gräßliche Zerstörungslust sehen. Diese Briefe erklären weitgehend Nietzsches spätere Hinweise auf Wagners »Perfidien« und die »tödliche Beleidigung«."
Nach der Abreise Wagners spielte sich das Zusammenleben von Malwida, Nietzsche, Rée und Brenner, die von Malwidas Dienerin Trina betreut wurden, rasch ein. Brenner berichtet in Briefen an seine Angehörigen in Basel: »Wir wohnen etwas abseits von Sorrent, in dem Teile, in welchem nur Gärten und Villen und Gärtnerhäuser liegen. Dieser ganze Teil ist wie ein Kloster. Die Gassen sind eng und-werden durch zu beiden Seiten fortlaufende doppelt mannshohe Mauern gebildet, über welche sich Orangenbäume, Zypressen, Feigenbäume und Traubengirlanden erheben und den blauen Streif Himmel recht schön einfassen. Da die wenigen Häuser meistens innerhalb der Mauern liegen, so kommt man sich wie in einem Labyrinthe vor ... Wir selbst wohnen in einer >Villa Rubinacci< ... Ein kleiner Orangenhain trennt uns vom Meere: vom Haine aus muß man noch beinahe senkrecht hinuntersteigen, da Sorrent auf einem Felsen liegt . . . Wir haben zwei große Terrassen, die auf das Meer und die Berge gehen. Das Haus ist jedoch nicht nur verhältnismäßig, sondern überhaupt billig; nicht elegant ... Um 8 Uhr trinken Nietzsche, Dr. Rée und ich den Kaffee. Um 1 Uhr essen wir und dann wieder um 7 Uhr und gehen zeitig zu Bette.« »Die Lebensweise ist ... immer dieselbe: Morgens 7 1/2 Frühstück, 9-10 diktiert Nietzsche (aber keine neue Schrift), 10-11 Spaziergang, 11-19 Pandekten. Bis 3 Uhr Mittagessen mit Siesta. Bis 5 Uhr spazieren, oder wenn es regnet, arbeiten.« Malwida berichtet in ihrem >Lebensabend einer Idealistin<: »Wagners schieden Ende November, und nun begannen erst recht unsere Lese-Abende. Wir hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von Büchern mit, aber das Schönste unter dem Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vorlesungen von Jacob Burckhardt über griechische Kultur ... von einem Schüler Nietzsches geschrieben ... Nietzsche gab dazu mündliche Kommentare, und gewiß hat kaum je eine herrlichere und vollkommenere Darlegung dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit stattgefunden, als hier, schriftlich und mündlich ... Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts beendet hatten, lasen wir Herodot und Thukydides. ... Am Morgen des ersten Januars 1877 machte ich allein mit Nietzsche einen schönen Spaziergang längs des Meeres und wir setzten uns auf einen Felsvorsprung ... Es war schön wie ein Frühlingsmorgen ... Wir waren beide in der friedlich harmonischesten Stimmung, ... und wir kamen schließlich überein, daß das wahre Ziel des Lebens sein müsse, nach Weisheit zu streben. Nietzsche sagte, daß dem rechten Menschen alles dazu dienen müsse, auch das Leiden, und daß er insofern auch das letzte leidenvolle Jahr seines Lebens segne ... Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebenswürdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht. Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen.« Unter diesen so angenehmen äußerlichen Umständen arbeiteten alle vier an literarischen Projekten: Malwida schrieb an einem Roman, Brenner versuchte sich an Novellen; Nietzsche selbst kündigt Rées dort entstehende Schrift seinem Verleger Schmeitzner so an: "Sie bekommen, wie ich aus bester Überzeugung sagen muß, etwas höchst Wertvolles in Ihren Verlag, eine Schrift, welche über den Ursprung der moralischen Empfindungen in einer so durchaus neuen und strengen Methode handelt, daß sie wahrscheinlich in der Geschichte der Moral-Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt bilden wird." Er selbst arbeitet an "Menschliches – Allzumenschliches", seinem wohl "objektivsten" und "positivistischstem" Werk, was sicherlich einerseits mit der Abkehr von Wagner, Schopenhauer und allem Metaphysischem zusammenhängt, und eben damit in gewisser Weise auch auf den Einfluß von Rée zurückzuführen ist – Nietzsche spricht selbst von seinem "Réealismus" zu jener Zeit! – andererseits dürften viele Einsichten Rées wiederum stark von Nietzsche beeinflußt gewesen sein. Dies ergibt sich schon aus der Widmung Rées an Nietzsche: "Dem Vater dieser Schrift dankbarst deren Mutter." Die hauptsächlich von Rée ausgewählte und vorgetragene gemeinsame Lektüre (Nietzsche konnte selbst ja kaum mehr lesen!) erstreckte sich weiter auf Platons "Gesetze", und sodann vor allem auf die französischen Moralisten, die für Nietzsche von großer Bedeutung wurden, wie Montaigne, La Rochefoucauld, Vauvenarges, La Bruyère und Stendhal. Außerdem las und diskutierte man zusammen ... das Neue Testament – und da hatte man mit dem Altphilologen Nietzsche den rechten Kommentator.
Im März besucht man zusammen Pompeji und Capri, bevor Anfang April 1877 Brenner und Rée Sorrent verließen, wohingegen Malwida und Nietzsche noch bis Anfang Mai bleiben; am letzten Tag seines Aufenthalts schreibt Nietzsche an Overbeck: "Es ist nicht daran zu denken, daß ich im Herbst meine Kollegien wieder aufnehme: also! Bitte hilf mir etwas und teile mir mit, an wen (und mit welchem Titel) ich mein Demissions-Gesuch zu richten habe. Es bleibe einstweilen Dein Geheimnis, der Entschluß ist mir schwer geworden, Frl. von Meysenbug hält ihn aber für absolut geboten. Ich muß mich noch auf Jahre vielleicht meines Leidens gewärtigen." So hatte die "Station Sorrent" schließlich zur endgültigen Abkehr von allen vorherigen "Einengungen" der Nietzscheschen Existenz geführt, er löste sich von Schopenhauer, Wagner und seiner philologischen Professur, um sich fortan nurmehr der Philosophie zu widmen: er wurde der "Freigeist", den er in "Menschliches – Allzumenschliches" beschrieb. In der Vorrede zur Genealogie der Moral blickt Nietzsche auf jene Zeit zurück: "– Meine Gedanken über die Herkunft unsrer moralischen Vorurteile ... haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt »Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister«, und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, haltzumachen, wie ein Wandrer haltmacht, und das weite gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war." Und auch im Ecce homo (zu Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 1) blickt Nietzsche auf das Buch "für freie Geister" zurück: "... fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus – ich habe mich mit demselben von allem Unzugehörigen in meiner Natur freigemacht. Es ist der Krieg, aber der Krieg ohne Pulver und Dampf, ohne kriegerische Attitüde, ohne Pathos und verrenkte Gliedmaßen ... Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert . . . Hier zum Beispiel erfriert das »Genie«; eine Ecke weiter erfriert der »Heilige«: unter einem dicken Eiszapfen erfriert »der Held«; am Schluß erfriert »der Glaube«, die sogenannte »Überzeugung«, auch das »Mitleiden« kühlt sich bedeutend ab – fast überall erfriert »das Ding an sich« ..." So ging für Nietzsche die bedeutsamste Freundschaft seines Lebens zu Ende, der er – trotz aller Feindschaft dem gegenüber, wofür Wagner zuletzt stand – bis in seine letzten hellen Tage die Treue bewahrte. Ein Nachklang, ein letztes "Klingenkreuzen" bildete die gegenseitige Zusendung der zuletzt fertiggewordenen Werke beider: Wagner sandte an Nietzsche seine Textdichtung des "Parsifal", Nietzsche schickte sein "Menschliches – Allzumenschliches" nach Bayreuth. Gundula Werger berichtet in der FAZ vom 04.01.2007 über Nietzsches und Wagners letzte Begegnung in Sorrent im Jahre 1877 und gibt eine ausführliche Schilderung der betreffenden Örtlichkeiten, des Grandhotel Vittora, in dem Wagner abgestiegen war, sowie der Villa Rubinacci, die Nietzsche, Malvida von Meysenbug, Paul Rée und A. Brenner abgestiegen waren. Rückblicke Der Fall Wagner – Vorwort "Ich mache mir eine kleine Erleichterung. Es ist nicht nur die reine Bosheit, wenn ich in dieser Schrift [s. Musik-Seite] Bizet auf Kosten Wagners lobe.
Ich bringe unter vielen Späßen eine Sache vor, mit der nicht zu spaßen ist. Wagner den Rücken zu kehren, war für mich ein Schicksal;
irgend etwas nachher wieder gernzuhaben, ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, niemand sich mehr gefreut,
von ihr los zu sein. Eine lange Geschichte!" ... Nietzsche kritisiert an Wagner bekanntlich vor allem dessen "Schauspielertum", der die Wahrheit der Wirkung unterordne.
Wagner spiele nur mit der Wahrheit, um zu sich zu überreden, das Zelebrieren seiner "Kunst" sei Wagner wichtiger als das Authentische,
das dem Individuum wahrhafte Anregung und Förderung zuteil werden lassen könnte. Ecce homo – Warum ich so klug bin, 5-7 5 Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nötig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am tiefsten und herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke... Ich weiß nicht, was andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen. – Und hiermit komme ich nochmals auf Frankreich zurück – ich habe keine Gründe, ich habe bloß einen verachtenden Mundwinkel gegen Wagnerianer et hoc genus omne übrig, welche Wagner damit zu ehren glauben, daß sie ihn sich ähnlich finden... So wie ich bin, in meinen tiefsten Instinkten allem, was deutsch ist, fremd, so daß schon die Nähe eines Deutschen meine Verdauung verzögert, war die erste Berührung mit Wagner auch das erste Aufatmen in meinem Leben: ich empfand, ich verehrte ihn als Ausland, als Gegensatz, als leibhaften Protest gegen alle »deutschen Tugenden«. – Wir, die wir in der Sumpfluft der Fünfziger Jahre Kinder gewesen sind, sind mit Notwendigkeit Pessimisten für den Begriff »deutsch«; wir können gar nichts andres sein als Revolutionäre – wir werden keinen Zustand der Dinge zugeben, wo der Mucker obenauf ist. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob er heute in andren Farben spielt, ob er sich in Scharlach kleidet und Husaren-Uniformen anzieht... wohlan! Wagner war ein Revolutionär – er lief von den Deutschen davon ... Als Artist hat man keine Heimat in Europa außer in Paris: die délicatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Wagners Kunst voraussetzt, die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris. Man hat nirgendswo sonst die Leidenschaft in Fragen der Form, diesen Ernst in der mise en scéne – es ist der Pariser Ernst par excellence. Man hat in Deutschland gar keinen Begriff von der ungeheuren Ambition, die in der Seele eines Pariser Künstlers lebt. Der Deutsche ist gutmütig – Wagner war durchaus nicht gutmütig... Aber ich habe schon zur Genüge ausgesprochen (in »Jenseits von Gut und Böse«, Nr. 256), wohin Wagner gehört, in wem er seine Nächstverwandten hat: es ist die französische Spät-Romantik, jene hochfliegende und doch emporreißende Art von Künstlern wie Delacroix, wie Berlioz, mit einem fond von Krankheit, von Unheilbarkeit im Wesen, lauter Fanatiker des Ausdrucks, Virtuosen durch und durch... Wer war der erste intelligente Anhänger Wagners überhaupt? Charles Baudelaire, derselbe, der zuerst Delacroix verstand, jener typische décadent, in dem sich ein ganzes Geschlecht von Artisten wiedererkannt hat – er war vielleicht auch der letzte... Was ich Wagner nie vergeben habe? Daß er zu den Deutschen kondeszendierte – daß er reichsdeutsch wurde... so weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. –
6 Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence – Gift, ich bestreite es nicht... von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab – mein Kompliment, Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagners sah ich unter mir – noch zu gemein, zu »deutsch«... Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern und dem Ring. Gesünder werden – das ist ein Rückschritt bei einer Natur wie Wagner... ich nehme es als Glück ersten Rangs, zur rechten Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine Mystiker-Formel anzuwenden. – Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen; und so gewiß Wagner unter Deutschen bloß ein Mißverständnis ist, so gewiß bin ich's und werde es immer sein. – Zwei Jahrhunderte psychologische und artistische Disziplin zuerst, meine Herrn Germanen! . .. Aber das holt man nicht nach. – Hören Sie einen kleinen Ausschnitt (362 KB) aus dem Tristan-Vorspiel 7 – Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich von der Musik will. Daß sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes Weib von Niedertracht und Anmut ist... ich werde nie zulassen, daß ein Deutscher wissen könne, was Musik ist. Was man deutsche Musiker nennt, die größten voran, sind Ausländer, Slaven, Kroaten, Italiener, Niederländer – oder Juden: im andern Falle Deutsche der starken Rasse, ausgestorbene Deutsche, wie Heinrich Schütz, Bach und Händel. Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben; ich nehme, aus drei Gründen, Wagners Siegfried-Idyll aus, vielleicht auch einiges von Liszt, der die vornehmen Orchester-Akzente vor allen Musikern voraushat; zuletzt noch alles, was jenseits der Alpen gewachsen ist – diesseits... ich würde Rossini nicht zu missen wissen, noch weniger meinen Süden in der Musik, die Musik meines Venediger maästro Pietro Gasti. Und wenn ich jenseits der Alpen sage, sage ich eigentlich nur Venedig. Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen – ich weiß das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken.
Am 3.1.1889 sandte Nietzsche, die Schwelle zum Wahnsinn bereits hinter sich gelassen habend, seine drei letzten Schreiben an Cosima; einen dieser sogenannten "Wahnzettel" können Sie hier sehen; Text:
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