Wagner über Nietzsche





Richard Wagner äußerte sich mehrfach öffentlich über Friedrich Nietzsche und hat diese Veröffentlichungen auch in seine Sämtlichen Schriften und Dichtungen aufgenommen. Es handelt sich einmal um sein Sendschreiben an Friedrich Nietzsche von 1872, mit dem er diesen gegen den Angriff von Willamowitz im Zusammenhang mit der Veröffentlung der "Geburt der Tragödie" in Schutz nehmen wollte. Näheres zu diesem Sachverhalt finden Sie auf meiner Seite Wagner/Tribschen/Geburt der Tragödie.

Daß man sich 1878 auseinandergelebt hatte, finden Sie dort ebenfalls beschrieben. Wagner hatte Nietzsche seinen Parsifal und dieser ihm sein Menschliches Allzumenschliches übersandt. Nicht zu Unrecht fand sich Wagner in dieser Schrift Nietzsches angegriffen - vollzog er doch darin eine "positivistische Wende" und nahm vorübergehend einen reduktionistischen Standpunkt ein. Diese Rückführung der Kultur auf die Natur und die Infragestellung des "Genies" konnte Wagner natürlich nicht gefallen, hatte sich Nietzsche selbst doch in der "Geburt der Tragödie noch ganz anders und übereinstimmend mit Wagner geäußert (s. das Sendschreiben zur "Geburt"), diese Kehrtwende Nietzsches kam für ihn tatsächlich unerwartet, und so veröffentlichte er im Herbst 1878 in den Bayreuther Blättern seinen Text "Publikum und Popularität", in dem er, ohne Nietzsche beim Namen zu nennen, gegen eine elitäre Wissenschaftlichkeit zu Felde zog, die einerseits das Kulturelle der Wissenschaft unterordnen will, andererseits keinerlei Rücksicht auf Wirkung und Verständlichkeit im Hinblick auf die normalen Menschen nimmt, obwohl damit zugleich deren sinnhafte gesellschaftliche und religiöse Bindung untergraben wird. Zum Abschluß dieser Seite finden Sie neben der Reaktion Nietzsches auf diese Schrift einen weiteren Seitenhieb Wagners in den Bayreuther Blättern von 1879, zu dem sich der rückblickende Overbeck in seinem Nachlaß äußert.


Richard Wagners Sendschreiben zur "Geburt der Tragödie"

Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Neunter Band, S. 492 ff.

Erschienen in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung am 23. Juni 1872

V. An Friedrich Nietzsche,

ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel.

Werther Freund!

Ich habe soeben das Pamphlet des Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, welches Sie mir zuschickten, gelesen, und aus dieser »Erwiderung« auf Ihre »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« gewisse Eindrücke gewonnen, deren ich mich in der Form verschiedener, vielleicht befremdlicher Fragen an Sie entledigen möchte, und zwar in der Hoffnung, Sie durch Ihre Beantwortung zu einer ebenso ergiebigen Auskunftserklärung, wie dieß im Betreff der griechischen Tragödie der Fall war, zu bewegen.

Vor Allem möchte ich durch Sie ein an mir selbst wahrgenommenes Bildungsphänomen mir erklärt wissen. Ich glaube nicht, daß es einen für das klassische Alterthum begeisterteren Knaben und Jüngling gegeben haben kann, als mich, zu der Zeit, wo ich in Dresden die Kreuzschule besuchte; fesselten mich vor Allem griechische Mythologie und Geschichte, so war es doch gerade auch das Studium der griechischen Sprache, zu welchem ich mit, fast disziplinwidrigem, möglichsten Umgehen des Lateinischen, mich hingezogen fühlte. In wie weit ich hierin regelmäßig verfuhr, kann ich nicht beurtheilen; doch darf ich mich auf die durch meinen feurigen Drang mir erworbene besondere Zuneigung des, hoffentlich jetzt noch lebenden Dr. Sillig, meines Lieblingslehrers in der Kreuzschule, berufen, welcher mit Bestimmtheit mir die Philologie als Fach zuwies. Wie es nun meinen späteren Lehrern an der Nikolai- und Thomasschule in Leipzig möglich wurde, diese Anlagen und Neigungen gänzlich in mir auszurotten, dieß ist mir zwar erinnerlich, auch wohl aus dem Gebahren jener Herren erklärlich; dennoch mußte ich mit der Zeit in Zweifel darüber gerathen, ob jene Anlagen und Neigungen wirklich tiefer begründet sein konnten, da sie so gar bald in ihr volles Gegentheil bei mir auszuarten schienen. Nur im weiteren Gange meiner Entwickelung kam an dem steten Wiederaufkommen wenigstens jener Neigungen es mir zum Bewußtsein, daß unter einer tödtlich falschen Zucht wirklich Etwas in mir unterdrückt worden war. Unter den aufregungsvollsten Mühen eines von jenen Studien gänzlich ablenkenden Lebens, ward es mir immer wieder zur einzig befreienden Wohlthat, in die antike Welt mich zu versenken, so beschwerlich mir jetzt auch das fast gänzliche Abhandenkommen der sprachlichen Hilfsmittel hierfür geworden war. Dagegen mußte ich, wenn ich nun Mendelssohn seiner fertigen Philologie willen beneidete, mich wiederum nur darüber wundern, daß diese seine Philologie ihn nicht davon abhielt, zu Sophokleischen Dramen gerade seine Musik zu schreiben, da ich trotz meiner Unfertigkeit doch mehr Achtung vor dem Geiste der Antike hatte, als er sie hierbei zu verrathen schien. Auch noch andere Musiker habe ich kennen gelernt, welche fertige Griechen geblieben waren, bei ihrem Kapellmeistern, Komponiren und Musiziren dennoch gar nichts damit anzufangen wußten, während ich (sonderbarer Weise!) aus der so schwer mir zugänglichen Antike ein Ideal für meine musische Kunstanschauung mir herausarbeitete. Dem sei nun wie ihm wolle: in mir entstand das dumpfe Gefühl davon, daß der Geist der Antike am Ende ebenso wenig in der Sphäre unserer griechischen Sprachlehrer liege, als z.B. das Verständniß der französischen Kultur und Geschichte bei unseren französischen Sprachlehrern als nöthige Beigabe vorausgesetzt sein kann. Dagegen behauptet nun aber der Dr. phil. U.W. von Möllendorff, daß es ganz ernstlich der Zweck der philologischen Wissenschaft sei, Deutschlands Jugend dahin abzurichten, »daß ihr das klassische Alterthum jenes einzig Unvergängliche gewähre, welches die Gunst der Musen verheißt, und in dieser Fülle und Reinheit allein das klassische Alterthum geben kann, den Gehalt in ihrem Busen und die Form in ihrem Geist«.

Von diesen herrlichen Schlußworten seines Pamphlets noch ganz entzückt, blickte ich mich nun im neuerstandenen deutschen Reiche nach dem unzweifelhaft offen daliegenden Erfolge der segensreichen Wirksamkeit der Pflege dieser philologischen Wissenschaft um, welche, so vollständig ungestört und unnahbar in sich abgeschlossen, nach ihren von nirgendsher bestrittenen Maximen die deutsche Jugend bisher anleiten durfte. Zuerst dünkte es mich nun auffallend, daß Alles, was bei uns von der Gunst der Musen als abhängig sich kundgiebt, also unsere gesammte Künstler- und Dichterschaft, ganz ohne alle Philologie sich behilft. Jedenfalls scheint der Geist gründlicher Sprachkenntniß überhaupt, wie er doch von der Philologie als Grundlage aller klassischen Studien ausgehen soll, sich nicht auf die Behandlung der deutschen Muttersprache erstreckt zu haben, da man durch den immer üppiger anwachsenden Jargon, welcher aus unseren Zeitungen sich bis in die Bücher unserer Kunst- und Litteratur-Geschichtsschreiber ausbreitet, bald bei jedem zu schreibenden Worte in die Lage kommen wird, sich erst mühsam besinnen zu müssen, ob dieses Wort einer wirklichen deutschen Sprachbildung angehöre, oder nicht etwa einem Wiskonsiner Börsenblatte entnommen sei. – Doch, wenn es auf dem schöngeistigen Felde bedenklich aussieht, könnte man sich immer sagen, damit habe die Philologie nichts zu thun, indem sie unter den Musen weniger den künstlerischen als den wissenschaftlichen sich zum Dienst verpflichtet wisse. Jedenfalls müßten wir dann bei den Fakultäten unserer Hochschulen ihre Wirksamkeit antreffen? Theologen, Juristen und Mediziner läugnen aber, mit ihr zu thun zu haben. Somit sind es also wohl nur die Philologen selbst, welche sich gegenseitig instruiren, und vermuthlich einzig zu dem Zwecke, immer wieder nur Philologen abzurichten, d.h. also doch wohl nur Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren, welche dann wieder Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren herauszubilden haben? Ich kann das begreifen; es heißt da, die Reinheit der Wissenschaft aufrecht, und vor dieser Wissenschaft den Staat immer so in Respekt zu erhalten, daß bedeutende Besoldungen für philologische Professoren u.s.w. ihm stets zur Gewissenspflicht gemacht bleiben. Aber nein! Dr. phil. U.W.v.M. behauptet ausdrücklich, es handle sich darum, die deutsche Jugend durch allerhand »asketische« Prozeduren für »jenes einzig Unvergängliche« fertig zu machen, welches »die Gunst der Musen« verheißt. Also muß doch in der Philologie die Tendenz einer höheren, das ist: wirklich produktiven Bildung liegen? Sehr vermuthlich, – so denke ich mir! Nur daß durch einen sonderbaren Prozeß, in welchen ihre Disziplin gerathen ist, diese Tendenz einer völligen Zersetzung verfallen zu sein scheint. Denn so viel ist ersichtlich, daß die heutige Philologie auf den allgemeinen Stand der deutschen Bildung gar keinen Einfluß ausübt; während die theologische Fakultät uns Pfarrer und Konsistorialräthe, die juristische Richter und Anwälte, die medizinische Ärzte liefert, lauter praktisch nützliche Bürger, liefert die Philologie immer nur wieder Philologen, welche rein nur sich unter sich selbst von Nutzen werden.

Man sieht, die indischen Brahmanen waren nicht erhabener gestellt, und darf man daher von ihnen wohl dann und wann ein Gotteswort erwarten. Und wirklich erwarten wir dieß: wir erwarten nämlich, daß einmal aus dieser wundervollen Sphäre ein Mensch heraustrete, um ohne Gelehrtensprache und gräßliche Citate uns zu sagen, was denn die Eingeweihten unter der Hülle ihrer uns Laien so unbegreiflichen Forschungen gewahr werden, und ob dieses der Mühe der Unterhaltung einer so kostbaren Kaste werth sei. Aber das müßte dann etwas Rechtes, Großes und weithin Bildendes sein, nicht dieses elegante Schellengeklingel, mit dem wir ab und zu in den beliebten Vorlesungen vor »gemischter« Zuhörerschaft abgefertigt werden. Dieses Große, Rechte, was wir erwarten, scheint nun aber sehr schwer auszusprechen zu sein: hier muß eine sonderbare, fast unheimliche Scheu herrschen, als ob man befürchte, gestehen zu müssen, daß, wenn man einmal ohne alle die geheimnißvollen Attribute der philologischen Wichtigkeit, ohne alle Citate, Noten und gehörigen gegenseitigen Bekomplimentirungen großer und kleiner Fachgenossen, einfach den Inhalt aller dieser Zurüstung an den Tag legen wollte, eine betrübende Armseligkeit der ganzen Wissenschaft, wie sie ihr etwa zu eigen geworden wäre, aufgedeckt werden müßte. Ich kann mir denken, daß für Den, der so etwas unternehmen würde, nichts übrig bleiben dürfte, als aus dem rein philologischen Fache in bedeutender Weise hinauszugreifen, um Belebung ihres unergiebigen Inhaltes aus den Quellen menschlicher Erkenntniß herbeizuholen, welche bisher vergebens wiederum auf Befruchtung durch die Philologie warteten.

Vermuthlich würde es nun aber einem Philologen, der sich zu solcher That entschlösse, etwa so ergehen, wie es Ihnen, werther Freund, jetzt ergeht, nachdem Sie sich zu der Veröffentlichung Ihrer tiefsinnigen Abhandlung über die Herkunft der Tragödie entschlossen haben. Auf den ersten Blick ersahen wir hier, daß wir es mit einem Philologen zu thun hatten, der zu uns, nicht aber zu den Philologen spreche; deßwegen ging uns denn auch einmal das Herz auf und wir faßten einen Muth, welchen wir durch die Lektüre der gewöhnlichen, so citatenreichen und so tödtlich inhaltsarmen philologischen Abhandlungen, z.B. über Homer, die Tragiker u. dgl., bereits gänzlich verloren hatten. Dießmal hatten wir Text, aber keine Noten; wir blickten von der Bergeshöhe in die weiten Ebenen hinaus, ohne von dem Geprügel der Bauern in der Schenke unter uns gestört zu werden. Aber es scheint, nachträglich soll uns nichts geschenkt sein: die Philologie bleibt dabei, Sie stünden auf ihrem Boden, seien daher keinesweges ein Emanzipirter, sondern nur ein Abtrünniger, und die Notenprügel seien Ihnen, wie uns, nicht zu erlassen. Wirklich ist der Hagel hereingebrochen: ein Dr. phil. hat zu dem gehörigen philologischen Donnerkeile gegriffen. Doch leben wir jetzt in der Jahreszeit, wo solch’ ein Unwetter bald vorübergeht: so lange es wüthet, bleibt ein Vernünftiger wohl ruhig zu Hause; dem losgelassenen Stiere weicht man aus, und hält es, mit Sokrates, für absurd, den Huftritt des Esels mit einem menschlichen Fußtritte erwidern zu wollen. Doch uns, die wir dem Vorgange nur zuschauten, bleibt etwas zur Erklärung übrig, da wir nicht Alles an ihm verstanden.

Deßhalb wende auch ich mich eben mit Fragen an Sie.

Wir haben nicht geglaubt, daß es im »Dienste der Musen« so grob hergehe, und daß ihre »Gunst« eine solche Ungebildetheit zurücklasse, wie wir sie hier an einem »jenes einzig Unvergängliche« Besitzenden wahrnehmen mußten. Ein klassischer Sprachgelehrter, der einem »meinthalben« in demselben Satze noch ein »meinthalb« nachschickt, erscheint uns noch fast wie ein vom Biere zum Schnaps taumelnder Berliner Eckensteher aus der alten Zeit: genau dieses giebt uns aber der Dr. phil. U.W.v.M., pag. 18 seines Pamphlets zum Besten. Wer nun nichts von Philologie versteht, wie wir, weicht allerdings ehrfurchtsvoll den Behauptungen eines solchen Herren aus, wenn sie sich auf ungeheuere Citate aus dem Dokumenten-Archive der Zunft stützen; aber wir gerathen in den vollsten Zweifel, nicht etwa an der Unabsichtlichkeit des Nichtverständnisses Ihrer Schrift Seitens jenes Gelehrten, sondern an seiner einfachsten Befähigung, nur überhaupt das Allerklarste zu verstehen, wenn er z. B. den Sinn Ihres Goethe’schen Citates: »Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!« dahin auffaßt, als führten Sie diese Worte im optimistischen Sinne an, und Ihnen deßhalb (mit Entrüstung darüber, daß Sie nicht einmal Goethe verstehen könnten!) erklären zu müssen glaubt, daß »Faust so in bitterer Ironie frage«. Wie soll man so etwas nennen? Eine auf öffentlichem, litterarischem Wege vielleicht schwer zu beantwortende Frage!

Mir, für mein Theil, thut eine solche Erfahrung, wie ich sie an dem vorliegenden Falle mache, herzlich leid. Sie wissen, mit welchem Ernste ich noch in meiner Abhandlung über »Deutsche Kunst und Deutsche Politik« vor einigen Jahren für die Pflege der klassischen Studien mich ereiferte, und einer immer übeleren Wendung unserer nationalen Bildung aus der zunehmenden Vernachlässigung derselben von Seiten unserer Künstler und Litteraten entgegensehen zu müssen glaubte. Was nützt es aber nun, wenn man sich auf dem Felde der Philologie Mühe giebt? Dem Studium J. Grimm’s entnahm ich einmal ein altdeutsches »Heilawac«, formte es mir, um für meinen Zweck es noch geschmeidiger zu machen, zu einem »Weiawaga« (einer Form, welche wir heute noch in »Weihwasser« wiedererkennen), leitete hiervon in die verwandten Sprachwurzeln »wogen« und »wiegen«, endlich »wellen« und »wallen« über, und bildete mir so, nach der Analogie des »Eia popeia« unserer Kinderstubenlieder, eine wurzelhaft sylabische Melodie für meine Wassermädchen. Was begegnet mir? Von unserer journalistischen Straßenjugend werde ich bis in die »Augsburger Allgemeine« hinein verhöhnt, und es begründet nun ein Dr. phil. auf dieses ihm sprichwörtlich gewordene »wigala weia« – wie er es anführt – seine Verachtung vor meiner »s.g. Poesie«! Und dieß geschieht alles mit der urdeutschen Orthographie seines Pamphlets, während andererseits kein affektirtes Theaterstückmachen unserer Modelitteraten fade und leicht genug ist, um z.B. von philologischen Erklärern des Nibelungenmythus’ (wie ich dieß kürzlich antraf) nicht für bewundernswerthe Abschlüsse der alten Volkspoesie angesehen zu werden.

In Wahrheit, mein Freund, Sie sind uns hierüber einige Aufklärungen schuldig. Sie treffen in Denen, welche ich wir nenne, nämlich auf Solche, die von der schwärzesten Sorge für die deutsche Bildung erfüllt sind. Was diese Sorge vermehrt, liegt in dem sonderbar günstigen Rufe, in welchem diese Bildung bei den, mit ihrem einstigen Blüthenansatze spät erst bekannt gewordenen Ausländern steht, und der auf uns wie mit narkotischer Betäubung, bis zu welcher wir uns gegenseitig beräuchern, zurückwirkt. Gewiß hat jedes Volk einen Keim zur Kretisinirung in sich: bei den Franzosen sehen wir, daß der Absinth jetzt dort fertig bringt, was die Akademie eingeleitet hat, nämlich, daß über alles Unverstandene, und deßhalb von dieser Akademie aus der nationalen Bildung ausgeschiedene, endlich wie von albernen Kindern nur noch gelacht wird. Nun hat zwar unsere Philologie noch nicht die Macht jener Akademie, auch ist unser Bier nicht in der Weise gefährlich wie der Absinth; dennoch dürften andere Eigenschaften des Deutschen hinzutreten, die, wie seine Scheelsucht und dieser entsprechende hämische Begeiferungslust, verbunden mit einer um so verderblicheren Unwahrhaftigkeit, als ihr aus alten Zeiten der Anschein von Biederkeit anhaftet, so sehr bedenklicher Natur sind, daß die uns abgehenden Gifte durch sie nicht unleicht sich ersetzen dürften.

Wie steht es um unsere deutschen Bildungsanstalten?

Darnach fragen wir gerade Sie, der Sie so jung berufen und von einem ausgezeichneten Meister der Philologie vor Vielen bevorzugt wurden, den Lehrstuhl einzunehmen, und hier sich schnell ein so bedeutendes Vertrauen erwarben, daß Sie es wagen konnten, mit kühner Festigkeit aus einem vitiosen Zusammenhange herauszutreten, um mit schöpferischer Hand auf seine Schäden zu deuten.

Wir geben Ihnen hierzu Zeit. Nichts drängt Sie, am wenigsten wohl jener Dr. phil., welcher Sie einlädt, von Ihrem Lehrstuhle herabzusteigen, was Sie gewiß selbst aus Gefälligkeit gegen diesen Herren nicht thun würden, weil voraussichtlich wohl gerade Er dort, wo Sie gewirkt, nicht zum Nachfolger erwählt werden dürfte. Was wir von Ihnen erwarten, kann nur die Aufgabe eines ganzen Lebens sein, und zwar des Lebens eines Mannes, wie er uns auf das Höchste noththut, und als welchen Sie allen Denen sich ankündigen, welche aus dem edelsten Quelle des deutschen Geistes, dem tief innigen Ernste in Allem, wohin er sich versenkt, Aufschluß und Weisung darüber verlangen, welcher Art die deutsche Bildung sein müsse, wenn sie der wiedererstandenen Nation zu ihren edelsten Zielen verhelfen soll.

Von Herzen grüßt sie der Ihrige

Richard Wagner.

Bayreuth, 12. Juni 1872.


Richard Wagners Artikel "Publikum und Popularität" zu Menschliches Allzumenschliches

(Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Zehnter Band, S. 140 ff.)

Aus: Publikum und Popularität

(Indirekte Antwort Wagners auf Nietzsches "Menschliches Allzumenschliches" sowie seine Stellung zu Theologie und Christentum. Erschienen in den Bayreuther Blättern August und September 1878)

...

Hiermit wäre nun etwa der Nützlichkeits-Kreislauf unseres akademischen Staatslebens angedeutet. Daneben besteht aber ein anderer, dessen Nutzen für einen ganz idealen angesehen sein will, und von dessen korrekter Ausfüllung der Akademiker uns das Heil der ganzen Welt verspricht: hier herrscht die reine Wissenschaft und ihr ewiger Fortschritt. Beide sind der »philosophischen Fakultät« übergeben, in welcher Philologie und Naturwissenschaften mit inbegriffen sind. Den »Fortschritt«, für welchen die Regierungen sehr viel ausgeben, besorgen wohl die Sektionen der Naturwissenschaft so ziemlich allein, und hier steht, wenn wir nicht irren, die Chemie an der Spitze. Diese greift durch ihre populär nützlichen Abzweigungen allerdings in das praktische Leben ein, wie man dieses namentlich an der fortschreitend wissenschaftlicheren Lebens-Verfälschung bemerkt; dennoch ist sie, vermöge ihrer dem öffentlichen Nutzen nicht unmittelbar zugewendeten Arbeiten und deren Ergebnisse, der eigentlich anreizende Beglücker und Wohlthäter der übrigen philosophischen Branchen geworden, während die Zoo- oder Biologie zu Zeiten unangenehm störend namentlich auf die mit der Staats-Theologie sich berührenden Zweige der Philosophie einwirkt, was allerdings wiederum den Erfolg hat, die eintretenden Schwankungen auf solchen Gebieten als Leben und Bewegung des Fortschrittes erscheinen zu lassen. Hiergegen wirken die stets sich mehrenden Entdeckungen der Physik, und vor Allem eben der Chemie, als wahre Entzückungen auf die spezifische Philosophie, an welchen selbst die Philologie ihren ganz einträglichen Antheil zu nehmen ermöglicht. Hier, in dieser letzteren, ist nämlich gar nichts recht Neues mehr hervorzuholen, es müsse denn den archäologischen Schatzgräbern einmal gelingen, bisher unbeachtete Lapidar-Inschriften, namentlich aus dem lateinischen Alterthume, aufzuzeigen, wodurch einem waghalsigen Philologen es dann ermöglicht wird, z.B. gewisse bisher übliche Schreibarten oder Buchstaben umzuändern, was dann als ungeahnter Fortschritt dem großen Gelehrten zu erstaunlichem Ruhme verhilft. Philologen wie Philosophen erhalten aber, namentlich wo sie sich auf dem Felde der Ästhetik begegnen, durch die Physik im Allgemeinen, noch ganz besondere Ermunterungen, ja Verpflichtungen, zu einem, noch gar nicht zu begrenzenden Fortschreiten auf dem Gebiete der Kritik alles Menschlichen und Unmenschlichen(1). Es scheint nämlich, daß sie den Experimenten jener Wissenschaft die tiefe Berechtigung zu einer ganz besonderen Skepsis entnehmen, welche es ihnen ermöglicht, sich von den bisher üblichen Ansichten abwendend, dann in einer gewissen Verwirrung wieder zu ihnen zurückkehrend, in einem steten Umsichherumdrehen sich zu erhalten, welches ihnen dann ihren gebührenden Antheil am ewigen Fortschritte im Allgemeinen zu versichern scheint. Je unbeachteter die hier bezeichneten Saturnalien der Wissenschaft vor sich gehen, desto kühner und unbarmherziger werden dabei die edelsten Opfer abgeschlachtet und auf dem Altar der Skepsis dargebracht. Jeder deutsche Professor muß einmal ein Buch geschrieben haben, welches ihn zum berühmten Manne macht: nun ist ein naturgemäß Neues aufzufinden nicht Jedem beschieden; somit hilft man sich, um das nöthige Aufsehen zu machen, gern damit, die Ansichten eines Vorgängers als grundfalsch darzustellen, was dann um so mehr Wirkung hervorbringt, je bedeutender und größtentheils unverstandener der jetzt Verhöhnte war. In geringeren Fällen kann so etwas unterhaltend werden, z.B. wenn der eine Ästhetiker Typenbildungen verbietet, der andere sie aber den Dichtern wieder erlaubt. Die wichtigeren Vorgänge sind nun aber die, wo überhaupt jede Größe, namentlich das so sehr beschwerliche »Genie«, als verderblich, ja der ganze Begriff: Genie als grundirrthümlich über Bord geworfen werden.

Dieses ist das Ergebniß der neuesten Methode der Wissenschaft, welche sich im Allgemeinen die »historische Schule« nennt. Stützte sich bisher der wirkliche Geschichtsschreiber mit immer größerer Vorsicht nur auf beglaubigte Dokumente, wie sie bei emsigster Nachforschung aus den verschiedenartigsten Archiven aufgefunden werden mußten, und vermeinte er nur auf Grund dieser ein geschichtliches Faktum feststellen zu dürfen, so war hiergegen nicht viel zu sagen, obgleich mancher erhabene Zug, den bisher die Überlieferung unserer Begeisterung vorgeführt hatte, oft zum wahrhaften Bedauern des Geschichtsforschers selbst, in den historischen Papierkorb geworfen werden mußte; was die Geschichtsdarstellung einer so merklichen Trockenheit verfallen ließ, daß man sich wiederum zur Auffrischung derselben durch allerhand pikante Frivolitäten veranlaßt sah, welche, wie z.B. die neuesten Darstellungen des Tiberius, oder des Nero, bereits gar zu stark in das Geistreiche umschlugen. Der Beurtheiler aller menschlichen und göttlichen Dinge, wie er am kühnsten endlich aus der, auf die philosophische Darstellung der Welt angewendeten, historischen Schule hervorgeht, bedient sich dagegen der archivarischen Künste nur unter Leitung der Chemie, oder der Physik im Allgemeinen. Hier wird zunächst jede Annahme einer Nöthigung zu einer metaphysischen Erklärungsweise für die, der rein physikalischen Erkenntniß etwa unverständlich bleibenden, Erscheinungen des gesammten Weltdaseins durchaus, und zwar mit recht derbem Hohne, verworfen. Soviel ich von den Vorstellungen der Gelehrten dieser Schule mir zum Verständniß bringen konnte, scheint es mir, daß der so redliche, vorsichtige und fast nur hypothetisch zu Werke gehende Darwin, durch die Ergebnisse seiner Forschungen auf dem Gebiete der Biologie, die entscheidendste Veranlassung zur immer kühneren Ausbildung jener historischen Schule gegeben hat. Mich dünkt auch, daß diese Wendung namentlich durch große Mißverständnisse, besonders aber durch viele Oberflächlichkeit des Urtheiles bei der allzuhastigen Anwendung der dort gewonnenen Einsichten auf das philosophische Gebiet vor sich gegangen sei. Diese Mängel scheinen mir sich im Hauptpunkte darin zu zeigen, daß der Begriff des Spontanen, der Spontaneität überhaupt, mit einem sonderbar überstürzenden Eifer, und mindestens etwas zu früh, aus dem neuen Welterkennungs-System hinausgeworfen worden ist. Es stellt sich hier nämlich heraus, daß, da keine Veränderung ohne hinreichenden Grund vor sich gegangen ist, auch die überraschendsten Erscheinungen, wie z.B. in bedeutendster Form das Werk des »Genie’s«, aus lauter Gründen, wenn auch bisweilen sehr vielen und noch nicht ganz erklärten, resultiren, welchen beizukommen uns außerordentlich leicht sein werde, wenn die Chemie sich einmal auf die Logik geworfen haben wird. Einstweilen werden aber da, wo die Schlußreihe der logischen Deduktionen für die Erklärung des Werkes des Genie’s noch nicht als ganz zutreffend aufgefunden werden kann, gemeinere Naturkräfte, die meistens als Temperamentfehler erkannt werden, wie Heftigkeit des Willens, einseitige Energie und Obstination, zur Hilfe genommen, um die Angelegenheit doch möglichst immer wieder auf das Gebiet der Physik zu verweisen.

Da mit dem Fortschritte der Naturwissenschaften somit alle Geheimnisse des Daseins nothwendig der Erkenntniß endlich als in Wahrheit bloß eingebildete Geheimnisse offengelegt werden müssen, kommt es fortan überhaupt nur noch auf Erkennen an, wobei, wie es scheint, das intuitive Erkennen gänzlich ausgeschlossen bleibt, weil dieses schon zu metaphysischen Allotrien veranlassen, nämlich zum Erkennen von Verhältnissen führen könnte, welche der abstrakt wissenschaftlichen Erkenntniß so lange mit Recht vorbehalten bleiben sollen, bis die Logik, unter Anleitung der Evidenz durch die Chemie, damit in das Reine gekommen ist.

Mir ist, als hätten wir hiermit die Erfolge der neueren, sogenannten »historischen« Methode der Wissenschaft, wenn auch nur oberflächlich (wie dieß den außerhalb der Aufklärungs-Mysterien Stehenden nicht anders möglich ist), berührt, welchen nach das rein erkennende Subjekt, auf dem Katheder sitzend, allein als Existenzberechtigt übrig bleibt. Eine würdige Erscheinung am Schlusse der Welt-Tragödie! Wie es diesem einzelnen Erkennenden schließlich dann zu Muthe sein dürfte, ist nicht leicht vorzustellen, und wünschen wir ihm gern, daß er dann, am Ende seiner Laufbahn, nicht die Ausrüfe des Faust am Beginne der Goethe’schen Tragödie wiederhole! Jedenfalls, so befürchten wir, können nicht Viele jenen Erkennens- Genuß mit ihm theilen, und für das große Behagen des Einzelnen, sollte sich dieß auch bewähren, dürfte doch, so dünkt uns, der sonst nur auf gemeinsamen Nutzen bedachte Staat zu viel Geld ausgeben. Mit diesem Nutzen für das Allgemeine dürfte es aber ernstlich schlecht bestellt sein, schon weil es uns schwer fällt, jenen allerreinst Erkennenden als einen Menschen unter Menschen anzusehen. Sein Leben bringt er vor und hinter dem Katheder zu; ein weiterer Spielraum, als dieser Wechsel des Sitzplatzes zuläßt, steht ihm für die Kenntniß des Lebens nicht zu Gebote. Die Anschauung alles dessen, was er denkt, ist ihm meistens von früher Jugend her versagt, und seine Berührung mit der sogenannten Wirklichkeit des Daseins ist ein Tappen ohne Fühlen. Gewiß würde ihn, gäbe es nicht Universitäten und Professuren, für deren Pflege unser so gelehrtenstolzer Staat sich freigebig besorgt zeigt, Niemand recht beachten. Er mag mit seinen Standesgenossen, sowie den sonstigen »Bildungsphilistern«, als ein Publikum erscheinen, welchem selbst hie und da viellesende Fürsten-Söhne und -Töchter zu akademischen Ergehungen sich beimischen; der Kunst, welche dem Goliath des Erkennens immer mehr nur noch als ein Rudiment aus einer früheren Erkennensstufe der Menschheit, ungefähr wie der vom thierischen wirklichen Schweife uns verbliebene Schwanzknochen, erscheint, ihr schenkt er zwar nur noch Beachtung, wenn sie ihm archäologische Ausblicke zur Begründung historischer Schlusssätze darbietet: so schätzt er z.B. die Mendelssohnische Antigone, dann auch Bilder, über welche er lesen kann, um sie nicht sehen zu müssen: Einfluß auf die Kunst übt er aber nur in so weit, als er dabei sein muß, wenn Akademien, Hochschulen u. dgl. gestiftet werden, wo er dann das Seinige redlich dazu beiträgt, keine Produktivität aufkommen zu lassen, weil hiermit leicht Rückfälle in den Inspirations-Schwindel überwundener Kulturperioden veranlaßt werden könnten. Am Allerwenigsten fällt es ihm ein, dem Volke sich zuzuwenden, welches hierwieder um Gelehrte gar nicht sich bekümmert; weßwegen es allerdings auch schwer zu sagen ist, auf welchem Wege das Volk schließlich einmal zu einigem Erkennen gelangen soll. Und doch wäre es eine nicht unwürdige Aufgabe, diese letztere Frage ernstlich in Erwägung zu ziehen. Das Volk lernt nämlich auf einem, dem des historisch-wissenschaftlich Erkennenden gänzlich entgegengesetzten Wege, d.h. im Sinne dieses lernt es gar nichts. Erkennt es nun nicht, so kennt es aber doch: es kennt seine großen Männer, und es liebt das Genie, das Jene hassen; endlich aber, was ihnen gar ein Gräuel ist, verehrt es das Göttliche. Um auf das Volk zu wirken, bliebe daher von den akademischen Fakultäten nur die der Theologen übrig. Beachten wir, ob uns eine Hoffnung dafür erwachsen könnte, aus dem so kostspieligen Aufwande des Staates für höhere geistige Bildungsanstalten irgend einen wohlthätigen Einfluß auf das Volk hervorgehen zu sehen.

Noch besteht das Christenthum; seine ältesten kirchlichen Institutionen bestehen selbst mit einer Festigkeit, die manchen um die Staats-Kultur Bemühten sogar desperat und feig macht. Ob ein inniges, wahrhaft beglückendes Verhältniß zu den christlichen Satzungen bei der Mehrheit der heutigen Christen bestehen mag, ist gewiß nicht leicht zu ergründen. Der Gebildete zweifelt, der gemeine Mann verzweifelt. Die Wissenschaft macht den Gott-Schöpfer immer unmöglicher; der von Jesus uns geoffenbarte Gott ist uns aber von Beginn der Kirche an durch die Theologen aus einer erhabensten Ersichtlichkeit zu einem immer unverständlicheren Probleme gemacht worden. Daß der Gott unseres Heilandes uns aus dem Stammgotte Israel’s erklärt werden sollte, ist eine der schrecklichsten Verwirrungen der Weltgeschichte; sie hat sich zu allen Zeiten gerächt, und rächt sich heute durch den immer unumwundener sich aussprechenden Atheismus der gröbsten wie der feinsten Geister. Wir müssen es erleben, daß der Christengott in leere Kirchen verwiesen wird, während dem Jehova immer stolzere Tempel mitten unter uns erbaut werden. Und fast scheint es seine Richtigkeit damit zu haben, daß der Jehova den so ungeheuer mißverständlich aus ihm hergeleiteten Gott des Erlösers schließlich ganz verdrängen könnte. Wird Jesus für des Jehova Sohn ausgegeben, so kann jeder jüdische Rabbiner, wie dieß denn auch zu jeder Zeit vor sich gegangen ist, alle christliche Theologie siegreich widerlegen. In welcher trübseligen, ja ganz unwürdigen Lage wird nun unsere gesammte Theologie erhalten, da sie unseren Kirchenlehrern und Volkspredigern fast nichts anderes beizubringen hat, als die Anleitung zu einer unaufrichtigen Erklärung des wahren Inhaltes unserer so über Alles theuren Evangelien! Zu was anderem ist der Prediger auf der Kanzel angehalten, als zu Kompromissen zwischen den tiefsten Widersprüchen, deren Subtilitäten uns nothwendig im Glauben selbst irre machen, so daß wir endlich fragen müssen, wer denn noch Jesus kenne? – Vielleicht die historische Kritik? Sie steht mitten unter dem Judenthum und verwundert sich, daß heute des Sonntags früh noch die Glocken für einen vor zweitausend Jahren gekreuzigten Juden läuten, ganz wie dieß jeder Jude auch thut. Wie oft und genau sind nun schon die Evangelien kritisch untersucht, ihre Entstehung und Zusammensetzung unverkennbar richtig herausgestellt worden, so daß gerade aus der hieraus ersichtlich gewordenen Unächtheit und Unzugehörigkeit des Widerspruch Erregenden die erhabene Gestalt des Erlösers und sein Werk endlich auch, so vermeinen wir, der Kritik unverkennbar deutlich sich erschlossen haben müßte. Aber nur den Gott, den uns Jesus offenbarte, den Gott, welchen alle Götter, Helden und Weisen der Welt nicht kannten, und der nun den armen Galiläischen Hirten und Fischern mitten unter Pharisäern, Schriftgelehrten und Opferpriestern mit solcher seelendurchdringenden Gewalt und Einfachheit sich kund gab, daß, wer ihn erkannt hatte, die Welt mit allen ihren Gütern für nichtig ansah, – diesen Gott, der nie wieder offenbart werden kann, weil er dieß eine Mal, zum ersten Male, uns offenbart worden ist, – diesen Gott sieht der Kritiker stets von Neuem mit Mistrauen an, weil er ihn immer wieder für den Judenweltmacher Jehova halten zu müssen glaubt!

Es muß uns trösten, daß es endlich doch noch zweierlei kritische Geister, und zweierlei Methoden der Erkenntniß-Wissenschaft giebt. Der große Kritiker Voltaire, dieser Abgott aller freien Geister, erkannte das »Mädchen von Orleans« nach den ihm zur Zeit vorliegenden historischen Dokumenten, und glaubte sich durch diese zu der in seinem berühmt gewordenen Schmutzgedichte ausgeführten Ansicht über die »Pucelle« berechtigt. Noch Schiller lagen keine anderen Dokumente vor: sei es nun aber eine andere, wahrscheinlich fehlerhafte Kritik, oder sei es die von unseren freien Geistern verachtete Inspiration des Dichters, was ihm es eingab, »der Menschheit edles Bild« in jener Jungfrau von Orleans zu erkennen, – er schenkte dem Volke durch seine dichterische Heiligsprechung der Heldin nicht nur ein unendlich rührendes und stets geliebtes Werk, sondern arbeitete damit auch der ihm nachhinkenden historischen Kritik vor, welcher endlich ein glücklicher Fund die richtigen Dokumente zur Beurtheilung einer wundervollen Erscheinung zuführte. Diese Jeanne d’Arc war Jungfrau und konnte es nie anders sein, weil aller Naturtrieb in ihr, durch eine wunderbare Umkehr seiner selbst, zum Heldentriebe für die Errettung ihres Vaterlandes geworden war. Sehet nun den Christusknaben auf den Armen der Sixtinischen Madonna. Was dort unserem Schiller für die Erkennung der wunderbar begabten Vaterlandsbefreierin eingegeben, war hier Rafael für den theologisch entstellten und unkenntlich gewordenen Erlöser der Welt aufgegangen. Sehet dort das Kind auf euch herab, weit über euch hinweg in die Welt und über alle erkennbare Welt hinaus, den Sonnenblick des nun unerläßlich gewordenen Erlösungs-Entschlusses ausstrahlen, und fragt euch, ob dieß »bedeutet« oder »ist«? –

Sollte es der Theologie so ganz unmöglich sein, den großen Schritt zu thun, welcher der Wissenschaft ihre unbestreitbare Wahrheit durch Auslieferung des Jehova, der christlichen Welt aber ihren rein offenbarten Gott in Jesus dem Einzigen zugestatte?

Eine schwere Frage, und gewiß eine noch schwerere Zumuthung. Drohender dürften sich aber wohl beide gestalten, wenn die jetzt noch auf dem Gebiete einer edlen Wissenschaft lösbaren Aufgaben von dem Volke selbst sich einst gestellt und in seiner Weise gelöst werden sollten. Wie ich dieses schon berührte, dürfte der zweifelnde und der verzweifelnde Theil der Menschheit endlich in dem so trivialen Bekenntnisse des Atheismus zusammen treffen. Bereits erleben wir es. Nichts anderes dünkt uns bisher in diesem Bekenntnisse noch ausgedrückt, als große Unbefriedigung. Wohin diese führen kann, gälte zu erwägen. Der Politiker arbeitet mit einem Kapitale, an welchem ein großer Theil des Volkes keinen Anspruch hat. Wir erleben es, wie dieser Antheil endlich verlangt wird. Nie ist die Welt, seit dem Aufhören der Sklaverei, auffälliger in den Gegensatz von Besitz und Nichtbesitz gerathen. Vielleicht war es unvorsichtig, den Nichtbesitzenden Antheilnahme an einer Gesetzgebung einzuräumen, welche nur für die Besitzenden gelten sollte. Die Verwirrungen hieraus sind schon jetzt nicht ausgeblieben; ihnen zu begegnen, dürfte weisen Staatsmännern dadurch gelingen, daß den Nichtbesitzenden wenigstens ein Interesse am Bestehen des Besitzes überhaupt zugeführt werde. Vieles zeigt, daß an der hierfür nöthigen Weisheit zu zweifeln ist, wogegen Unterdrückung leichter und schneller wirksam erscheint. Unstreitig ist die Macht des Erhaltungstriebes stärker, als man gewöhnlich glaubt: das römische Reich erhielt sich ein halbes Jahrtausend in seiner Auflösung. Die zweitausendjährige Periode, in welcher wir bisher große geschichtliche Kulturen von der Barbarei bis wiederum zur Barbarei sich entwickeln sahen, dürfte für uns etwa um die Mitte des nächsten Jahrtausendes gleicher Weise sich abgeschlossen haben. Kann man sich vorstellen, in welchem Zustande von Barbarei wir angekommen sein werden, wenn unser Weltverkehr noch etwa sechshundert Jahre in der Richtung des Unterganges des römischen Weltreiches sich bewegt haben wird? Ich glaube, daß die von den ersten Christen noch für ihre Lebenszeit erwartete, dann als mystisches Dogma festgehaltene Wiederkehr des Heilandes, vielleicht selbst unter den in der Apokalypse geschilderten nicht ganz unähnlichen Vorgängen, für jene vorauszusehende Zeit einen Sinn haben dürfte. Denn das Eine müssen wir bei einem denkbaren dereinstigen gänzlichen Verfalle unserer Kultur in Barbarei annehmen, daß es dann auch mit unserer historischen Wissenschaft, Kritik und Erkenntniß-Chemie zu Ende ist; wogegen dann etwa auch zu hoffen wäre, daß die Theologie schließlich mit dem Evangelium in das Reine gekommen, und die freie Erkenntniß der Offenbarung ohne jehovistische Subtilitäten uns erschlossen wäre, für welchen Erfolg der Heiland seine Wiederkehr uns eben verhießen hätte.

Dieses wurde dann eine wirkliche Popularisirung der tiefsten Wissenschaft begründen. In dieser oder jener Weise der Heilung unausbleiblicher Schäden in der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes vorzuarbeiten, ungefähr wie Schiller mit seiner Konzeption der Jungfrau von Orleans der Bestätigung durch geschichtliche Dokumente vorarbeitete, dürfte eine wahre, an das – für jetzt ideale – Volk, im edelsten Sinne desselben, sich richtende Kunst sehr wohl berufen erscheinen. Wiederum einer solchen, im erhabensten Sinne populären, Kunst jetzt und zu jeder Zeit in der Weise vorzuarbeiten, daß die Bindeglieder der ältesten und edelsten Kunst nie vollständig zerreißen, dürften schon diese Bemühungen nicht nutzlos erscheinen lassen. Jedenfalls dürfte auch nur solchen Werken der Kunst eine adelnde Popularität zugesprochen werden, und nur diese Popularität kann es sein, welche durch ihr geahntes Einwirken die Schöpfungen der Gegenwart über die Gemeinheit des für jetzt so geltenden populären Gefallens erhebt.

(1) Fettstellung durch HW

Nietzsches Reaktion auf den Angriff Wagners in "Publikum und Popularität":

(Curt Paul Janz: Nietzsche, Bd. 1, C. Hanser Verlag 1978, S. 827-828)

"Nietzsche war darüber traurig. Einen Angriff von solcher Perfidie hatte er von Wagner nicht erwartet. Am 10. September 1878 schrieb er darum an Schmeitzner eine Postkarte:
»... Bitte: Senden Sie mir die Bayreu+ + + nicht allmonatlich, sondern geben Sie mir + + + Jahres erschienen ist, dann zusammen. Wozu soll ich mich verpflichten, Monatsdosen Wagnerschen Ärger-Geifers einzunehmen. Ich möchte auch fürderhin über ihn und seine Größe rein und klar empfinden: da muß ich mir sein Allzumenschliches etwas vom Leibe halten ...« Nietzsche bleibt also noch in Verbindung mit der Zeitschrift, will sie aber nur noch gesammelt in größeren Zeitabständen zugestellt erhalten. Ob damit eine formelle Abonnementskündigung verbunden war, bleibt unklar. Cosima muß auf irgendeinem Wege vernommen haben, »daß Nietzsche sich die Zustellung der Blätter verbeten habe«, was sie Wagner am 8. November 1878 erzählt, worauf dieser antwortet: »Das freut mich.«
Overbeck gegenüber gesteht Nietzsche am 3. September: »Wagners bitterböse unglückliche Polemik gegen mich im Augustheft der Bayreuther Blätter habe ich nun auch gelesen: es tat mir wehe, aber nicht an der Stelle, wo Wagner wollte.«"



Richard Wagners Seitenhieb in "Wollen wir hoffen?" (Bayreuther Blätter 1879)
und Franz Overbecks Stellungnahme dazu aus seinem Nachlaß

Als weiteres Beispiel für das Auseinanderleben Wagners und Nietzsches wie das gegenseitige Nicht-Verstehen(-Wollen?) mögen die folgenden Zitate angeführt werden. Wie schon gesagt, hatte Wagner Nietzsches Menschliches Allzumenschliches nur mit Widerwillen "angeblättert", aber natürlich zielsicher jene Stellen herausgefischt, die sich seiner Meinung nach allzuleicht (!) gegen Nietzsche wenden ließen, so etwa bezog er sich auf den folgenden Ausschnitt eines Aphorismus Nietzsches zu Renaissance und Reformation:

(Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches Nr. 237, KSB 2, 199-200)

... Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss — und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen.

In seiner Schrift "Wollen wir hoffen?", veröffentlicht in den Bayreuther Blättern 1879, mit welcher Wagner – ansonsten Nietzsche ganz ähnlich – die Bedingungen der Kunst sowie die sozialen Zustände in Deutschland geißelt, kann er es nicht lassen, beiläufig eine Spitze gegen Nietzsche zu wenden:

(Wagner, Schriften und Dichtungen, Bd. 10, S. 129)

... Luther übersetzt nämlich (zum kopfschüttelnden Erstaunen unserer Philologen) den ganzen Vers folgendermaaßen: »So ich nicht weiß der Stimme Deutung, werde ich undeutsch sein dem, der da redet; und der da redet, wird mir undeutsch sein.« - Wer die innig getreue Wiedergebung des griechischen Textes genau erwägt, und nun erkennen muß, wie diese noch sprachsinniger als selbst der Urtext den inneren Sinn desselben uns zuführt, indem sie »Deutung« mit »Deutsch« in unmittelbare Beziehung stellt, der muß von einem tiefen Gefühle für den Werth, welchen wir in unserer Sprache besitzen, erwärmt und gewiß mit unsäglichem Kummer erfüllt werden, wenn er diesen Schatz frevelhaft uns entwerthet sieht. Dagegen hat man neuerdings gefunden, es würde besser gewesen sein, wenn Luther, wie andere Ketzer, verbrannt worden wäre; die römische Renaissance würde dann auch Deutschland eingenommen und uns auf die gleiche Kulturhöhe mit unseren neugeborenen Nachbarn gebracht haben. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß dieser Wunsch Manchem nicht nur »undeutsch«, sondern auch »barbarisch« im Sinne unserer romanischen Nachbarn, vorkommen wird. Wir dagegen wollen uns einer letzten hoffnungsvollen Annahme hingeben, wenn wir das »barbarisch« Schiller's bei der Bezeichnung unserer Staats- und Kirchenverfassungen

Mit den "erstaunten Philologen" und vor allem dem "Dagegen hat man" ist natürlich ganz eindeutig Nietzsche gemeint.

Dazu Franz Overbeck in Werke und Nachlaß, Band 7/2 Autobiographisches. "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde", Verlag J. B. Metzler, Hg. von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub, Stuttgart-Weimar 1999, S. 197

15. Die Fähigkeit sich in Nietzsche’s Urtheil über Luther u. Reformation (s. besond. Meschliches, Allzum. 237. Aphorismus ...) zu finden, ist für mich ein Gradmesser der Bildung eines Menschen, namentl. eines Deutschen. Den Reigen der Unfähigen hat hier der zürnende Rich. Wagner angeführt (Bayreuther Blätter 1879 S. 129), seiner vehementen Art gemäss N. gleich fortissimo missverstehend und ihm unrecht tuend.


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