Heidegger und Nietzsche
Helmut Walther (Nürnberg)


Teil II ( Zu Teil I     Zu Teil III)

Die Grundfrage nach dem Wesen des Seins im Ganzen

1. Ein erster Versuch zur Grundfrage
a) Der griechische Ausgangspunkt
b) Der neue Ausgangspunkt: Die Verfaßtheit des Seins im Ganzen
c) Wahrheit und Angemessenheit

2. Die Grundfrage
a) Welches Vermögen kommt hier in Frage?
b) Die Entfaltung der Grundfrage als Vernunftkritik
c) Erster Versuch zum Verhältnis von Sein und Zeit
d) Seinsverlassenheit?
e) Heidegger und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus
f) Das Ende der Metaphysik

1. Ein erster Versuch zur Grundfrage

a) Der griechische Ausgangspunkt
Mitgehendes Denken sollte der Forderung genügen, sich niemals soweit in seiner Begrifflichkeit wie in seinem Gehalt von der inneren Nachvollziehbarkeit zu entfernen, daß es nicht die gleichen Lebenstatsachen, wenn auch in anderen Worten und Begründungen, bei anderen Denkern wiederfinde. Wenn es auch schwierig ist, so muß es doch ebenso mit Heidegger gelingen – der doch immer wieder zu artigen Komplimenten Anlaß gibt, weil er, wenn auch aus einer anderen "Ecke" (des Seins im Ganzen) oft zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt: Weniger wohl darin, wie Nietzsches Philosophie selbst zu werten sei; also was diese "an sich" sei (etwa im Hinblick auf das Viele, was Heidegger auszublenden oder umzudeuten genötigt ist), als vielmehr darin, wie die in ihr verborgenen Lebenstatsachen und Seinsbestimmungen erstens zu sehen sind, und zweitens, wie Nietzsches Seins-Bestimmungen insgesamt der Philosophie wohl einzuordnen seien. Dabei muß es einen inneren Zusammenhang der verschiedenen Ausgangspunkte gegenüber demjenigen Nietzsches geben, denn Heidegger gelangt in Ziel und Gehalt des Seins im Ganzen zu einer anderen Bestimmung als jener, vielmehr ist sein Ansatz dem hier vertretenen verwandt. Dies kann aber nur daran liegen, daß in beiden Fällen ein anderer und "tieferer" Ansatz gewählt wird, als Nietzsche tut, nämlich die Grundfrage erst durch die Entfaltung der Anfangsfrage zu einer solchen zu machen.

Heidegger versucht in der Weise neu anzusetzen, daß er sich in gleicher Weise in die Ausgangslage des griechischen Denkens zurückversetzt; und nun meint er aus dem Aposteriori der Reflexion, daß das griechische Denken, kulminierend in Platon und Aristoteles, die Anfangsfrage nach dem Sein im Ganzen nicht in der eigentlich notwendigen (aber damals eben unmöglichen) Weise entfaltet, sondern sofort gestellt habe. In dieser "Stellung" (sic) ist aber schon ein Fest-Stellen, ein Fest-Machen enthalten dahingehend, daß man das "Wahre" im Sinne des Zieles des Seins im Ganzen auch wissen könne. Hierin wird bereits eine apriorische Statik wirksam; denn wenn das "Wahre" wißbar sein soll, so muß dies Wahre bereits im Sein im Ganzen vorhanden sein. Dies aber war für die Griechen als die Vorangehenden und Eröffnenden der Rezeption und Reflexion der zweiten Kategorie noch gar nicht anders sicht- und denkbar: der Vorrang des Seins des Seienden im Lichte der erwachenden Vernunft – diese Erarbeitung des Wesenhaften im Seienden ist gerade die Öffnung der Reflexion der Ratio als Vernunft – dieser Vorrang trägt in das Werden eine (in Wirklichkeit unerlaubte) Beschränkung hinein, indem das Werden dann immer nur gesehen wird als die Bewegung vom eigentlich Nichtseienden, nur beschränkt am Seienden Teilhabenden hin zum wahren Sein in der Idee = Platon. Auf diesem Wege wird das Werden immanent, jedenfalls aus einer höheren Warte in der Erkenntnis der Selbstbeschränktheit der Vernunftkategorie; aus Platons Sicht ist dieses "Werden", der Fortschritt vom uneigentlichen Sein des Seienden hinein in die Idee des Wesenhaften gerade der Weg der Transzendenz, wie sie sich zur damaligen Zeit numinos erleben läßt, sich a posteriori selbst als immanent erweist. Wird das "Werden" aber derart platonisch gefaßt, so ist das Neuschaffen im Seienden, welches damit auch das Sein im Ganzen umschafft, ausgeschlossen, der Werdevorgang liegt lediglich in der Stufenbewegung hin zum wahren Sein in der Einen Idee. Diese wahre Idee wird als im Sein im Ganzen vorhanden vorgestellt, weshalb es nur derjenigen Anstrengung bedürfe, im Wege der Erkenntnis von den Ideen bis zur Einen Idee durchzustoßen (Höhlengleichnis, Symposion). Durch dieses sofortige Stellen der Frage nach dem Wahren des Seins im Ganzen wird das Wahre als immer gleiches und bereits Vorhandenes statisch. Das Wesen des Wahren selbst wird nicht angefragt – aber dies war auch gar nicht die Aufgabe, vor welche die Griechen gestellt waren. Und im Gegensatz zum griechischen aletheuein (a-lethes, entbergen: welche Begriffsbildung auf die Aufgabe der Griechen deutet: das verborgene, jedoch vorhandene Wahre aufzudecken) ist im deutschen Begriff eine andere Notwendigkeit beim Denken des Wahren enthalten; das Wahre wird hier gedacht als eine erwiesene Gunst ("war" im Ahd. und Mhd. als Wortwurzel "Gunst erweisen" – also wohl mit dem heutigen "gewähren" zusammengehörend: die Herkunft und Gewähr des Wahren liegt nicht allein beim empfangenden Individuum).

Es ist diese Möglichkeit der jenseitigen Unverborgenheit des Wahren, die Nietzsche in der platonischen Auffassung angreift, insbesondere jedoch im hierin platonisierenden Christentum; denn hierdurch werde die Wahrheit gegen das Leben gesetzt, das lebendiges Schaffen als WzM sei; dieser sei jedoch durch jenes angeblich Wahre und dessen falsche Apriorität gelähmt. Gegenüber diesem griechischen Streben nach dem Sein im Wahren wird versucht, das Werden als WzM in den Vordergrund zu stellen: Das Werden wird erst und dadurch zum Sein, wenn sich im Darüber-Hinaus-Sein des Augenblicks der EWdGl dieses Werden mit dem Sein als durch den WzM Neugeschaffenes zusammenschweißt, weil sich in diesem Moment das Werden dem Sein einpräge. Genau umgekehrt wie bei den Griechen wird nun das Werden zur Bedingung des Seins, das Bild dafür aber ist der Übermensch. Doch selbst in dieser Umkehrung Platons liegt noch eine unerlaubte Beschränkung, die nämliche, aber auf den Kopf gestellte wie bei Platon selbst: Es wird für möglich gehalten, daß das Wahre des Seins im Ganzen für die Vernunft wißbar sei, denn es wird darüber mit eben dieser Vernunft eine feststellende Aussage getroffen, wenn das Wesen des Seins im Ganzen als EWdGl bestimmt wird. Die Nietzschesche Seinsverfaßtheit als EWdGl und die Wesensart dieses Seins als WzM, beides bezogen auf das Sein im Ganzen, erfahren im "Augenblick", im "Mittag" ihre Vereinigung, sind im Annehmen dieses Gedanken der EWdGl identisch; dieser WzM will sich selbst im Augenblick als einer Über-Sich-Hinaus-Steigerung in der ewig gleichen Wiederkunft. Und so segnet der über sich Hinausgehende in diesem Augenblick des höchsten WzM im Jasagen zu dieser EWdGl seinen Untergang. Der Selbstwiderspruch als Ausschluß der Freiheit in der EWdGl (es muß alles schon dagewesen sein und ist insofern bloße Wiederholung) wie das Abstoßende für die Vernunft ebenso wie für die existentiell-lebendige Innerlichkeit liegt in der Beschränkung des Wahren des Seins im Ganzen, welches hier von der Vernunft verkündet wird: Auch das Wesen des Übermenschen wird als bekannt beschrieben, also was das Sein im Ganzen und wie es verfaßt sein werde, wenn dieser Übermensch erst einmal erschienen sei. Auch dann noch soll das dionysische Chaos des WzM die wahre Seinsverfaßtheit sein, dies erst sei der eigentliche Zweck des Menschen, daß er der Übergang dahin sei; genügt aber diese Bestimmung seitens des Menschen, der selbst nur als Vorläufigkeit gesehen wird, dem Wesen des Seins im Ganzen wie der tatsächlichen Verfaßtheit des Seienden? Und ist der Übermensch das "Ende der Fahnenstange", soll "nach" diesem die Welt neu beginnen in der EWdGl? Oder kommt der Über-Über-Mensch? Mithin: diese unerlaubte Beschränkung des Seins, die in der Möglichkeit des Vorstellens in der Vernunft gegeben ist; die Einordnung des Menschen als einer abzustoßenden Vorläufigkeit im Seienden; das Nicht-zum-Stehen-Bringen des Zieles des Seins im Ganzen mit der EWdGl, all dies verweist auf einen fehlerhaften Ansatz, den Heidegger allgemein erschließt als der ganzen abendländischen Philosophie zugrundeliegend, wenn und weil sie die Anfangsfrage nicht zur Grundfrage entfaltet und damit diese in sich selbst gefangene Anfangsfrage das Denken in Richtung auf das Sein des Wahren feststellt. Diese Erkenntnis kann erst jetzt statthaben nach dem Ende der Philosophie mit Nietzsche, der den Kreis zurückschließt, indem er einerseits Platon auf den Kopf stellt und gleichzeitig das Sein mit dem Werden zu vereinen sucht, dabei aber immer noch in der gleichen Befangenheit der Anfangsfrage hängenbleibt, insofern auch in der EWdGl und dem WzM das Werden durch ein apriorisches Sein beschränkt wird als einer Seinsverfaßtheit, die angeblich für die menschliche Vernunft erkennbar und doch das "letzte Wahre" sein soll, das Sein im Ganzen. Auch noch in dieser Bestimmung des Seins im Ganzen liegt die Beschränkung des Werdens durch das Sein – und dies ist ein Übergriff der Vernunft, ein Feststellungsversuch; dies zwar nicht mehr unter dem Namen des "Wahren", sondern "im Namen des Lebens" – und so wandelt sich das Wahre zur Illusion, alles wird zur "Kunst", und Kunst zur höchsten Form des WzM: Denn diese "Kunst" ist die höchste Schaffnerin der Illusion, dies ist die Steigerungstätigkeit des Lebens selbst in der Erscheinung. Damit sei das Wesen des Seins im Ganzen erkannt, seine Verfaßtheit wie auch das Wesen allen Seienden – das Schaffen ist höher als das Wahre. Aber selbst hier verbirgt sich noch ein Selbstwiderspruch: Indem doch diese Erkenntnis zuletzt wahr sein soll – denn nur als wahre Erkenntnis ist sie Erkenntnis und kann im "Augenblick" angenommen werden?! –, steht und fällt diese Erkenntnis doch wieder damit, ob sie auch wahr ist.

b) Der neue Ausgangspunkt: Die Verfaßtheit des Seins im Ganzen

Nach Abschluß des Kreisbogens der Metaphysik kann man nach Heidegger auf die Nichtentfaltung der Anfangs- zur Grundfrage aufmerksam werden, was gleichzeitig bedeutet, daß die Neuzeit eine Endzeit und damit gleichzeitig das Gegenstück zu einer neuen Anfangszeit ist (was sich durchaus mit der hiesigen Auffassung von Rezeption und Reflexion deckt: daß jede Reflexionsphase immer auch den Keim einer Rezeptionsphase in Richtung auf ein Neues in sich trägt). Das Entfalten der Grundfrage aber muß so gestaltet werden, daß die Anfangsfrage: "Was ist das Sein im Ganzen?" konkretisiert wird zu: "Wie ist die Verfaßtheit des Seins im Ganzen?" bzw. "Was ist die Weise des Seins im Ganzen?" Hier kann nicht gewillkürt werden, wie dies von Platon bis Nietzsche durch die Feststellung des Seins und der damit gegebenen Beschränkung des Werdens geschieht, sondern diese auffaltenden Fragen müssen zuerst beantwortet werden, und zwar ausgehend vom Seienden als Ganzem, von dessen Verfaßtheit und Weise; denn nur dies Vorgehen gewährleistet, daß keine vorzeitige Beschränkung in das Werden seitens des Seins hineingetragen wird.

Genau dies versucht der vorliegende Versuch der Beschreibung des Endes der Metaphysik zu leisten: Einen neuen Grund zu legen (Grundfrage), wie die Verfaßtheit des Seins im Ganzen einerseits gedacht, mehr noch, existentiell erfaßt werden kann, ausgehend von der Verfaßtheit des Seiendem im Ganzen. Diese Verfaßtheit ward gefunden in der kategorieschaffenden Schichtung des Seiendem vom Anorganischen zum Organischen einschließlich des Menschen; und die Weise dieses Schaffens ist Funktionsübertragung durch und als existentiell-lebendige Innerlichkeit an der jeweiligen Phylogenesespitze. Die Übereinstimmung wie Abkehr von Platon fußt in der Erkenntnis, daß heute unser Wahres und unser Heiliges nicht mehr identisch sind, wo diese beiden für ihn als den Vollender der Rezeption der Vernunftkategorie noch identisch sein durften und mußten. Platon konnte die Anfangsfrage gar nicht entfalten, denn zu dieser Reflexion (diese Reflexion ist der Weg der abendländischen Philosophie) mußte zunächst die Rezeption als die Feststellung des Seins, des Wesenhaften (= verselbständigte Abstraktion) geleistet werden. Mit Nietzsche jedoch trifft die Philosophie, weil nunmehr die Durchreflektierung der Vernunftkategorie abgeschlossen ist, an ihrem Ausgangspunkt ein: In seinem auf den Kopf Stellen Platons sowie in seiner EWdGl schließt sie sich selbst innerhalb der Vernunftkategorie zusammen, vielmehr, dies versucht Nietzsche, und wird damit gleichzeitig Gegen- und Abstoß in Richtung auf Transzendenz dieser Kategorie. Das Umdrehen Platons, das den Kreis der Reflexion in der Vernunftkategorie schließt, ist in ihr die letzte Möglichkeit: Die Reflexion der Vernunft erkennt ihre eigene Rezeption als durch sich selbst bedingt, als ihre eigene Geschichte und Schichtung; und so muß sie zunächst an ihren eigenen Ausgangspunkt zurück, und sie muß von sich selbst hinweg, sie sieht, daß sie zu ihrer eigenen Gründung eines Anderen bedarf – und so steigt Nietzsche eine Stufe tiefer zum Chaos im WzM.

Frage: Warum vermochte Nietzsche noch nicht die Entfaltung der Grundfrage zu leisten? Antwort: Weil erst noch diese Rückführung zu den Anfängen nötig war, und aus der Rückführung noch eine Idee geboren werden konnte und mußte – und diese Idee ist Nietzsche. Denn erst in diesem Drehen in sich selbst brachte sich die von Platon ausgehende Philosophie zum Abschluß als das durchreflektierte Ende der Vernunftkategorie, das über sich selbst hinaus will und muß, und doch in sich gefangen ist (NB die Nähe zum Bild der EWdGl, in welchem sich dieser Sachverhalt ausdrückt) – was fehlte, war das Bewußtsein des Endes der Reflexion der Vernunftkategorie.

Aus dieser Notwendigkeit und zeit- wie philosophiegeschichtlichen Stellung, welche Nietzsche einnimmt, wird aber zwingend klar, warum seine Lehre, mehr noch als seine Idee, mißkannt und mißdeutet wurde, ja, daß er sich selbst mißdeuten mußte. Denn wie der reflektierenden Zeit das Schwergewicht fehlte (und fehlt), so hatte er ein Bewußtsein, daß mit seinem Philosophieren ein Ende gekommen sei – dies konnte seine eigene existentiell-lebendige Innerlichkeit jedoch nicht zugeben – weil sie solches niemals zugeben kann, sonst ist sie nicht mehr existentiell-lebendige Innerlichkeit, schon gar nicht an der Phylogenesespitze. Und so liegt in Nietzsches Drängen über dieses bewußte Ende hinaus quia absurdum jene Kraft, die sich alle möglichen Kategorieangehörigen bei ihm borgen wollen, weil auch ihnen das Schwergewicht fehlt, das sie doch suchen. Und so wird Nietzsche mißverstanden, nicht aber das Ende verstanden, das doch seine eigentliche Bedeutung ausmacht; vielmehr wird er, weil er dies auch selbst tut, aus der unteren Kategorie heraus interpretiert (Instinkt, Emotio, Ratio) – doch auch dies scheint mit einer gewissen Notwendigkeit zu geschehen im Ernstnehmen des Zeitverhafteten an Nietzsche, denn auch noch sein Selbstmißverstand muß wohl zuerst wahr- und ernstgenommen werden. Erst durch diesen Mißverstand wirkt er abstoßend (im doppelten Wortsinne) und macht auf das erneute Stellen der Grundfrage als Grundfrage aufmerksam – das war und ist letztlich Nietzsches Bedeutung. Denn er reicht noch nicht, konnte noch nicht reichen in den Grund, sondern "nur" in den Anfang des Seins im Ganzen seit Beginn der Vernunftkategorie und innerhalb derselben; noch war nicht beendet die Frage nach dem Seienden im Ganzen insbesondere im Hinblick auf den Menschen und dessen innere Antriebe, seines Geistes und also auch jener Vernunftkategorie (es fehlte etwa noch der "ganze Freud" und seine Folgen, ebenso wie Einstein und die moderne Atomphysik, die Biogenetik und Neurobiologie). Wird jedoch versucht, das Sein im Ganzen aus einer vorschnellen und fehlerhaften Bestimmung des Seienden im Ganzen zu erschließen, so folgen aus einer solchen in Wirklichkeit noch blinden Suche notwendig Irrtümer – und dies ist Nietzsche eben auch, wenn er über seine eigentliche Bedeutung als eines Endes hinaus- und dabei zurückdrängt. Noch einmal: Seine Aufgabe war nicht eine neue Bestimmung des Seins im Ganzen, sondern die in jenem philosophiegeschichtlichen Zeitpunkt notwendige Durchreflektierung des Bewußtseins vom Ende der Metaphysik der Vernunftkategorie, das Schließen des Kreises von deren Beginn bei den Griechen bis herauf zu uns: Die Erkenntnis, daß dieses Suchen nach dem apriorischen Wahren und Wesenhaften ein Zirkel der Vernunft in sich selbst ist, ein notwendig zu durchlaufender Zirkel, weil erst nach dem reflexiven Bewußtsein, daß dies ein in sich geschlossener Zirkel ist, die Frage nach dem Sein im Ganzen in neuer Weise gestellt werden kann.

c) Wahrheit und Angemessenheit

Wenn man, wie dies Heidegger insbesondere bei der "Erkenntnistheorie" tut (also was das Erkennen selbst und mithin der Mensch als erkennendes Wesen sei), Nietzsche metaphysisch auslegt, dann ist die Grenze der Auslegung überschritten, wenn man doch wissen muß, daß jener vor allem sagt, daß es nur Eine Welt gebe; denn das Metaphysische ist doch immer gerade derjenige andere Teil der Zwei-Welten-Theorie, welchen Nietzsche überwinden will, und durch seine Lehre überwunden glaubt. Dann aber seine Aussage vom "wirklichen Leben" abzuschneiden und ins Metaphysische zu übertragen (etwa mit der Begründung, daß man nur so Nietzsche "richtig" verstehen könne), das geht doch wohl zu weit. Denn Nietzsche will ernstmachen mit der Einen Welt; zwar bleibt er auf diese Weise, ob er will oder nicht, eben doch an die Zwei-Welten-Theorie zurückgebunden (wie auch Heidegger richtig sieht): Weil diese Zwei-Welten-Theorie die Folie der Lehre von der Einen Welt ist und bleibt und zu ihrem eigenen Verständnis immer diese vorausgehende Theorie auch noch braucht – dann aber die Auslegung wie Heidegger aus der anderen, metaphysischen Welt heraus zu führen, das ist ein sich selbst nicht Erinnern an vorher Gesagtes. Denn nun wäre Nietzsches Lehre in Wirklichkeit zu besehen gewesen unter dem erneuten Stellen der Grundfrage, nicht jedoch aus der alten Metaphysik heraus. Sonst setzt man Nietzsche nicht mit dem zu eröffnenden Sein des Ganzen in der notwendigen und anstehenden Eröffnung von dessen Verfaßtheit und Weise zusammen, sondern man bringt ihn dorthin ins Alte, wo er sich von diesem loszumachen suchte. Aber dies Neue selbst, auf dessen Suche Nietzsche sich begab, dies kann offenbar auch Heidegger nicht leisten, und darum weicht er ins Metaphysische aus, das er auf diese Weise Nietzsche unterschieben will (s. a.a.O. S. 559 ff.): "Ist dieser Rückgang" – das Erkennen des Erkennens – "ein solcher, der das Erkennen in seine eigene Wesenshelle zurückstellt? Oder wird es durch diesen erklärenden Rückgang dunkler? So dunkel, daß jedes Licht, jede Spur vom Wesen des Erkennens erlischt? Ist vielleicht das Erkennen des Erkennens jeweils das Wagnis eines folgenreichen Schrittes, den in Jahrtausenden einmal Einer vollzieht, indem er in ein Ungefragtes vorangeht? ... Es gilt zu sehen, inwiefern Nietzsche die äußersten Folgen dieser Entscheidungen zum Austrag bringt, ja bringen muß, sofern er im Sinne der denkerischen Überlieferung des Abendlandes und gemäß der Not seines eigenen Zeitalters und des neuzeitlichen Menschen metaphysisch über die Erkenntnis denkt." Nietzsche denkt aber gar nicht daran, metaphysisch über das Denken zu denken – wie sagt der doch?: "Es denkt!" Es sei nicht der Mensch als vernünftiges Wesen, das denke. Nein, der Leib ist es, der sich nach Nietzsche eine Ratio geschaffen hat, um seine Bedürfnisse um- und durchzusetzen: Instinktmoral des Herrenmenschen, für den das Erkennen des Erkennens selbst schon Metaphysik und unnützes Abschweifen bzw. eine Wille zur Macht der Dekadenz ist. Die Wahrheit dieser Ratio sei eine ganz andere als die des Leibes – dies umso mehr, wenn die Ratio im Dienste der Dekadenz stehe. Die eigentliche Wahrheit besteht für Nietzsche in ermächtigender Ausgezeichnetheit, welche sich in der Realität als Wille zum Übermächtigen ausweist, und nicht in blutleeren Büchern. Das einzig Metaphysische an seiner Erkenntnistheorie ist die "Erkenntnis", daß das Wesen des Erkennens eben gerade nicht metaphysisch sein dürfe. Der "wahre" zentrale Wert des Lebens selbst stammt für ihn nicht aus der Impotenz der nihilistischen Vernunft, sondern aus der Potenz des scheinschaffenden Instinkts.

Doch am Ende braucht auch Nietzsche noch die Wahrheit, und zwar vor der Kunst – denn was soll für seine Verklärung des Seienden durch die Kunst zeugen? Auch noch die Illusion, und dies erst recht, wenn der "Künstler" in seiner auszeichnenden Ermächtigung die Lebenssteigerung selbst sein soll, benötigt zuletzt die Wahrheit für sich, diese Illusion wird im Erweisen ihrer Tragfähigkeit des Darüberhinaus zur Wahrheit, sonst wäre die Illusion folgenlos, eine fixe Idee. Die gesteigerte Verklärung muß durch ihre Wahrheit (als Angemessenheit an das Vorher-Seiende in einem Darüberhinaus) als Wahrheit im Seienden festgestellt werden. Und so erweist sich auch hier – wie denn auch anders?! – am Ende die Wahrheit als stärker denn die Kunst. Dies übrigens auch unter dem Gesichtspunkt der EWdGl selbst: der "höchste Augenblick" des WzM, die verklärende Annahme des Ja zum Darüberhinaus – dieser Augenblick ist derjenige, wo sich das Vergehende im eigenen Untergang segnet, die Gegenwart ist der Übergang, in dem sich das Verklärte als Zukünftiges in die Bahn des Seienden als ewig Wiederkehrendes einreiht – dieser Augenblick kann aber nur dann eintreten, wenn sich das Verklärte als ein wahres Darüberhinaus in eine vorher nicht konzeptionslose Reihe des Seienden zwischen Zukunft und Vergangenheit einreiht. An jeder Stelle dieses Ringes der Ewigkeit gibt es immer nur eine angemessene (= wahre) Möglichkeit des Darüberhinaus. Alles andere ist lediglich Wiederholung, durch welche Wiederholung das Verklärt-Tragfähige zur festgestellten Wahrheit wird – wodurch wiederum die nächste Stelle im Ring der EWdGl zur Verklärung frei wird.

Eine neue Definition von Wahrheit: Das Wahre ist immer ein Geglücktsein, denn dessen Kennzeichen und Gehalt war es, ist es und wird es immer sein, mithin durch alle Kategorien des Lebens, mehr noch, alles Seienden, daß es sich in einem bestimmten Zusammenhang des Seienden als angemessen erweist. Mithin sich in dem vor ihm Seienden als das überlegene Darüberhinaus behauptet und auf Grund dieser Behauptung schließlich als Wahres in seinem und durch sein überlegenes Angemessen- und Geglücktsein "anerkannt" wird. Diese Anerkenntnis bedeutet durch alles Seiende hindurch, daß mit dem jeweiligen Erscheinen des neuen Wahren ein neuer Standard des Wahren selbst gesetzt wird, welches sich an die Spitze des Seienden setzt und durch welche neue Spitze alles vorher Seiende seinen Bezug zum Seienden im Ganzen erfährt. Dies ist aber immer noch, und darüber gehen jedenfalls in Bezug auf die Wahrheit weder Nietzsche noch Heidegger hinaus, nur der äußere rationale und "metaphysisch" aufgefaßte Bezug zur Wahrheit. Es gäbe aber gar keine neue Wahrheit (und damit niemals eine solche), wenn hier nicht auch eine innere Bezugsmöglichkeit zugänglich wäre. Zumindest Nietzsche hat mit dem "Augenblick der Ewigen Wiederkunft" eine Ahnung davon, von Heidegger ist hierin nichts Rechtes zu hören, ihm scheint die Innerlichkeit, die etwas Anderes ist als Denken, fremd zu sein. Jene verklärende Steigerung des einzelnen Seienden im Seienden im Ganzen, durch welche neue Wahrheit in die Welt gelangt, diese Steigerung wird nicht durch die "Kunst" hervorgebracht, und auch nicht durch "das Leben" noch "geschieht sie (es)" im Hinblick auf die "Kunst" noch im Hinblick auf "das Leben", nein, jedenfalls unter Menschen wird diese Steigerung vom Individuum vollzogen, und zwar aus dessen Innerem heraus.

Im Drängen nach dem Wahren (als Darüberhinaus) spricht sich immer zugleich das Drängen nach dem Heiligen aus – dieses Wahre und das Heilige sind identisch, weil dieses Wahre als angemessenes Darüberhinaus, das sich als Wahrheit erweist, die äußere Seite des Heiligen ist, zu welcher es die Individuen auf der Innenseite hinzieht, das Ausschlaggebende aber ist die Innerlichkeit als ziehendes Agens. Und diese Innerlichkeit kennt einen Ausweis des Wahren, den Heidegger sich nicht träumen läßt, und welchen Nietzsche an die falsche Stelle setzt (als "tiefste Lust" des WzM in der schaffenden "Kunst"): Das Wahre wird als Wahres von innen her gesetzt durch das Bewußtsein des Heiligen als der Einung, welche im Seienden (als das betreffende Individuum) den Bezug zum Seienden im Ganzen und darüber hinaus zum Sein im Ganzen bestätigt, und damit in völlig andrer Weise, als sich Heidegger diesen Bezug nur zu denken vermag – womit er den lebendigen Bezug eben gerade nicht hat.

2. Die Grundfrage

a) Welches Vermögen kommt hier in Frage?

Im erneuten Stellen und Entfalten der Anfangsfrage als Grundfrage ("Was hat es mit dem Sein in der Welt auf sich?") soll der Vorrang der Vernunft durchbrochen werden; das würde zunächst zweierlei Vorgehensweisen eröffnen: Da es noch immer diese Vernunft ist, die hier fragt, muß entweder als erstes oder aber im nachhinein eine Kritik dieser Vernunft geleistet werden, was sie sei, daß und wie sie die Frage nach dem Sein im Ganzen stellen und beantworten könne. Denn ansonsten wäre deren Vorrang nicht aufgehoben, sondern alle eventuell entwickelten Bestimmungen blieben in deren Perspektive gefangen, ohne daß davon ein Bewußtsein bestünde. Dann scheint es aber angemessen, diese Kritik zuerst zu leisten, um die Ergebnisse dieser Kritik bei der Entfaltung der Grundfrage bereits zur Hand zu haben als ein Wissen um die Perspektivität und die Art und Weise jener Perspektivität dieser Vernunft; womit ihr Vorrang als solcher zwar nicht gehoben ist, denn sie bleibt notwendig als die bislang letzte Funktion und Fähigkeit des Menschen zuständig für das Beurteilen. Der Vorrang ist damit aber insoweit verringert, als sich damit die Vernunft als eine Perspektive unter mehreren einzuschätzen lernt, weshalb sie die Wertesetzung durch sich selbst sowie die Behauptung der Erkenntnis des Wahren durch sich selbst aufzugeben gezwungen ist und dies eben dadurch erst auch vermag.

Würde man von der anderen Seite her beginnen, also sofort nach der Verfaßtheit und der Weise des Seins im Ganzen fragen: mit welcher zwiefachen Fragestellung das Setzen des Seins als das wahre Wesen des Seienden (wie die Griechen taten) vermieden werden soll, weil sich ohne diese Auffaltung der Anfangsfrage die Vernunft als das einzige Verbindungsmedium des Menschen zum Sein schlechthin selbst setzt (wo in Wirklichkeit die Rezeption der Vernunftkategorie anzugehen war) – so müßte die Verfaßtheit und Weise des Seins im Ganzen an Hand der Verfaßtheit und Weise des Seienden im Ganzen zu ermitteln gesucht werden. Rein "metaphysisch" (also ohne Bezug auf die Realität des Seienden) ließe sich über das Sein im Ganzen doch gar nichts denken, weil einem solchen metaphysischen Sein jeder innere Gehalt fehlen müßte; und weil man ansonsten von Anfang an die Eine Welt bereits wieder in Zwei Welten zerlegt haben würde. Also kann nur definiert werden: Das Sein des Ganzen, seine Verfaßtheit und Weise bestimmen sich als eine zusammenfassende Abstraktion (als Ermittlung des übergreifenden Gleichen unter dem einzelnen Verschiedenen) aus der Verfaßtheit und Weise des Seienden im Ganzen, wie dies sich als Seiendes zeigt. Nachdem wir hier aber schon zweimal (Abstraktion über das Seiende im Ganzen, welches wiederum eine Abstraktion aus dem Sichzeigen des einzelnen Seienden ist) auf die Weise des "Vernehmens" unserer Vernunft gestoßen sind (welche aus dem Anwesen des Seienden diese Schlüsse zieht), ohne noch irgend etwas bestimmt zu haben, andrerseits aber auf diesem Wege nicht wissen können, was und wie diese Vernunft "vernimmt" und danach das Wesen des Seins wie des Seienden bestimmen will, so scheint es richtiger, den ersteren Weg einzuschlagen und zunächst mit einer Kritik der Vernunft zu beginnen.

So hätte denn vor allem Fragen nach dem Sein die Vernunft sich selbst vorzusetzen – und wäre damit in einem Sprung mitten im Seienden! Was zwar einerseits Gefahren hat, als nun das Seiende zunächst ohne Bezug zum Sein im Ganzen angeschaut wird: nämlich die Vernunft als Seiendes unter Seiendem – womit aber gleichzeitig allzu schnelle Wertsetzungen vermieden werden können, wenn und soweit die Vernunft dies Bewußtsein mitnimmt, daß sie Seiendes unter Seiendem ist. Die Erzeugung dieses Bewußtseins geschieht zwar mittels dieser Vernunft, und so gerät sie hier wiederum in Gefahr, sich als "göttliches Licht" zu begreifen, weil es zuletzt immer sie selbst ist, die alles Seiende und auch noch sich selbst in ihr Licht taucht, und in der Tat ist die abendländische Philosophie von den Griechen bis zu Kant und Hegel immer wieder in die Vernunftperspektive gefallen; zwar hat sich auf diesem Wege das Selbstbewußtsein der Vernunft immer mehr "verdünnt", sich in ihrer Reflexionsphase immer mehr zurückgezogen, aber aufgehoben kann diese Perspektivität nur durch die vollständige Duchreflektierung der Vernunftkategorie werden. Eine gelungene Durchreflektierung = Doppelreflexion ist dann erfolgt, sobald die Vernunft die existentielle Erkenntnis von sich selbst hat (Heidegger würde sagen: diesen Gedanken denkt – und nicht nur weiß oder sagt), daß sie ein ausschließlich dienendes Werkzeug ist. Diese Doppelreflexion wird nun aber gerade dadurch geleistet, was der eigentliche und erste Untersuchungsgegenstand war: durch die Kritik dieser Vernunft – auch hier ein Kreis, aber kein circulus vitiosus! Denn mit diesem Kreis endet nichts, vielmehr läßt sich das Durchlaufen jeder Kategorie als Kreisbahn beschreiben; die Reflexion der Rezeption führt notwendig zu den Anfängen der Rezeption zurück, um schließlich nach erfolgter Rückwendung (etwa der Fall Nietzsche für die Vernunftkategorie) darüber hinaus zu gehen (was auch das Bestreben Heideggers ist). So verbleibt aber die durchreflektierte Kategorie, die sich des Wertesetzens in diesem Darüberhinaus entschlagen hat, ein vorzügliches Instrument, um sich selbst als Instrument sowie ihre eigenen schichtenden Voraussetzungen zu untersuchen. Dabei stellt sich denn heraus, daß die Kritik der Vernunft sich unversehens in einen viel größeren Kreis eingeschlossen sieht: Diese Kritik ist nur möglich als eine Untersuchung des Seienden im Ganzen. Und zwar in der Erkenntnis der Geschichtung alles Seienden, deren bislang letztes Produkt eben dieses Instrument Vernunft ist, das diese Untersuchung anstellt. Aber auch noch dieser Kreis, den die Vernunft von sich selbst ausgehend nach "unten", "hinten" und von dort aus wieder zu sich selbst hinauf durchläuft, zuerst jedes Seiende nach seiner Verfaßtheit einzuordnen (1. Halbkreis), sodann daraus die Verfaßtheit und Weise des Seienden im Ganzen abzuleiten einschließlich ihrer selbst (2. Halbkreis) – auch noch dieser Kreis ist nicht geschlossen, und die Durchbrechung, das Darüberhinaus wird gerade dadurch geleistet, daß erst jetzt die Frage nach der Verfaßtheit des Seins im Ganzen gestellt wird.

Hier ist das Seiende im Ganzen der Spiegel des Seins im Ganzen, sich zwar spiegelnd in einem Seienden: im Instrument Vernunft des Menschen – dies aber nicht zu Zwecken dieser Vernunft, sondern zum Zwecke der Ermittlung des Seins im Ganzen einschließlich dieser Vernunft und über diese Vernunft hinaus. Dieses Darüberhinaus kann dann durch diese Vernunft aber gerade nicht geleistet werden, als sie zu diesem Darüberhinaus aus dem Kreis des Seienden im Ganzen, den diese Vernunft einschließlich ihrer eigenen Zugehörigkeit zu diesem Kreis ermittelt hat, ein Unterhalb ist. Dieses Darüberhinaus kann nicht dem Seienden im Ganzen entnommen werden (wie etwa Nietzsche tut) – dies wäre gerade die ewige Gefangenschaft im Kreis des "Werdens" als EWdGl: eine unfruchtbare Selbstbefruchtung des Seienden durch Seiendes – nein, dieser Kreis des Seienden im Ganzen kann nur durchbrochen werden im Kontakt zum Sein im Ganzen (= "Gott"). Gehört die Vernunft aber bereits dem Kreis des Seienden an, so kann die eigentliche Frage nach dem Sein im Ganzen, was den inneren Gehalt des Seins im Ganzen anlangt, ebensowenig von dieser gestellt werden wie ihr der Kontakt dazu obliegt. Dies muß von einem Anderen her geleistet werden, wozu die Vernunft sich nur als dienendes Instrument verhält; sonst wäre die Doppelreflexion in Wirklichkeit nicht vollzogen und die Vernunft setzte wiederum sich selbst, sich selbst als diejenige, welche das Wesen des Seins im Ganzen zu bestimmen können meint.

b) Die Entfaltung der Grundfrage als Vernunftkritik

Die Entfaltung der Anfangsfrage geschieht nach Heidegger in der Grundfrage nach der Verfaßtheit und Weise des Seins im Ganzen; dazu vorweg die Antworten:

Die Verfaßtheit ist aufeinander bezogene, kommunizierende Offenheit, basierend auf dem ersten Gegensatz, der ersten "Ungleichheit" im Seienden.

Die Weise ist der Aufstieg der existentiell-lebendigen Innerlichkeit ("migratio des e.v.") als sublimierender Schichtung und Zentrierung.

Zur Verfaßtheit des Seins im Ganzen: Das Wesen des Seins bildet das Stiften von "Beziehungen" als ständiges Schaffen von Bezügen entlang offener Beziehungsstränge. Neues Schaffen bringt aber notwendig neue Offenheiten ins Seiende und damit neue Beziehungsmöglichkeiten; durch dies Neue, insbesondere an der Phylogenesespitze (dies hier einmal auf die gesamte Materie bezogen) wandelt sich das Sein im Ganzen. Denn ist nach dem Neuschaffen im Seienden dieses Seiende im Ganzen nicht mehr das, was es vorher war, weil durch Veränderungen an der Phylogenesespitze ganz neue "Eigenschaften" ins Seiende eingetragen werden, so ändert sich damit gleichzeitig das Sein im Ganzen ("Gott"). Denn das Seiende im Ganzen ist immer Bestimmungsgrund und Spiegel des Seins im Ganzen. Mithin: auch noch die Bestimmung des Seins im Ganzen – auch die vorliegende – ist notwendig eine vorläufige. Das Wesen des Seins im Ganzen muß mit jedem Neuschaffen an der Phylogenesespitze neu bestimmt werden und ist immer nur solange gültig, bis ein neues Schaffen erscheint. Daher läßt sich die bislang nicht endende Sinnsuche der Menschen verstehen, weil es heute die Menschheit ist, die innerhalb ihrer selbst nicht festgestellt ist und im Verlaufe ihrer eigenen Kategorien das Sein im Ganzen jeweils neu zu bestimmen hat, wovon etwa die kategorielle Entwicklung der Religion vom Magier- und Schamanenwesen zu den Natur- zu den Volksreligionen zum Monotheismus in den Hochreligionen und auch noch deren Auflösung beredtes Zeugnis gibt.

Zur Weise des Seins im Ganzen: Dieses Neuschaffen und damit der Wandel des Seienden wie des Seins erfolgt im Wege der Übertragung des Zentrums der existentiell-lebendigen Innerlichkeit ("migratio des élan vital"); diese migratio besteht jeweils in einem Kreis aus Rezeption und Reflexion, der nach seinem Durchlaufen durch das offene Drängen des e.v. als und in die Offenheit überschritten wird. Jede Reflexion führt bereits den Keim einer überhöhenden Rezeption mit sich, weil durch die Reflexion des ehemaligen Rezipierten neue Offenheiten erzeugt werden. Die migratio selbst tritt ein im Funktionsübergang als Ausbildung einer neuen "Zentrale" in jenem durch Rezeption neuerschlossenen Bereich (so spricht etwa das Kleinkind nach der migratio des lebendigen Innenzentrums in den Verstand von sich nicht mehr in der dritten Person, sondern kennt sich selbst als "Ich"). Die Reflexion der jeweiligen Rezeption beginnt genau im Zeitpunkt des Überganges des Innenzentrums in den jeweils höheren Bereich.

Fast von selbst sind wir damit von unserem Ausgangspunkt, der Kritik der Vernunft, zur Bestimmung des Seins im Ganzen gelangt – aber wie hätte dies auch anders sein können? Jene Brüche und Ungereimtheiten in den Übergängen (vom Einzelnen Seienden zum Sein im Ganzen ebenso wie in den Kategorien des Seienden) stammen immer nur aus einem angeblich "rein metaphysischen" Denken, das vom realen Leben wegsieht, und sich im Nicht-Erkennen der lebendigen Beziehungen und Schichtungen künstliche Beziehungen und Begriffe im Medium der Phantasie erschaffen muß. Auf einem solchen Wege, wenn das Denken der Vernunft das Seiende im Ganzen ausblenden möchte: weil die Vernunft hierin noch immer an ihren eigenen Vorrang glaubt, etwa an die Möglichkeit des "reinen Denkens", kann das Wesen des Seins im Ganzen nicht angetroffen werden; vielmehr erweist sich die Kritik dieser Vernunft als der direkte Weg zum Seienden als Ganzem und damit zur Auffaltung der Grundfrage zur Bestimmung des Seins im Ganzen einschließlich des zugehörigen Bewußtseins von der Vorläufigkeit einer jeden solchen Bestimmung.

Dieser Weg einer von oben nach unten vorschreitenden Kritik ist deshalb der einzig mögliche, weil das schichtende und geschichtliche Neuschaffen in der Richtung von unten bis zu uns hin nicht nachvollziehbar ist; wie die Verfertiger des Schöpfungsberichts der Bibel stünde man bei jedem Übergang in ein Höheres vor einem Wunder. Man darf nicht, wie etwa die Wissenschaft tut, ins Kleinste gehen, um von dort aus die Weise des Größten zu verstehen. Denn dann hätte man alle dazwischenliegenden, das Neue erst bedingenden Funktionsübertragungen und -schichten übergangen, welche sich dem Verständnis nur in einem schrittweisen Vorgehen von oben nach unten eröffnen. So kann sich unsere Vernunft niemals selbst verstehen, wenn sie ihre Funktion nur als eine neuronale Netzstruktur anschaut, und etwa die Zusammensetzung von Botenstoffen und den "Ort" von deren Rezeptorenanlagerung in der Netzstruktur des Gehirns mit Denkinhalten zusammenbringen will. (Was aber immer noch geschieht: etwa wenn behauptet wird, daß "man nun so weit sei", Selbstmordabsichten mit der Konzentration eines bestimmten Botenstoffes in Verbindung zu bringen!) Noch weniger bekommt die Vernunft von sich selbst zu wissen, wenn sie sich abscheidend von allem anderen Seienden "rein" anschauen möchte, eben metaphysisch (früher hätte man gesagt: als Abglanz des "göttlichen Lichtes"). Denn "metaphysische" Aussagen über diese Vernunft und gar über diese Vernunft hinaus mittels dieser selben Vernunft zu wagen, ohne die Physis dieser Vernunft, ihre Natur als Schichtung, ohne ihr seiendes Wesen zu kennen, ist nicht nur verwegen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes phantastisch. Die Vernunft ist ein "Resultat" der Weise des Seins im Ganzen, entstanden durch schichtende Funktionsübertragung, und sie erkennt in ihrer Kategorie (als Seiendes) die Verfaßtheit des Seins im Ganzen als ein sich steigerndes Schaffen von Beziehungen, welches durch diese Steigerung das Wesen des Seins im Ganzen selbst verändert, weil sich damit das Verhältnis des Seienden zum Sein im Ganzen grundsätzlich wandelt. So steht das Tier anders zur Welt als der Mensch, und der verstandesbewußte Mensch lebt in einer anderen Seinsbestimmung als der vernünftige.

Die Arbeitsweise der Vernunft bei der Verknüpfung von Tatbeständen zu einem theoretischen Zusammenhang ist Widerspruchsfreiheit; woher kommt dieser Satz von der Widerspruchsfreiheit als Grundaxiom des Denkens vom Seienden und damit auch vom Sein im Ganzen? Wie ist der Zusammenhang zwischen Widerspruchsfreiheit und Evidenz? Ist nicht das erstere der negative/neutrale Begriff im Gegensatz zur "eigentlichen Positivität" des zweiten? Ist Logik ein Negativverfahren, das seine Aussagen, also seine Urteile als ein Ja oder Nein immer aus der Widerspruchsfreiheit bezieht? Ließe sich sagen: der Satz von der Widerspruchsfreiheit ist die begriffliche Reflexion des Feststellungsverfahrens des Verstandes? Ist die Antwort der Rezeption der Vernunft als Reflexion des Verstandes, wie sie sich dessen Feststellungstätigkeit vorstellt? Was folgt für diesen Satz dann aus der Reflexion der Vernunft? Ist das Wesen des Satzes von der Widerspruchsfreiheit und sein Ursprung die Abgrenzung? Insofern nämlich die Abgrenzung die Abweisung von Unzugehörigem ist? Unzugehörig aber ist immer all dasjenige Seiende, zu dem das eben durch diese Abgrenzung selbst zum Seienden Werdende keinen Zusammenhang hat? Sinneseindrücke selbst sind Abgrenzungen: Das, was einen Sinneseindruck ausmacht, ist dessen Typisches, das Wesen des Typischen aber ist das Hervorspringen, durch welches es sich als Typisches hervorbringt und alles Unzugehörige abweist, ausgrenzt. Sprache selbst, als das Eine des Verstandes, ist ebenfalls, negativ aufgefaßt, nichts anderes als Abgrenzung: Mit dem bezeichnenden Wort wird ein Typus des Seienden von allen anderen abgegrenzt. So ist das Tun des Verstandes, wie er Verstand wird, von beiden Seiten her, vom Sinneseindruck wie von der Bezeichnung her Abgrenzung. Der Verstand in seiner Kombination von abgrenzendem Sinneseindruck und Typusbezeichnung grenzt damit in noch schärferer Weise ab als der bloße Sinneseindruck; denn gerade dies ist sein Feststellungsverfahren, das die Wirkungsursachen in die Helle dieses Verstandes als Verstand hebt. Und indem sich die rezipierende Vernunft dieses Verfahren ihres eigenen Verstandes vor sich stellt: wie ihr Verstand "etwas" "versteht", über dessen rechtes Verstehen nunmehr sie zu urteilen berufen ist, reflektiert sie dieses Verfahren des Abweisens des Unzugehörigen und der dadurch sich ergebenden Feststellung und sublimiert dieses Verfahren zu ihrem Gebrauche zum Satz von der Widerspruchsfreiheit. So vernimmt Vernunft das Verstehen des Verstandes aus eigenem Recht; Logik ist die Reflexion und Bewertung des doppelten Abgrenzungsverfahrens des Verstandes.

c) Erster Versuch zum Verhältnis von Sein und Zeit

Unter Außerachtlassen des gleichnamigen Werkes von Heidegger soll zunächst das Unterfangen gewagt werden, über die hier anstehenden Grundfragen selbständig und unbeeinflußt nachzudenken, um zumindest über eine eigene Grundlinie zu verfügen, welche Rolle in diesem Verhältnis zum Sein im Ganzen die Zeit spielt, und warum sie im bisher Gesagten kaum eine Rolle spielte? Letzteres wohl deshalb, weil die Zeit bis hin und einschließlich der ersten Kategorie des Menschen keine Rolle spielt, jedenfalls nicht als Zeit in ihrer doppelten Weise, sondern lediglich als Dauer, somit nur als die eine Seite der Zeit, als relative Zeit 1. Grades (= die Relation des Kreislaufes). Was sich leicht zeigen läßt etwa an den Kalenderzählungen, die mit dem Herrschaftsantritt eines Regenten verbunden werden – was auch heute noch durchaus gebräuchlich ist, etwa in Japan – und auf die Regierungsdauer abheben. Die Zeit wird hier nicht als abstrakt fließende gesehen, sondern es wird in "Epochen" gerechnet; dies drückt sich ebenso in den Bestattungsriten aus, die in der Verstandeskategorie auf die Verlängerung eines leiblichen Lebens zielen, d.h. auf ein An-Dauern innerhalb der relativen Zeit als eines Andauerns unter Verwandlung des "Zustandes" des Seienden. Die Zeit in ihrer doppelten Weise als relative Zeitlichkeit 1. Grades wie als Zeitpfeil kommt erst mit der Vernunftkategorie ins Spiel als Folge der Rezeption und Reflexion der Vernunft; zunächst sicherlich ganz einfach als rezipierende Verlängerung der Zeitlichkeit selbst. Denn wie die vergleichende Rezeption der Vernunft vom Richtigeren auf das einzig Richtige schließt, ebenso von der Dauer im Seienden auf die Dauer an sich: die eigentliche Zeit. Zeit als diejenige Zeit, in welcher alles "bloß Dauernde" enthalten ist, also eine Abstraktion der rezipierenden Vernunft als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aus diesem Verstand der Zeit der Rezeption macht die Reflexion der Vernunft die Ewigkeit: der bloß horizontal-additiven Verlängerung zur Dauer an sich wird im Wege der e.v.-migratio ein positiver Gehalt hinzugefügt; die "Ewigkeit" wird selbst ein Etwas. Anders ausgedrückt: Ewigkeit ist diejenige Form der Zeit, in welche das Sein im Ganzen eingebettet sein soll; Zeit als Zeitpfeil ist diejenige, in welcher das Seiende im Ganzen spielt; Dauer ist die Form der Zeit, in welcher sich das einzelne Seiende vorfindet. Hieraus läßt sich übrigens ein Gegenbeweis zur EWdGl ableiten: Nietzsche behauptet, Ewigkeit könne überhaupt nur als ein zyklisches Wiederkehren gedacht werden (dazu führt ihn die Annahme, daß die Zeit unendlich, die "Kraft" und die von dieser bewirkten Zustände der Welt aber endlich seien). Einmal abgesehen davon, ob es hier auf das Denken ankommt, trügt dieser Schluß allein schon deshalb, weil dadurch die Ewigkeit zerlegt würde in Ewigkeiten – jeder "Zyklus" entspräche dann gerade einer Ewigkeit; damit ist aber für die letzteren "wiederkehrenden" Ewigkeiten der Begriff falsch gewählt, weil sie im Hinblick auf die Eine und unteilbare Ewigkeit Endlichkeiten sind! Eine Ewigkeit kann nicht wiederkehren, oder sie ist keine solche.

Aber wichtiger: haben wir mit dem Begriff "Ewigkeit" das eigentliche "Wesen" von Zeit überhaupt berührt (wesen hier Heideggersch als aktives Tun genommen) – oder haben wir es nicht auch hier mit Spielereien der Vernunft zu tun? Gehört doch die Vernunft nach der Reflexion zum Seienden, mithin auch deren Begriff von Zeit und Ewigkeit? Dies Ergebnis erstaunt zunächst (im Sinne des thaumazein), als hier damit geschrieben und anscheinend folgerichtig feststeht: die Ewigkeit ist Teil des Seienden ... – was bedeutet das? Die Vernunft steht an diesem Punkt zunächst einmal still, aber eins ist jedenfalls klar: Unser vernunftbasierender Zeit- und Ewigkeitsbegriff läßt sich nicht in eine etwaige weitere Kategorie mitnehmen, ebensowenig wie derjenige der Dauer von der Verstandes- in die Vernunftkategorie gelangen konnte, sondern auf diesem Wege zur absoluten Zeit entfaltet werden mußte. Anders ausgedrückt: Die Beschreibung, daß das Sein im Ganzen in die Zeit als Ewigkeit eingebettet sei, dies ist zwar eine "Wahrheit" (die Vernunft stimmt denn auch durchaus zu), aber dies ist eine festgestellte Wahrheit und damit ein Seiendes, etwas, das überholt werden will. Auch diese Anschauung darf nicht "verlängert" werden, quasi als "letztes Unterpfand" (nämlich der Vernunft) bei sich getragen werden. Nein, auch dies noch muß losgelassen werden, oder die Vernunft versucht sich als Vernunft an einen "Ort" hinzumogeln, an welchen sie niemals hingelangen kann, und sie bleibt in sich gefangen. Offenbar hat unsere Vernunft zwar einen Zeitbegriff, aber in seiner traditionellen Form ist er überholt, was sich in der Wissenschaft ebenfalls zeigt am Begriff der Raumzeit im Gefolge der Relativitätstheorie Einsteins, mit dem doch wohl die Zeit in doppelter Weise relativiert wird. Einmal in Richtung auf denjenigen, für den die Zeit "vergeht", der sie mißt: Es kommt darauf an, an welcher Stelle des "Systems Kosmos" und in welchem Verhältnis er insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Geschwindigkeit zu den anderen Gegebenheiten dieses selben Kosmos steht. Zum andern ist die Raumzeit selbst insofern nicht absolut, als sie als Raumzeit sich vierdimensional entfalten soll, und somit womöglich wiederum in sich zusammenstürzen kann – womit hier das zyklische Bild der Griechen und Nietzsches zurückkehrte, es sei denn, man neigt einer Auffassung der sich aus- und ineinanderschlingenden Raumzeit zu.

Dieser wissenschaftliche Zeitbegriff bringt mithin außer der richtigen Relativierung des verabsolutierten Zeitbegriffs der Vernunft für die innere Anschauung der Zeit nichts wesentlich Neues; es ist die Reflexion der Vernunft, welche ihre eigenen Absolutismen auflöst, ohne doch selbst das Wesen der Zeit angeben zu können. Was also anstünde, wäre eine neue Rezeption der Zeit, wodurch man sowohl über den verabsolutiert "wahren" wie auch noch den modernen wissenschaftlichen Zeitbegriff hinaus gelangte.

d) Seinsverlassenheit?

"Die Seinsverlassenheit des Seienden als Verweigerung der Wahrheit des Seins", "diese Überschattung des Seins durch das Seiende kommt aus dem Sein selbst" – Wahrheit hier sicherlich wieder griechisch gedacht als aletheia – mithin behauptet Heidegger die Verweigerung des Entbergens des Seins, herstammend aus dem Sein selbst – was sagt uns das? Das Seiende im Ganzen und das Sein bestimmen sich gegenseitig; Wahrheit des Seins ist immer nur dann und soweit vorhanden, als das Seiende jene entbirgt. Wenn aber diese Seinsverlassenheit aus dem Sein selbst stammen soll, so gibt es zwei Möglichkeiten:

a) Die Seinsverlassenheit des Seienden gehört zum Sein im Ganzen, ist dessen Bestandteil – wobei es Heidegger allerdings jedenfalls an dieser Stelle unterläßt, zu sagen, ob er diese Seinsverlassenheit im Seienden im Ganzen nur auf den Menschen (im Gegensatz zu allem anderen Seienden), oder nur auf den neuzeitlichen Menschen bezogen wissen möchte; und wenn letzteres, welche Annahme er nahelegt, ob auf alle neuzeitlichen Menschen, oder nur auf den Teil des Daseins, der sich dem "Man" unterstellt.

b) Oder das Sein selbst und seine Wahrheit wandeln sich, so daß die Seinsverlassenheit von dem gewandelten Punkt des Seins aus zwar gegeben ist, aber vom in der Seinsverlassenheit Seienden deshalb nicht bemerkt wird, weil es noch an die vorherige Wahrheit des Seins glaubt – etwa, weil es diesen auf Taubenfüßen einherkommenden Wandel gar nicht mitbekommen hat (und vielleicht auf Grund seiner Ausstattung gar nicht mitbekommen konnte)?

Dieser Sachverhalt läßt sich auch folgendermaßen ausdrücken: Die Seinsverlassenheit ist jener berühmte Verlust der Mitte, die Nicht-Teilhabe am Heiligen, das Heilige gesetzt als Ziel an der Phylogenesespitze, zu welchem hin diese immer wieder unterwegs ist. Diese Seinsverlassenheit gehört einerseits selbst zum Bestand des Seienden, denn es werden in einer Generation alle Kategorien des Seienden (hier bezogen auf den Menschen) geboren, welche notwendig so ausgerüstet sind, daß sie aus der Warte des "wahren Seins" gar nicht anders als seinsverlassen sein können – das Seiende als sich stufendes, das in dieser Stufung erst das Seiende im Ganzen ausmacht, wird zu seinem größten Teil immer aus solchem Seienden bestehen, das eben gerade nicht in der Wahrheit des Seins steht. Wirklich berühren kann dieses Problem somit nur die Phylogenesespitze, weil nämlich alle Schichtungen unterhalb derselben aus der Verfaßtheit des Seins im Ganzen heraus notwendig sich in der Seinsverlassenheit befinden müssen; die Phylogenesespitze ist es, die allem Seienden den Bezug zum Sein im Ganzen gewährleisten muß. Was diese in dem einen Fall, wenn die Neueröffnung einer Kategorie ins Seiende eingetreten ist (Rezeptionsphase), auch vermag, weil hier Neuland sichtbar geworden ist, das Tätigkeit in die Breite erlaubt und fordert. Anders sieht dies aus, wenn eine Epoche (Kategorie) zu Ende geht: Wenn sich die Wahrheit des Seins im Ganzen vor ihrem Wandel verbirgt. Dann ist die alte, vorherige Wahrheit zwar verfallen, aber noch weithin in Geltung (einschließlich aller Wahrheiten unterhalb derselben aus den früheren Kategorien), aber die neue Wahrheit ist "noch nicht da", auch die Phylogenesespitze ist aus der Weise des Seins im Ganzen (daß der Wandel durch e.v.-migratio herbeigeführt wird) notwendig in Seinsverlassenheit verschattet. Für die seinsverlassene Phylogenesespitze ist es jedoch eine objektive Unmöglichkeit, aus sich selbst heraus, als hintangelassene Wahrheit, die neue Wahrheit des Seins im Ganzen zu entbergen.

e) Heidegger und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus

Dies ist die Stelle, an der näher bestimmt werden soll, was einst Heideggers biographischer Jünger (W. Biemel, rororo-Monographie) nur dunkel anzudeuten wußte: Ob überhaupt und wie jener ein Vorwärts in der Entwicklung des "Abendländers", angeleitet natürlich von der Philosophie, für denkbar erachte. Zu diesem Zwecke soll zunächst versucht werden, die Haltung desjenigen Heideggers zu klären, der 1933 von den Nazis das Rektorat in Heidelberg übernimmt, also eine Übereinstimmung dessen für möglich hält, was die Nationalsozialisten wollen, bzw. worin er selbst das Vorschreiten der Entwicklung zu finden meint, und mit welchem Fortschritt die Seinsverlassenheit überwunden werden soll.

Bis an sein Lebensende ist Heidegger der Überzeugung, daß das erneute Entbergen der Wahrheit des Seins nur aus der inneren Verbindung von Griechentum und "deutschem Wesen" entspringen könne; daraus entstehen ihm zwei transzendentale Bezugspunkte, welche ihn den Beginn des NS-Regimes mit einem neuen Anfang in seinem Sinne verwechseln lassen: Das Deutschtum in seiner Eigenart und Sprache sei es, welches allein an die Ursprünge der Griechen zurückzufragen vermöge, um in einem entdeckenden Denken des wahren Seins das Abendland zu erretten (so bedienten sich die Franzosen der deutschen Sprache, wenn sie "wirklich" zu denken begännen ...); Träger dieses Deutschtums sei das Volk. "Volk" wird dabei als überpersönliches Prinzip gedacht, dem der Einzelne sich zur Verfügung zu stellen habe; dieses Volk habe sich selbst als neuen Anfang gewählt im Führer, der seine Aufgabe und sein Wesen verkörpere. Dabei sei die "geistige Welt eines Volkes ... die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte" ... "Flamme, künde uns, leuchte uns, zeige uns den Weg, von dem es kein Zurück mehr gibt! Flammen zündet, Herzen brennt!" "Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz." Wie Nietzsche und in vulgarisierter Weise das NS-Regime möchte auch Heidegger den Menschen umschaffen "aus der Macht einer im Grunde verborgenen Bestimmung. Und diese Bestimmung ist erstlich und letztlich der geistig-politische Auftrag eines Volkes. Das Wissen um diesen Auftrag gilt es zu wecken und einzuwurzeln in Herz und Willen des Volkes und jedes seiner Menschen." Haupterziehungsmittel dafür ist ihm die Universität, welche daher im Sinne des Deutschtums und des Führerprinzips revolutioniert werden muß. Anders als das Regime hat Heidegger dabei eine wesentlich längere Zeitstrecke für diesen Prozeß vor Augen; denn sein Gedanke des Umschaffens ist radikal wie bei Nietzsche und dient nicht einer bloßen Machtpolitik. Seine Äußerungen belegen, daß er im Moment dieser Verwechslung einer Art Machtrausch verfallen ist; erstens in der Weise, daß es für ihn so aussah, als sei es seine Bestimmung, die geistige Führerschaft bei der Offenbarung des Deutschtums in der Rückführung auf die wesentlichen Ursprünge wahrzunehmen. Zweitens besteht eine direkte Beziehungslinie zwischen "Sein und Zeit" und der NS-Ideologie, wie Heidegger dort die Seinsstrukturen als Fundamentalontologie metaphysisch denkt. Diese Abstraktion aller Dinge wie des Menschen macht den einzelnen lebenden Menschen bedeutungslos, und darin deckt sich diese Auffassung mit derjenigen des Nationalsozialismus, daß der Einzelne nichts bedeute, das Volk alles: Der Mensch wird zum Material, das sich einer höheren Aufgabe zur Verfügung zu stellen habe. Erst auf diesem Hintergrund wird Heideggers unsägliches Verhalten gegenüber Jaspers einsichtig (wenn auch nicht verständlich), wird klar, warum er gegenüber den Verbrechen des Antisemitismus schwieg. Für die Größe der Aufgabe waren wohl Opfer in Kauf zu nehmen... So ist denn auch seine Abkehr vom Regime und die Niederlegung des Rektorats weder in einer Gegnerstellung zu diesem Regime noch in der Aufgabe seiner eigenen Gedanken zum "deutschen Wesen" zu sehen. Vielmehr agierte ihm das Regime in geistiger Hinsicht nicht radikal und konsequent genug (Röhm-Putsch, Ausschaltung des revolutionären Moments); und in der Universität machte er sich all diejenigen zu Gegnern, welche den konservativen Universitätsbetrieb nur eben ein wenig im Sinne der NS-Ideologie reformieren wollten. So saß er allein zwischen den Stühlen, sympathisierte aber weiterhin mit dem Regime. Löwith gegenüber äußerte er noch im April 1936 seinen Glauben an Hitler und den Nationalsozialismus als Bestimmung des deutschen Volkes – und trug demonstrativ und ohne Not das Hakenkreuz.

Aus Heideggers "Nietzsche"-Vorlesungen, die genau bis zu Kriegsbeginn gehalten wurden, scheint andrerseits der innere Wechsel der Beurteilung des Nationalsozialismus in dessen realer Ausprägung hervorzugehen; denn wenn man seine Ausdeutung Nietzsches dem anderweitigen Mißbrauch desselben im Dritten Reich gegenüberstellt, so verbirgt sich dahinter doch wohl eine handfeste Kritik an den Nazis. Zwar in der Weise verpackt, daß nur das wirkliche Verständnis des Ganzen die Kritik freigibt – nichtsdestoweniger ist dies eine eindeutige Absage an die reale Ausformung der Ideologie durch das Regime. Dies geht nicht nur aus der Andersartigkeit der Auslegung als solcher hervor, die eher selbstverständlich ist: Heidegger ist als philosophischer Kopf von unerbittlicher und konsequenter Wahrheitssuche angetrieben, wo ein Hitler, Himmler, Rosenberg und Gefolge mit Nietzsche nur Mißbrauch treiben; sondern vor allem daraus, wie er den WzM auslegt: Zwar über den eigentlichen Nietzsche hinausgehend, aber gerade dadurch sich kritisch gegen die NS-Methoden stellend. Indem er sich für Nietzsche verwahrt gegen jene billigen Auslegungen, wehrt er sich gleichzeitig gegen eine Verwechslung seiner Ziele mit denen der Nazis. Was natürlich nicht nur im WzM als dem "Übermächtigen des Seienden" im "Augenblick" der EWdGl zum Ausdruck kommt, sondern vor allem auch im Ziel dieses Übermächtigens: 1939 (!) spricht er von der Seinsverlassenheit des Seienden als dem Kennzeichen seiner Gegenwart! Das bedeutet aber nichts anderes als eine radikale Kritik (die nur niemand wahrgenommen zu haben scheint) ausgerechnet zu demjenigen Zeitpunkt, in welchem das Dritte Reich seine höchste "Blüte" erlebt: das Semester schloß damals im Juli 1939 vorzeitig, so daß die letzten Vorträge (Bd. II) nicht mehr gehalten werden konnten. Juli 1939 bedeutet, daß der "Anschluß" Österreichs und die "Rückkehr" der Sudeten bereits unblutig erfolgt war, der Zweite Weltkrieg aber noch nicht in Gang gesetzt war. Für einen, der sich für die Sache der Nazis hätte einnehmen lassen, weil sie auch die Seine war, wäre das Erreichte Grund zum Jubel und zu noch feurigerer Teilnahme gewesen – das Gegenteil scheint bei Heidegger der Fall, er durchschaut die Methoden, die nichts weniger als vereinbar damit sind, wie er selbst die Erhöhung des Abendländers denkt. Man könnte sogar in der Tatsache, daß er den Haus- und Magenphilosophen des Dritten Reiches für seine Vorlesung auswählt, eine Provokation und eine Satire gegenüber seiner eigenen Gegenwart sehen. Denn die Art der Behandlung Nietzsches gerade in einer soseienden Gegenwart macht deutlich, wie Heidegger eine Fortführung des Seins im Ganzen und den Austritt aus der Seinsverlassenheit eben gerade nicht vorstellt. Folglich könnte man in diesem Vorgehen eine Distanzierung von der Praxis des Regimes erblicken; jedoch nicht aus Gründen der Menschlichkeit und Ethik, sondern vor allem deshalb, weil die Praxis die seiner Meinung nach eigentlichen Ziele des Nationalsozialismus, an welchen er selbst festhielt, nicht erreichen konnte.

Eine andere Frage bleibt, ob er sich nicht in einer offenen und direkten Weise hätte distanzieren müssen, als dies nach 1945 ohne Gefahr für Leib und Leben möglich war, wie Jaspers es forderte. Gegenüber Marcuse will Heidegger sich lediglich einiger Entgleisungen schuldig gemacht haben, ansonsten meint er, die Judenvernichtung mit der Vertreibung der Ostdeutschen gleichsetzen und damit rechtfertigen zu können. Dies macht deutlich, daß eine wirkliche innere Bewältigung nicht stattgefunden hat und seines Erachtens auch gar nicht statthaben mußte, weil er an seinen Gedanken, wie er sie in "Sein und Zeit" entwickelte und der NS-Ideologie lediglich konkretisierend anpaßte, zeitlebens festhielt.

Nachdem Heidegger sich in der Verwechslung seiner philosophischen Ideen mit der realen Nazi-Ideologie gehörig die Finger verbrannt hatte, war es notwendig, die nach wie vor anstehende Überwindung der Seinsverlassenheit wieder mehr ins philosophische Gebiet zu verlegen; daher soll nun versucht werden, demjenigen näher zu kommen, wie Heidegger die Überwindung der Seinsverlassenheit positiv verstanden haben könnte, indem diese mit den hier parallel laufenden Vorstellungen verglichen wird.

f) Das Ende der Metaphysik

Für Heidegger kommt alles darauf an, daß der Europäer und hier insbesondere der Deutsche die in der Neuzeit sichtbar gewordene Seinsverlassenheit überwindet, welche er als Verweigerung gegenüber der Wahrheit des Seins im Ganzen definiert (Wahrheit gedacht als aletheia = Ent-Bergen – die Verweigerung liegt dann im bewußten oder unbewußten Unterlassen des Entbergens). Darunter verbirgt sich ein vorhergehendes Urteil, das man durchaus mittragen könnte: Daß ansonsten der Abendländer am notwendigen aktiven Aufwärts des Lebens nicht teil haben werde, sondern in der Nutzung des Seienden in leerem Konsum verplätschere.

Dazu ist schließlich Heideggers Stellung zur (oder in der?) Metaphysik zu verdeutlichen; dies deshalb, als seine Argumentation meist aus dem Metaphysischen hergeholt ist, dieses Metaphysische jedoch Nietzsche zugerechnet wird – obwohl sich jener doch gerade als der Anti-Metaphysiker schlechthin vorstellt; und Heidegger sieht sich selbst auch nicht als Metaphysiker, sondern als über bzw. neben ihr stehend: "... diese Vollendung der Metaphysik (wird) zu einem Ende. Dieses Ende aber ist die Not des andern Anfangs." – sehr richtig. Damit ist hinsichtlich Nietzsches zweierlei gesagt: erstens gehört er noch zum Kreis der abendländischen Metaphysik, zweitens sei er ihr Ende. Was aber will das heißen? Nun, auch hier lassen sich wieder eindeutige Parallelen zu der hier vorgetragenen Auffassung aufweisen: der Bogen von den Griechen zur Neuzeit als eine Bewegung (Heideggers Kreis der Metaphysik), wird ebenso geschlagen; funktional genommen entspricht die Metaphysik der Rezeption und Reflexion der Vernunftkategorie, was seine innere Wahrheit darin hat, daß hier der Mensch in einem über die Physis hinausgehenden Medium, in seiner Vernunft, einzusehen und zu reflektieren lernt – das Wesen des Seienden muß zunächst das "wahre Sein" werden (= Rezeption), wohingegen die Auflösung dieser anthropozentrischen Idealität die Aufgabe der Reflexion der Vernunft ist mit dem Endpunkt Nietzsche. Endpunkt deshalb, als jener zwar die Eine Welt will, aber diese Eine Welt nur wollen kann, weil hier eine Zweite Welt negativ mitgedacht ist; ebenso wie er den Schein nur wollen kann, weil er das "Wahre" negativ mitdenkt. Nicht unpassend könnte man Nietzsche daher als "negativen Metaphysiker" bezeichnen, der, ob er will oder nicht, in seinem Beharren auf der Immanenz die ehemalige Transzendenz mitsetzt. Aus diesem Zwiespalt Nietzsches stammen auch die Auffassungsunterschiede, ob und wie "metaphysisch" die Äußerungen Nietzsches ausgelegt werden können und sollen; in Form und Inhalt sind sie notwendig auf die Immanenz hin angelegt (der "Biologismus"), in ihrem inneren Kern aber werden sie das Metaphysische zumindest insoweit nicht los, als sie gerade zu dessen Negation aufgestellt werden.

Hier wird nun eine andere Meinung über das Selbstbewußtsein Nietzsches vertreten: Dieser sieht sich selbst bereits auf der "besseren" Seite, er glaubt, bereits die existentielle Immanenz erreicht zu haben – nur von diesem (subjektiven) Standpunkt aus vermeint er, Handlungsanweisungen für und Ausblicke auf die Zukunft dieser Immanenz geben zu können; er hat kein Bewußtsein davon, daß er metaphysisch (= innerhalb der Vernunftkategorie) zurückgebunden ist. Dann aber seine Ausführungen von vorn herein als metaphysische zu interpretieren, und den metaphysischen Gehalt Nietzsche zuzurechnen, erscheint zumindest gewagt. Andrerseits ist natürlich die metaphysische Interpretation als solche gestattet, aber die ermittelten Gehalte muß Heidegger sich dann selbst zuschreiben. Als etwas, was bei objektiver Betrachtungsweise auch in diesen Äußerungen gefunden werden kann – und vielleicht sogar ihr eigentlicher Gehalt ist. Dieses grundsätzliche Verbleiben in der Metaphysik/Vernunftkategorie läßt sich bildlich so zeigen, daß man in dieser Weise: in der Umkehr des Seins zum Werden, in der Umkehr der Rezeption zur Reflexion am Ende "Gott" nicht mehr hinten, sondern vorne herausbekommt: der "Übermensch" Nietzsches als die höchste und letzte Aussage am Ende der Vernunftkategorie, durch welchen die Transzendenz in die Immanenz gezwungen werden soll – und damit zur EWdGl werden muß. Noch immer setzt sich hier die Vernunft selbst als höchstes an, selbst noch in ihrer eigenen Verleugnung als höchstes. Denn sie ist es doch, welche dies zu erkennen meint, und so bleibt sie quasi negativ der höchste WzM als Erkenntnis, wobei sie den positiven Gehalt dem "Schaffen" zuweist – der letzte Sieg der Vernunft.

Wie ist bei solcher Auslegung Nietzsches Heideggers eigene Stellung in Bezug auf die Metaphysik? Einerseits stellt er sich damit in den Bogen der abendländischen Philosophie unter Zugrundelegung der Vernunftkategorie in ihrer rezipierenden und reflektierenden Stufe. Die Auslegung geschieht dabei folgerichtig entlang des Weges dieser Kategorie von ihren Anfängen bei den Griechen bis hin zu ihrer letzten Höhe (Kant/Hegel), wo die reflektierte Vernunft selbst "positiv" werden will, bis hin zu Nietzsche als dem Endpunkt dieses Weges als Übergang und Nahtstelle: Einmal als Rückkehr auf den Ausgangspunkt der Griechen im Schließen des Kreisbogens der Vernunftkategorie, zum andern als Eintritt der Doppelreflexion, welche dieses letzte Gebäude der sich selbst befriedigenden Vernunft einreißt, indem diese nämliche Vernunft mit ihren eigenen Mitteln sich ihrer eigenen Leere überführt, wodurch sie ihrer Führungsrolle verlustig geht – dies aber ist das letzte, was Vernunft als Vernunft zu leisten vermag; anders ausgedrückt: Der Punkt der negativen Doppelreflexion, in welcher sich die Vernunft auf ihre eigene Ausgangsposition zurückgeworfen sieht, wie ihr im Wege ihrer eigenen Rezeption und Reflexion alle ihre noch so schönen Entwürfe des Seins mittels des ihr selbst (als reflektierter Vernunft) innewohnenden Wahrheitsprinzips (Anwendung des Prinzips von der Widerspruchsfreiheit auf sich selbst) zwischen den Fingern zerronnen sieht. Dann aber muß derjenige, der dieses Ende konstatiert, bereits "neben", "über" jener Metaphysik/Vernunftkategorie stehen, im Grunde kann er nicht mehr aus letzterer Kategorie heraus ausdeuten. Als dies so Sehender ist seine Stellung bereits eine "andere", und von dieser aus will er ein "Anderes". Er sieht sich selbst nicht mehr metaphysisch, er sieht für sich die Zwei Welten, auch noch in der Nietzscheschen Negativität aufgehoben, er weiß wirklich um die Einheit des Seins im Ganzen – aber er existiert noch nicht in dieser Einheit. Ist mithin Heideggers "Grundstellung" ein Daß, daß er in der Doppelreflexion steht, die als solche in sich selbst erkennender Weise zurückzuschauen vermag; und daß ein neuer Ansatz gefunden werden müsse, in seinen Worten: sich nicht zu weigern, die Wahrheit des Seins im Ganzen zu entbergen? Diese Grundstellung unterscheidet sich von der hier vorgetragenen, über die Differenzen gilt es sich klar zu werden:

a) in der Art und Weise des Bezuges von Seiendem zum Sein im Ganzen

b) in der Verfaßtheit des Seienden und damit auch des Seins im Ganzen.

zu a) Der Erkenntnisbegriff ist nicht der nämliche; nachdem aber gerade die Erkenntnis den Bezug des Menschen zum Sein im Ganzen ausmacht, so wird aus einem anderen Begriff von Erkenntnis auch ein anderer Bezug erstehen. Heidegger nennt dasjenige, was hier existentielles Erkennen genannt wird, das wirkliche Denken eines Gedankens. Die Differenz liegt darin, daß Heidegger auch noch in der Doppelreflexion nicht von der Vernunft lassen will, vielmehr steht er nach wie vor auf jener und durch jene. Denn bei ihm hat in der wesentlichen Erkenntnis (im Anwesenlassen des Seins im Ganzen) das Denken den Vorrang. Demgegenüber wird hier dem Denken der Vernunft "lediglich" eine nachrangige Rolle bzw. eine Kontrolle zugewiesen; denn das An-Wesen echter Erkenntnis wird in einem anderen Medium als der Vernunft erfahren wird, und diese Erfahrung ist hier als "e.v.-Kontakt" bezeichnet, d.h., das Aufscheinen einer innerlich-lebendigen Bewegung, wie sie etwa Pascal in seinem "Memorial" bzw. Nietzsche in seinem "Inspirations"-Text beschreiben. Diese Konstatierung, Konstanz und Instanz der Innerlichkeit ist bei Heidegger in keiner Weise vorhanden (wie dann natürlich auch deren Auffaltung von unten her) – weil er offenbar e.v. und Denken als "Tat" identifiziert. Daher geht sein Ansatz zur Überwindung des toten Punktes auch vom Denken aus: Die Überwindung soll in der Entfaltung der Anfangsfrage zur Grundfrage nach dem Sein im Ganzen (als nach dessen Weise und Verfaßtheit) gefunden werden, als Entbergen des Seins im Ganzen, jedoch nach wie vor im Medium der Vernunft – aber dies kann keinesfalls ein neuer Weg sein, als diese Vernunft ihren Kreis, der identisch mit der Metaphysik ist, soeben geschlossen hat.

zu b) Das "Ziel" dieses öffnenden Erkennens eines neuen Weges nach dem Ende der Metaphysik ist notwendig ein dunkles Telos; jedoch wird hier ein Stück des Weges gezeigt, werden Rahmenbedingungen konkretisiert, wo Heidegger eher in eine Art Vernunftmystik aus- und abzugleiten scheint, wenn auch in anderer Weise als Nietzsche, aber immer noch in einer falschen Mystifikation des Denkens durch sich selbst. Denn indem er sich hier auf das Denken als das Entbergen der Wahrheit wirft, ist er vom wirklichen Pfad abgekommen und auf der falschen Fährte: Jedwede Religion, alle Götter einschließlich des monotheistischen Gottes meint er als Ausfluß dieser beendeten Metaphysik zu erkennen und verkennt in einer doch oberflächlichen Art und Weise das wahre Wesen der Religion, das in der Einbindung der Innerlichkeit des Menschen bis in die Vernunftkategorie hinein besteht (aus welcher Einbindung die aktive Umwendung in die Existenz erst sinnvoll erfolgen kann). Mit dem Ende der zweiten Kategorie sind zwar auch die hergebrachten Religionen an der Phylogenesespitze am Ende – nicht jedoch ist am Ende die Innerlichkeit selbst als ein anderes, als das Andere des Denkens! Und nicht ist am Ende die Notwendigkeit eines lebendigen Bezuges als "die Not des anderen Anfangs", welche Heidegger doch ebenso als gegeben sieht. An dieser Not wird ersichtlich, daß Heidegger noch lange keine Basis hat, an welcher dies neue Denken ansetzen könnte. Seine Basis ist und bleibt, obgleich er sie doch überwinden will, die Metaphysik, seine Vernunft findet trotz des Versuches der Frageerweiterung keinen neuen Ansatz: Weil auch diese Erweiterung noch die alte Frage, und eben damit den alten Rattenschwanz von Metaphysik hintennach schleppt, schleppen muß. Denn so läßt sich die Vernunft als Vernunft in der Funktion als Richte, als Entbergerin nicht los und hat insoweit gar keine andere Basis als sich selbst, womit sie im Kreisbogen der Metaphysik gefangen bleibt. So gesehen wäre nicht Nietzsche, sondern Heidegger selbst die allerletzte Form der alten Metaphysik, nämlich tatsächlich als Verzweiflung. Denn dies Bewußtsein des neuen Fragenmüssens zeigt die wirkliche Doppelreflexion als eine eingetretene: Die alte Wahrheit ist aufgezehrt, wer aber soll nun dies neue Fragen anheben? Wieder diese Vernunft selbst, quasi als Vernunft "in nuce", wobei wir wieder bei Kant’s "reiner Vernunft" angelangt wären –, und so blickt diese Vernunft sich um, sucht die Frage, kann aber nicht einmal diese finden, weil sie im Kreisbogen der Metaphysik bereits alles gedacht hat, was für sie selbst denkbar war! Gleichzeitig aber ist in Heidegger das Bewußtsein vorhanden, von ihm jedoch verkannt und mit Vernunft verwechselt –, daß dieses Ende ein neuer Anfang sein müsse – und diese Not ist seine Verzweiflung.

Soweit Heidegger diese Verzweiflung in "Sein und Zeit" hinter dem "Geheimnisvollen" verbirgt, jedenfalls erschien dies wohl seinen Anhängern so (und ach, das "Geheimnisvolle" war und ist ja noch immer das beste Versteck für alles eigene zur Macht-Kommen-Wollen der Vernunft selbst und schlimmer ...), so ist dieses Verbergen der Verzweiflung ihrer selbst durch die Vernunft vor sich selbst sogar noch gar nicht der allerletzte Schritt in dieser Kategorie, sondern nur der vorletzte: Als die dadurch nicht eintretende Verzweiflung des Individuums Heidegger diesem ein Verharren im Medium der Vernunft in und als Doppelreflexion erlaubt – und so bleibt der innerliche und existentielle Abstoß über die Vernunft hinaus aus (was sich denn auch am Stehen Heideggers auf sich selbst, am Stehenbleiben zeigt, das sich nicht einmal von den eigenen Irrtümern im Dritten Reich in einem offenen Bekennen zu lösen vermag). Die letzte Ursache dieses Ausbleibens aber ist das "vernünftige" Suchen nach einem neuen Ansatz, welche Suche notwendig die alte Frage mit sich führt. Es ist gerade dies der Umstand, der eine Abschneidung des wirklich neuen Ansatzes bewirkt; Heidegger hat davon sogar ein Bewußtsein, und will diese Abschneidung, jedenfalls gelegentlich der Ausdeutung Nietzsches, und will damit die – und sei es nur negative – Gefangenschaft in der Metaphysik im und als Vorrang des Denkens. Denn Heidegger will ganz bewußt nicht zur "Tierheit" hinunter (wo Nietzsche schon wesentlich tiefer blickte), sondern das Denken soll sich auf das Denken gründen, das Schaffen aber sei das Mysteriös-Geheimnisvolle, etwa aufgefaßt als Nietzsches WzM. So übergeht Heidegger die eigentliche Nahtstelle, indem er sie ausschließt: weil die Herkunft vom Affen, selbst wenn man sie beweisen können sollte, noch lange und gar nichts über den Menschen aussage – o doch! Ist doch dies der springende (! sic) Punkt, jener Übergang vom Tier zum Menschen, an dem allein der Mensch sich klar zu werden vermag, was sein Geist (in jeder seiner Bedeutungen) und was Denken (als Funktion) ist. Heidegger mag sich wenden wie er will, geht er diesen Schritt nicht, so muß sein Denken sich immer in sich selbst drehen, und es muß sich selbst letztlich unverstanden bleiben, weil und solange es seine eigene Herkunft nicht kennt – daher denn das Mysteriöse und Metaphysische in seinen Auffassungen darüber, was Vernunft sei. Und aus diesem Nichtsehen der Kontinuität auch noch unseres Geistes in einer Reihe von synthetischen Schichtungen gerät ihm notwendig die weitere Erhöhung zu ebendemselben Mysteriösen, wie dies für ihn die Vernunft bereits ist. So kann er sich die Herkunft jener "Zweiten Welt" als "wahres Wesen" (die griechische Auffassung) rational überhaupt nicht erklären, sondern sieht sich vor einem "Wunder", gerade auch hinsichtlich der "Einfachheit", wie die Griechen sich diesem "wahren Wesen" gegenübersahen. Natürlich, wenn man nicht weiß, daß die Vernunft die Reflexion des Verstandes ist, so steht man freilich vor einem Wunder! Denn wie will man erklären, daß plötzlich in dieser Vernunft (welche bei Heidegger beide Kategorien umfaßt: als Verstand und Vernunft) jene "Zweite Welt" des "wahren Seins" auftauchte? So erkennt er zwar die Notwendigkeit des Aufstellens dieser "Zweiten Welt", denn das Reflektieren der Vernunft ist uns Heutigen etwas Selbstverständliches, aber was das ist, woher es kommt, wie es arbeitet: Dies bleibt ihm mysteriös, weil er nur bis zu den alten Griechen zurückblickt als den Ahnen seiner eigenen Vernunft (was soweit durchaus richtig ist), und dies in der Meinung der von sich selbst überzeugten Vernunft, daß es sich nicht verlohne, den Blick noch weiter zurück zu werfen (der Fehler der Fehler!). Auf diese Weise bleibt sein Ansatzpunkt willkürlich, weil von der Vernunft gewillkürt, und er vermag weder das Seiende im Ganzen zu bestimmen (was eine funktionelle Aufgabe der Vernunft ist) noch an das Sein im Ganzen zu rühren; welch letzteres sich zwar bis zur Vernunft hin für diese erschließt: Weil diese Vernunft, solange ihre eigene Kategorie noch nicht durchmessen war, die "höchste Schaffnerin" sein sollte und mußte, und damit das Seiende wie das Sein im Ganzen von dieser, und zwar real- wie geistesgeschichtlich zu bestimmen war. Ist aber die Kategorie der Vernunft als Metaphysik durchlaufen, so erfolgt der Abstoß und das neue Aufschließen durch ein Anderes. Davon hatte nun wieder Nietzsche ein Bewußtsein, weshalb er hier die "Kunst" ansetzte und diese damit höher als die Wahrheit stellte. Diese Herabstufung der Wahrheit unter die Kunst ist aber sicher nur dann richtig, wenn man die Wahrheit als Wahrheit der Vernunft nimmt – weil diese alt und unwahr geworden ist durch das neue Wahre, das jene "Kunst" zu schaffen haben soll. Und dieses Andere muß es sein, dem sich auch schon die Vernunft selbst verdankte, an diesem Anderen muß sich die Weise des Seins im Ganzen zeigen, dies ist sie, die "migratio des e.v.", die Übertragung der innerlichen Leitungsfunktion:

a) Die Schichtung von Verstand und Vernunft, aus der erst die funktionale Notwendigkeit des Aufstellens einer "Zwei-Welten"-Theorie ersichtlich wird als Reflexion des Verstandes durch die Vernunft; und von wo aus der Weg funktional zu einer "dritten Welt" führen muß, weshalb zunächst diese ersten "Zwei Welten" in rechter Weise vereinheitlicht werden müssen, um dann den Abstoß als "Eine" wiederum zu einer neuen "Zweiten Welt" abzugeben?

b) Die Zweiheit der "Zentrale" als Funktion und als lebendige Innerlichkeit (e.v.), welch letztere sich in einem weiten Sinne durchaus als WzM ansprechen läßt, als das treibende Agens des Ergreifens von offen sich Entgegenstreckendem in der Rezeption und Reflexion des Ergreifensaktes, mit, durch und als welcher Ergreifensakt sowohl neue synthetische Zentralen gebildet, in diese migriert und diese selbst wieder reflektiert werden. Und welcher Ergreifensakt wiederum auch identisch ist mit dem so mystisch-mysteriös genommenen Entbergen des Wahren (aletheuein).

Der neue Ansatz, er ist nur darin zu finden, daß sich die Vernunft selbst als Seiendes begreift, und sich nicht mit dem Sein im Ganzen als solches, aber auch nicht mit derjenigen "Richte" verwechselt, mit welcher der Mensch wie alles andere Seiende mit dem wahren Sein im Ganzen in Verbindung steht. Hat sich die Vernunft aber als Seiendes unter Seiendem begriffen, dann hat sie eben damit bereits ihre Führungsrolle aufgegeben; und ihr wird der Blick neu eröffnet auf zwei Fragen: Was sie selbst als Seiendes unter Seiendem sei, und wovon sie selbst, aus der einst das Sein im Ganzen bestimmt werden durfte, herkomme; und was es gewesen sei, das im Verein mit ihr dereinst das Sein im Ganzen bestimmen durfte – weil es genau dieses zu Ergreifende sein wird, welches auch in der Zukunft das Sein im Ganzen neu bestimmen wird.

Heidegger versucht in seiner sprachlich dunklen und "sachlich" geheimnisvollen Weise ein Bild zu geben, wie dieses Entbergen des Wahren vor sich gehe, dem jedenfalls in rechter Analogisierung und in Rückführung auf reale Funktionalität durchaus zu folgen ist (s. etwa "Nietzsche" Bd. II, S. 29): Die Haltung des Menschen, der sich nicht an Seiendes verlieren will, habe zu sein das Wächteramt als die Voraussetzung des Sich-Lichtens, um in der An-Wesung des Seins dessen Wesen sich zu ereignen ... – übersetzt: in der Konzentration auf und in die Innerlichkeit die dunklen Offenheiten heran- und hereinzulassen, jene Offenheiten, die bereits da sind, aber für welche uns Augen und Ohren noch nicht aufgegangen sind, weil wir uns ablenken lassen oder in die falsche Richtung schauen. Offenheiten, die mit dem Durchlaufen und Enden der Vernunftkategorie bereits mitgeschaffen sind, aber geradeso wenig Sinn-Fälliges für unsere Vernunft haben, wie einst das "wahre Wesen" für den Verstand in den Sinn Fallendes hatte – es mußte rezipierend von Einzelnen erobert werden, die von innen her dafür bereit(et) und darauf aufmerksam waren: so wurden sie ihrem Wächteramt gerecht.

Nebenbei zum Begriff Ereignis/Ereignen: auch hier gibt die Etymologie einen Fingerzeig auf die Natur der Wahrnehmung; denn ein Ereignis wird für den Erlebenden dadurch und nur dadurch zu einem solchen, daß er es sich er-eignet, in Eigentätigkeit zu-eignet! Will sagen, in der Wahrnehmung eines Bezuges eines Geschehens zum Wahrnehmenden liegt ein Besitzergreifensakt, welcher in der Zuwendung und feststellenden Tätigkeit des Verstandes sowie im Zuordnen im Rahmen der Kausalität zu finden ist. "Geschehen" und "Ereignis" unterscheiden sich folglich darin, daß ersteres, welches beliebig ist, zum letzteren dadurch wird, daß man mit ihm in eine kommunikative Verbindung tritt und es sich in dieser Verbindung aneignet: das Geschehen auf sich selbst bezieht. "Ereignisse" sind mithin a priori ego- bzw. anthropozentrischer Natur (je nach Kategoriestellung des Aneignenden). So ist es eigentlich verkehrt, wenn man sagt: "es ereignet sich" – vielmehr müßte man sagen: "ich ereigne mir." Aber gerade der gemeine Sprachgebrauch ist hier natürlich so richtig wie verräterisch, als mit ihm die Unreflektiertheit des Verstandes sich kennzeichnet, der vom Vorgang des in die Sinne-Fallens sowie der Abstraktion durch die Sinnesorgane und die Feststellungstätigkeit des und als Verstand eben gerade nicht weiß.

Neben diesem Ausgangspunkt: Übergang vom Tier zum Menschen, Geist als Ergebnis der Übertragung der Leitungsfunktion, welcher allerdings als eine Hauptsache und als bedeutender Schritt weiter gesehen wird, unterscheidet sich die hiesige Auffassung aus eben demselben Grunde noch in einer weiteren Nuance von Heidegger. Der Kategorieumbruch, die neue Einbindung ist längst nicht so düster-dramatisch einzuschätzen, wie jener dies wohl aus drei Gründen tut: Erstens aus der geschichtlichen Situation des heraufziehenden Zweiten Weltkrieges, einhergehend mit zunehmender Technisierung des Lebens einschließlich des Glaubens an die "Berechenbarkeit" alles Seienden und Seins; zweitens aus der philosophiegeschichtlichen Stellung im Anschluß an Nietzsche, als Überhöhung der Feststellung des Endes der Metaphysik, und drittens, weil aus diesen beiden Umständen eine Diskontinuität zu folgen scheint zwischen den "alten Zuständen" und der Not (-Wendigkeit) des Neuen.

Dieser Umbruch fügt sich jedoch in eine Kontinuität des Umbrechens selbst, so daß hier insoweit auf diese Kontinuität des Seins im Ganzen gesetzt wird, und zwar bewußt als ein Setzen, nicht als ein Glaube, oder eine Meinung, oder ein Für-Wahr-Halten; vielmehr macht gerade dieses "Setzen auf" einen Teil jenes Überlassens aus, in welchem sich dunkle Offenheit und inneres Entgegenkommen zu treffen vermögen. Demgegenüber ist die prophetische Haltung Nietzsches künstlich exaltiert, wenn er in die Rolle des Zarathustra schlüpft; oder wenn er gar die Geschichte der Menschheit in zwei Teile zu schneiden glaubt. Unangebracht erscheint auch die Position des Mahners, der andere darauf verpflichten möchte, sich hier einem Wächteramte anzuschließen – wie Heidegger tut. Nein, neben dem Vertrauen, das in das Sein als Ganzes zu setzen ist – dies unter anderem auch insoweit, daß es sich die Wächter, welche es braucht, ebenso hervorzubringen weiß, wie es jedes andere Seiende hervorbrachte, ohne daß dies daran ein Verdienst hätte, und ganz unabhängig von der Frage, ob wirklich einem derartigen Wächteramt zu obliegen wäre (merke: der wahre Wächter ist für das Sein im Ganzen nicht zu haben, ohne daß nicht auch dessen Fehlformen hervorgebracht würden) – neben diesem Vertrauen kann der Mensch als das seiende Wesen, das er je nun ist, als einzige ihm zufallende Aufgabe das Appellieren erkennen: Durch Zugänglich-Machen dessen, worin er das Sein im Ganzen in seiner Weise wie Verfaßtheit sieht, die Möglichkeit dieser Sicht durchtesten zu lassen. Nämlich vom Seienden her für das Sein im Ganzen, ob seine Sehweise den zwei Bedingungen sine qua non entspricht: Ob die Zeit für diese Sehweise reif ist, und ob diese Sehweise wahrhaft teil hat am Sein des Ganzen; denn nur dann vermag sie den Beginn jener neuen Tragfähigkeit mitzuverwirklichen, welche der alten Metaphysik verlorengegangen ist.

Noch ein weiterer Unterschied zu Heidegger sticht aus jenem anderen Ansatz hervor: bei ihm ist nur an ganz wenigen Stellen eine echte innere Betroffenheit wahrnehmbar – wohingegen hier die existentielle Betroffenheit nicht wegrationalisiert werden soll, sondern stets letztlich selbst die Feder führt. Der Grund für diesen Unterschied liegt wohl darin, daß Heidegger sich als "Denker" sieht – dies durchaus auch in dem Sinne gedacht, worin er seine Innerlichkeit sich selbst unbewußt hat: daß man einen Gedanken wirklich denken muß; worin bei ihm eine existentielle Betroffenheit zum Ausdruck kommt, kommen soll? –, und er will "Denker" sein! Die insistierende Selbstbezeichnung als "Denker" ist schon bei Nietzsche bedenklich, weil man einem derartigen Insistieren immer auch ein Stück unüberwundene Angst ansieht. Diese Angst ist zwar für das Selbstbewußtsein unausbleiblich, und von daher verständlich und nachsehbar – nicht nachsehbar scheint jedoch bei Nietzsche das Ausbleiben der Überwindung dieser Angst ... Mithin wird hier Wert darauf gelegt, das Herkommen aus der existentiell-lebendigen Bewegung nicht durch Vernunftüberlagerungen zu verschleiern, indem der Anteil des Denkens als "Denker" herausgestrichen wird; lieber noch wird der Geruch des Dilettanten in Kauf genommen. Denn die "Aufgabe" besteht nicht im "Denken" und "Mahnen", sondern im Appellieren: Was nur in der Weise möglich ist, daß alle Menschen, die in dieser Hinsicht (des Berührt-Werden-Könnens durch Appellation) "guten Willens" sind, ein Mitgeteiltes in eigener Betroffenheit nachvollziehen können. Der "Denker", zeigt er nicht eben mit diesem So-Gestellt-Sein-Wollen, daß er die Metaphysik noch nicht losgeworden ist? Daß er jener, und sei es mit einem auch noch so verschwindend kleinen Reste, anhängt? Weil er vom Denken als persönlichkeitsbestimmendem Moment nicht lassen kann? Noch schärfer: als "Denker" bleibt man zwangsläufig in Abhängigkeit zur Metaphysik, und sei diese Abhängigkeit ebenso lediglich "negativ", wie die Scheinwelt die wahre Welt, der Irrtum die Wahrheit mitdenkt – wobei mit der auch nur unbewußt mitgedachten Voraussetzung das "positiv" Gesetzte ebenfalls dahinfällt: Ein Denken, das auf sich selbst steht, wird überflüssig, wenn es nicht die eigene Wahrheit und Wesentlichkeit zumindest als potentiell möglich voraussetzt. So gebiert das Selbstverständnis als "Denker" jenen Stolz der Vernunft auf sich selbst, weil das Denken das existentielle "Wesen" ausmacht. Nun muß im Wesen des Denkens nicht unbedingt Stolz liegen, welchen etwa Nietzsche hervorzuheben genötigt ist, aber eines muß der sich "Denker" Nennende oder einer, der sich durch adäquates Handeln als "Denker" kenntlich macht (indem er etwa "kluge Bücher" schreibt), auf sich nehmen: Daß hier die Vernunft, und sei es auch nur allerletzten Endes sich selbst nicht losgeworden ist, und sei es in einem verzweifelten Auf-Sich-Selbst-Stehen als "König ohne Land" (Kierkegaard) – und die Weise des Denk- und Mitteilungsstiles wie die Weise des Mahnens scheinen bei Heidegger für einen derartigen Sachverhalt zu sprechen.

Zu Heidegger und Nietzsche Teil I     Teil III


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