Heidegger und Nietzsche
Helmut Walther (Nürnberg)


Zur verwendeten Begrifflichkeit, die aus dem üblichen Rahmen etwas herausfällt, darf ich den Leser auf meine Seite "Kreisbogen der Metaphysik" verweisen; dort befindet sich ein Artikel "Versuch einer Kategorisierung des Geistes", welcher den jeweiligen Bedeutungsgehalt systematisch zusammenstellt.


Teil I ( Zu Teil II     Zu Teil III)

1. Kritik an der Nietzsche-Auslegung Heideggers
2. Zum Zwiespalt zwischen und zur Rangfolge von
    Kunst und Wahrheit
3. Fragen zur Ewigen Wiederkehr
4. Das Sein im Ganzen und die Ewige Wiederkehr

1. Kritik an der Nietzsche-Auslegung Heideggers

Die Eigenart eines Autors entblößt sich oft unbewußt darin, wie er mit anderen Autoren umgeht, auf die er sich direkt oder indirekt bezieht; Heidegger interpretiert und analogisiert die Texte Nietzsches ständig in solchem Sinne, wie er sie gebrauchen kann, er nimmt den Philosophen nicht beim Wort – was doch für einen treffsicheren Sprachkünstler wie Nietzsche gelten sollte: ihm zuzugestehen, daß er weiß, was er sagt. Vielmehr geht Heidegger von einem subjektiv vorgefaßten Standpunkt aus eklektisch vor, je nachdem, wie es ihm gerade in seine Interpretation der Nietzscheschen Lehre paßt; dabei arbeitet er mit unterschiedlichen Methoden, die von der wörtlichen Auslegung bis hin zu einer Deutung reichen, die am genauen Gegenteil des Wortlautes endet und aus Nietzsche dasjenige herausholt, was sie oft genug selbst erst hineingelegt hat.

Weiter fällt eine eigentümliche Stellung Heideggers zu Nietzsches ungeschriebenem "Hauptwerk" auf, dem "Willen zur Macht", jener Kompilation aus dem Nachlaß, die seine Schwester unter Mitwirkung von "Maestro Peter Gast" veranlaßt hat. Diesem unautorisierten Kompilat mißt Heidegger im Verhältnis zum gesamten veröffentlichten Werk eine weit übergeordnete Bedeutung zu. Aber ein solches "Werk", wie es Nietzsche als objektive und quasi wissenschaftliche Zusammenfassung seiner Gedanken in den letzten Jahren selbst vorschwebte und um das seine Gedanken unablässig kreisten, war offenbar als "metaphysische Lehre" im Sinne eines philosophischen Systems gar nicht zu leisten.

Heideggers "Trick" besteht nun darin, das ist seine "metaphysische Methode", in diesem "Willen zur Macht" erst die "eigentliche" Philosophie Nietzsches entdecken zu wollen: dort, wo Nietzsche selbst in Wirklichkeit scheiterte, als er seine im Zarathustra mythologisch gegebene Lehre "wissenschaftlich" darstellen wollte, da meint dies Heidegger stellvertretend für Nietzsche nachholen zu müssen – und so steht ihm dieser Torso, gerade weil er unvollendet ist, für jegliche Interpretation und Analogisierung offen. Die Unstatthaftigkeit dieser Methode erweist sich am schlagendsten in der Auffassung des "Zarathustra": denn wenn der "WzM" das eigentliche Hauptwerk sein soll, so kann jener im Verhältnis dazu nur Vorläufer sein – und so behauptet Heidegger konsequent eine Weiterentwicklung des Denkens Nietzsches über den "Zarathustra" hinaus, weil er solcherart den Fuß in die Türe bekommt, um sich Raum für die eigene Interpretation zu schaffen. Dies ist der Grund, warum er den "Zarathustra" lediglich als Vorhalle zum "WzM" beschreibt – aber war denn Nietzsche auch dieser Meinung?

a) Er selbst nennt den "Zarathustra" – und zwar in seinem letzten (hellen) Jahr 1888, also nach der Abfassung des allermeisten Stoffes zum "WzM", während des Versuches, das theoretische Hauptwerk zu gestalten – "das tiefste Buch, das der Menschheit je gegeben worden sei", zu dessen Auslegung man Schulen gründen werde – eine Vorhalle?! Soviel Aufwand nur für einen Eingang? Welch nie dagewesene Anstrengungen hätte die Welt dann zu unternehmen, um erst in das eigentliche "Heiligtum", den "WzM" zu gelangen?!

b) Der "Zarathustra" ist das einzige veröffentlichte Werk, in welchem Nietzsche versucht, das "Positive" seiner Sicht des Seins zu geben; in allen anderen Schriften ist er entweder erst selbst noch auf tastender Suche, bis hinein in die "Fröhliche Wissenschaft" – oder aber er greift das Bestehende polemisch an ab "Jenseits von Gut und Böse". Alle seine grundlegenden Gedanken, also der WzM, die Ewige Wiederkehr des Gleichen, das "Schaffen" als "Kunst", der "Übermensch", hier sind sie enthalten – ohne den "Zarathustra" wären diese Gedanken auch für Heidegger "metaphysisch" gar nicht ausdeutbar. Eine Vorhalle?!

Nietzsche, einmal im Besitz der "Wahrheit", konnte doch gar nicht anders, als ständig diese Wahrheit zu künden, die ihn an seinem Felsblock am Silvaplaner-See überkam; nicht ein Wort hören wir von ihm, daß sich ihm diese "Wahrheit" verwandelt hätte (wie Heidegger behauptet), sein "Zarathustra" ist es, der ihn auch noch 1888 zu Tränen rührt. Er wollte im "WzM" eben keine andere "Wahrheit" geben als im "Zarathustra"; der Unterschied sollte allerdings in den Stilmitteln der Darstellung, in der Konsequenz der Übertragung vom Poetischen ins "Wissenschaftlich-Theoretische", vom Mythischen ins Reale liegen – und deshalb scheiterte Nietzsche auch bei diesem Versuch. Mit diesen Gedanken, die zwar die innerliche Existentialität in ihrer offenen Bildhaftigkeit zu bewegen vermögen, wollte er auf eine konkrete Realität einwirken: ein kategorieller Mißgriff. Denn was in einer poetisch-seherischen Sagweise seine Wirkung und Berechtigung haben mag, wird notwendig falsch, wenn solch innerliche Zusammenhänge des Seins direkt auf eine bestimmte Konstellation des Seienden übertragen und eingeengt werden sollen. Für die Bewegung in der Innerlichkeit des Einzelnen gilt ein Anderes als für das Aufeinandertreffen kategorieverschiedener Vieler in der Realität. Aber das weiß auch Heidegger, und deshalb stellt er Nietzsches Lehre zurück aus dem Bereich des konkreten Wirken-Wollens ins blasse Reich der Gedanken, deshalb beschreibt er sie als eine "metaphysische Philosophie" neben der Wirklichkeit, um damit der eigenen "Hermeneutik" Nietzsches, also in Wirklichkeit seinen eigenen Gedanken, umso mehr Leuchtkraft zukommen zu lassen.

Das ist, zunächst jedenfalls, eine Vergewaltigung der Philosophie Nietzsches: sie im Wege analogisierender Umdeutung in die Kontinuität der Metaphysik durch die Zeiten hineinzuzerren, wo sich deren Schöpfer bewußt allem bisherigen Philosophieren entgegensetzte. Die "Umwertung aller Werte" muß zuallererst einmal in ihrer Diskontinuität angenommen werden; sie soll und kann eben gerade nicht "vermittelt" (sic), die Brüche dürfen nicht begradigt werden: denn dies könnte allenfalls in einem übergeordneten und aposteriorischen Denken geschehen, welches dann aber nicht mehr Nietzsches Denken ist. Heidegger begeht hier den nämlichen Fehler, wie er Hegel bereits in seinem "Geist des Christentums" unterläuft: Wo letzterer Jesus ein durch die Zeitumstände bedingtes Zukurzgreifen "zugutehält" (wobei man sich hier doch wohl ergänzend zu denken hat, daß Jesus ansonsten eine Lehre hingestellt haben würde ... wie Herr Hegel!), dort soll Nietzsche nur nicht dazu gekommen sein, sein bereits an sich fertiges metaphysisches Lehrgebäude zu vollenden – in beiden Fällen eine Nicht-Akzeption einer Lehre, wie sie a priori nun einmal gegeben ist, sondern im Gegenteil ein gewaltsames Unterschieben eigener Gedanken a posteriori. Statt Nietzsche zunächst das Seine sagen und gelten zu lassen, dreht Heidegger solange an manchen Sätzen "metaphysisch interpretierend" herum, bis das blanke Gegenteil des eigentlichen Inhaltes herauskommt; dazu ein Beispiel (Nietzsche Bd. I, S. 135): "Daß Nietzsche das Schöne 'biologisch' begreift, ist unbestreitbar; die Frage bleibt nur, was hier 'biologisch', bios, 'Leben' heißt; es meint trotz allem wörtlichen Anschein nicht das, was die Biologie darunter versteht." Damit will er der Konsequenz aus Nietzsches Ästhetik entgehen, "daß die ästhetischen Werte auf biologischen Werten ruhen, daß die ästhetischen Wohlfgefühle biologische Wohlgefühle sind." (ebenda) Obzwar nun Nietzsche sehr wohl "biologisch" denkt: allerorten klagt er die Verdorbenheit der Instinkte an, das "neue Schaffen" erwartet er sich aus dem "dionysischen Rausch", der "Verböserung" bis hin zur "blonden Bestie" – so kann Heideggers blasse Metaphysik solch aktives "Dynamit" natürlich nicht gebrauchen; deshalb muß er ständig abschwächend umdeuten. Die "blonde Bestie" ist aber kein metaphysischer Gedankenblässling, sondern nach Nietzsches Willen ein physisches Ungeheuer! Auf solche Weise sucht er neben der Abschwächung der Nietzscheschen Lehre erst ein "metaphysisches Gerüst" einzuziehen: Innerhalb derselben möchte er die Kontinuität mit der bisherigen Metaphysik herstellen – was Wunder, daß er zu ständigen Verbiegungen gezwungen ist, wenn diese Philosophie expressis verbis Entgegensetzung dazu sein will. Hier identifiziert sich Heidegger mit Nietzsche (fälschlicherweise) insoweit, als er "lediglich" dasjenige nachzuholen meint, was Nietzsche selbst ohne Frage ausgeführt haben würde, wenn er nur noch dazu gekommen wäre. Bei konkreter Vorgehensweise muß man aber zunächst gerade diesen Bruch als ein Hauptmerkmal mit einbeziehen, und nicht immer gleich "vermitteln" wollen, wo man sich abzulehnen gezwungen sieht. Anders ausgedrückt: man muß die apriorische und die aposteriorische Auffassung auseinanderhalten; wie etwas einerseits als Neues in die Welt trat, und wie dies andrerseits sich im nachhinein in den Gang des Geschehens einfügt. Wo ersteres ein lebendig-rezipierendes Antworten auf die Erfahrung des Seienden ist, dort wird späterhin diese Rezeption "nurmehr" reflektierend dem Seienden im Ganzen hinzugezählt.

Merkwürdig bei Heidegger ist dabei, daß (und wie gut) er diese Scheidung zwischen Rezeption und Reflexion in Bezug auf die neue Sicht des Seins bei den Griechen im Unterschied zu uns Heutigen erfaßt (zu Recht betont er des öfteren, daß das "Sein des Seienden", das "wahre Wesen", die Kunst u.a. bei jenen in ganz anderer Weise gedacht wurden) – und doch ist er auffallend wenig auf dieses Faktum aufmerksam, je näher der Kreis der Metaphysik auf ihn selbst zuläuft. Etwa mit Descartes anhebend nimmt er die jeweils neuen Aussagen der Philosophie nicht mehr apriorisch-rezipierend, sondern will diese analogisierend und reflektierend direkt in das Seiende im Ganzen einfügen, wie es ihm selbst sich darstellt. Dies meint: wo er hinsichtlich der Griechen den notwendigen Perspektivwechsel vollzieht, um zumindest versuchsweise deren Rezeption der zweiten Kategorie in der damaligen Neuartigkeit von unten her nachzuerleben, so wenig tut er dies für die 2. Stufe der zweiten Kategorie, die zweite Hälfte des Kreisbogens der Metaphysik: hier fehlt ihm die Distanz, weil er sich in Wirklichkeit selbst innerhalb derselben bewegt; zwar als einer, der die Kreisbahn sieht wie auch deren Abgeschlossenheit, der sich aber aus der Metaphysik der zweiten Kategorie nicht zu lösen vermag.

Die Identifikation der Metaphysik mit der zweiten Kategorie folgt daraus, daß seit den Griechen die Vernunft mit und als Philosophie hinter dem Schein des einzelnen Seienden auf das wahre Wesen des Seienden (= die Ideen) und von dort auf das Sein im Ganzen zu schließen sucht; diesen Rezeptionsgang reflektiert die neuzeitliche Philosophie seit Descartes, und so lassen sich die Rezeption und Reflexion der Vernunft als Kreisbogen der zweiten Kategorie darstellen: Metaphysik ist das "Wahre" der Vernunft, solange diese noch an sich selbst glaubt. Der Schlußstein eines solchen Kreisganges muß notwendig sein, daß die Vernunft dies eigene "Wahre" mit sich selbst verwirft: Nietzsche. Dieses Festhalten an und das Verbleiben in der Metaphysik erhellt auch aus der Blässe des Heideggerschen Denkens, und dies in einem typisch zweitkategoriell-reflexiven Gegensatz zu den sonst vielzitierten Griechen: so gerne Heidegger etymologisiert (wobei gar nicht zu verhehlen ist, daß vieles daran sehr gut und manches zu lernen ist), ausgerechnet am Zentralbegriff unterläßt er diese Untersuchung; hat er wohl mit Sicherheit von sich das Bewußtsein, Philosoph zu sein – und doch scheint er diesen Begriff nur reflexiv im modernen Sinn des "Philosophierens" zu verstehen – was aber bedeutete dies für die Griechen? Doch gerade nicht "Freund der Wahrheit" (aletheia) oder "der Fragende nach dem Sein des Seienden"; nein, dies heißt doch Freund der Weisheit! Der Weisheit, recht zu leben (dies "recht" bezogen auf die Rezeption der neuen Sehweise des Lebens mittels der Vernunft als der 1. Stufe der zweiten Kategorie). Dann hat sich aber (und hat sich auch damals bei den Griechen nicht) die Frage nach dem Sein als der Verfaßtheit des Seienden niemals derart weit von der Wirklichkeit des Lebens zu entfernen, hinein in den (Ab-) "Grund des Seins des Seienden", in ein metaphysisches Leer-Gebäude ohne lebendige Menschen, wie dies Heidegger in seiner Nietzsche-Vorlesung über 1000 Seiten lang vorzuführen imstande ist: die Griechen und auch noch ein Platon wollten ihre Realität entlang der Rezeption der Vernunft umgestalten. Diesen Konnex zur Wirklichkeit muß jede Philosophie sichtbar werden lassen, ausgedrückt in der sinnhaften Existenz des Einzelnen wie aller, in der Lehre ebenso wie im Leben – und nicht als Metaphysik der Vernunft in und als deren Selbstreflexion. Obwohl Heidegger in einer wahrhaft umstürzenden Zeit lebt – die beiden Nietzsche-Bände sind verfaßt zwischen 1936 und 1946 – und obwohl doch die Lehren Nietzsches, wenn auch in einseitiger Verzerrung, durch das Dritte Reich ausgebeutet wurden, so hört man an keiner Stelle von dieser Realität, in welche Heidegger selbst einst (als Freiburger Universitätsrektor) mitverstrickt war – oder vielleicht gerade deshalb?

Im übrigen scheint sich hinter dem Heideggerschen "Sein des Seienden" in seiner modernen Frageform – welche eine andere ist als die griechische! als welche in der Richtung nach vorne weist (nämlich als Rezeption) – durchaus immer noch, wenn auch in verdünntester Weise, eine Art Prästabilisation zu ver- bzw. zu entbergen: denn in und als Reflexion weist diese Frage nach hinten: das Seiende soll aus der Verfaßtheit des Seins im Ganzen als seinem Grunde (= "Gott") stabilisiert werden – es geht immer noch um die Befestigung des Denkens! Ohne dabei darauf aufmerksam zu sein, daß

a) dieses Festmachen der Vernunft den gleichen Fehler in der zweiten Kategorie wiederholt, wie er vordem dem Verstand in der ersten Kategorie mit all seinen Mißdeutungen unterlief.

b) das eigentlich Treibende ein Lebendiges ist, sowie daß sich die Qualität dieses Lebendigen im Aufstieg des Seienden verwandelt; und zwar beim Menschen sich verwandelt ins "Spirituelle": welches heilige, heiligende und damit seinsbegründende Moment Heidegger völlig übersieht – weil er innerhalb der zweiten Kategorie immer noch an die "entbergende" Macht der Vernunft glaubt.

Daher doch die Hochschätzung Hegels und die Ablehnung Schopenhauers, denn er teilt mit ersterem jenes phantastische Wortgeklingel im Medium der Sprache (weshalb auch auf ihn noch die Hegel-Kritik Kierkegaards zutrifft), wo mittels Vernunft und mystischer Sprachdeutung ein Tiefsinn in die Worte hineingelegt und das eigentlich Bewegende mit Sprache nicht ent-, sondern verdeckt wird; dies ist jedoch ein Mißbrauch der Deutung von Sprache a posteriori – diese Art "Vernunft" ist tatsächlich ein "Wille zur Macht"! Und diese Methode enthebt einen der Notwendigkeit, sich mit den Sachen selbst, sich mit dem Leben als Realem zu befassen, sie erlaubt eine phantastische Distanz zur Realität, wie diese Distanz in unfaßlicher Weise im Leben Heideggers selbst in seiner Beziehung zum Dritten Reich sichtbar ist: seine Vernunftmystik verführte zuallererst ihn selbst, weil er einer richtigen Beobachtung einen falschen Akzent gab. Dies erinnert an Wagners Mime, der Wotan nach allen möglichen Luftgebilden befragt, aber ausgerechnet das Naheliegende, das, was ihm nottut, außer Acht läßt.

Die von Heidegger aus der Beweglichkeit der jeweiligen Sprache und deren Ausdrucksmöglichkeiten abgeleitete Zusammengehörigkeit zwischen Griechen und Deutschen – weshalb auch bei ihm die Welt wie schon seit Fichtes Zeiten (s. die "Reden an die Deutsche Nation") am "deutschen Wesen" genesen soll – hat aber auch gar nichts mit einer "rassischen Bevorzugung" zu tun. Vielmehr weist dieser Umstand lediglich auf diejenige Tatsache, daß gerade auch im deutschen Sprachraum: also mittels dieser Sprache und der durch sie bedingten Denknotwendigkeiten und -fähigkeiten die Durchreflektierung der zweiten Kategorie erfolgen konnte. Eine Reflexion, deren Rezeption einst die Griechen geleistet hatten – und dies ist der eigentliche phylogenetische Zusammenhang zwischen "Griechen und Deutschen": daß es die Griechen waren, welche den Kreis der zweitkategoriellen Metaphysik eröffneten; und daß in der zweiten Hälfte dieses Kreisbogens die deutsche Philosophie an dessen Ende steht, in welcher dieser Kreis sich in sich selbst schließt – wobei aber doch nicht vergessen werden darf, daß große Strecken dieser Reflexionsarbeit von der englischen und französischen Philosophie geliefert wurden, ohne welche der "deutsche" Anteil gar nicht denkbar ist. Deshalb ist es in Wirklichkeit unsinnig, hier auf Nationalitäten abzuheben. Und dies gilt noch mehr unter dem Gesichtspunkt, daß es doch immer einzelne Individuen waren, deren Sprache und Kulturkreis dies Fortschreiten in der Reflexion als wesentliche Voraussetzungen zwar mitbedingten – das eigentlich Wirkende aber gehört niemals einer Rasse oder Nation an, sondern der menschlichen Individualität als solcher.

Soviel sei einstweilen allgemein vorausgeschickt; die nachfolgenden Überlegungen sind immer unter dem Gesichtspunkt zu sehen, daß hier einerseits sich zwar Heidegger über Nietzsche äußert, in Wirklichkeit aber seine eigene Auffassung in Nietzsche hineininterpretiert – und dies unter jederzeitigem Zurückwenden auf die griechischen Anfänge; ohne aber ein Bewußtsein davon zu haben, daß dies Griechische die Rezeption der zweiten Kategorie ist, sondern woran er nur die "Andersartigkeit" wahrnimmt: die Frische des damaligen Aufbruches, welche notwendig in der Eröffnung der zweiten Kategorie gegeben ist, und welche er über das "deutsche Wesen" zurückzugewinnen hofft. Es liegt auf der Hand, daß diese Vorgehensweise eine "Gemengelage" bewirkt, welche die Heideggerschen Mystizismen erst ermöglicht, indem er das reflexive Denken Nietzsches konterkariert mit dem rezeptiven Denken der Griechen: weil ihm selbst der gewaltsame Ausbruch Nietzsches aus der Gefangenschaft in der Metaphysik, die er durchaus sieht, unsympathisch ist – und von wo aus er im Zurückgehen auf die Griechen einen "neuen Anfang" sucht, den er gleichwohl wieder mit Nietzsches Denken zusammenbringen will. Erst aus diesem Dunkel, welches aus dem Hin- und Herspringen zwischen den Perspektiven entsteht – auf der einen Seite "erd- und bluthafte Kräfte", "die verborgene Bestimmung", auf der anderen Seite der ehrliche Wille zur Überwindung der Metaphysik –, welchem Dunkel er mit seinen aposteriorischen Sprachkunststücken aufzuhelfen glaubt, gebiert er jene (in Wirklichkeit immer noch zweitkategorielle) Überzeugung vom "deutschen Wesen", welche er zuletzt durch den Druck der "normativen Kraft des Faktischen" (sprich die Realität des Zweiten Weltkrieges) abzuschwächen gezwungen war, so daß er die "Überlegenheit" "nurmehr" in deutsche Sprache und Kultur verlegte – und im übrigen einer eher resignierten "Seinsgelassenheit" das Wort redete.

2. Zum Zwiespalt zwischen und zur Rangfolge von Kunst und Wahrheit

Zunächst sei Heidegger ein Kompliment abgestattet, insofern er (etwa Nietzsche Bd. I, S. 189 ff.; wie auch an anderen Stellen) Platon in einer Weise vorträgt, welche an die Gymnasialzeit zurückerinnert, in der man als Schüler seine Griechischkünste an diesen Texten erprobt. Dabei gelingt ihm immer wieder eine erhellende Vorführung, welches Sprechenlassen der antiken Autoren ihm auch zu erster Berühmtheit verhalf.

Das Abendland ortet den Beginn seiner Kultur und Kunst bei den Griechen; insofern dieser weite Bogen, an dessen Ende wir uns wähnen, gleichzeitig identisch ist mit dem Auswickeln der Metaphysik und der Idealität, läßt sich die These aufstellen: Wahre Kunst ist immer unwahr. Dieses Paradox sollte auf jeweils andere Weise für die Anschauung Heideggers und Nietzsches, und zuletzt auch noch für Platons Auffassung von Kunst zutreffen. Das Verhältnis von Kunst und Wahrheit hängt von der Definition von Kunst ab und den Erwartungen, die man an sie stellt. Platon spaltet den Kunstbegriff

a) in die techne, in deren Ausübung der Künstler nur mimetes sei und bleibe, ein Nachahmer, der nur in dritter Rangfolge am wahren Sein der Idee teilhabe (wohingegen der Handwerker als Verfertiger von wirklichen Gegenständen der wahren Idee näherstehe).

b) sowie in to kalon, das Schöne: diese Schönheit sei es, welche den eros anrege und mittels dieses eros den Übergang zum wahren Sein in der Idee bewirke.

Kunstfertigkeit, also das Schaffen von Kunst durch den Künstler, hat bei Platon eine untergeordnete und drittrangige Bedeutung – was soweit geht, daß er die Kunst in seiner "politeia" des Staates verweist, soweit deren Hervorbringungen "unnütz" (!) erscheinen; womit Platon jene "Künste" anspricht, die kein "Schönes" hervorbringen (man sehe auch hier noch den Zusammenhang zwischen Utilitarität und dem "Schönen"). Diese Auffassung von Kunst unterscheidet sich himmelweit vom Geniekult des 19./20. Jahrhunderts, in welchem der Akzent auf das "Künstlertum" fällt, wohingegen der für Platon einzig ausschlaggebende Gesichtspunkt des Schönen zunehmend in den Hintergrund gerät, bis er zuletzt überhaupt nicht mehr vorhanden ist.

Die Schönheit hat hier demnach eine Anstoßfunktion zum Übergang ins Wahre (s. a. Schleiermachers "Kunstreligion": daß es einen Übergang von der Kunst zur Religion geben müsse) – das Schöne selbst aber, soweit es als nachgeahmte Idee der dritten Ordnung als Werk vorhanden ist, kann als Werk gar nicht wahr sein. Eine andere Frage ist, inwieweit das Schöne selbst an einem Werk Wahrheit hat: denn insofern das Schöne Eines ist (nämlich dem platonisch-griechischen Denken nach in der Idee des Schönen als des eigentlichen "Wesenslieferanten"; diese Idee als Eine ist das Höhere, das Eigentliche), hat jedes irgendwie schöne Werk teil am Schönen, als dies Schöne am Werk aus diesem Einen Schönen hergenommen sein muß. Dies Schöne hat nicht nur eine Vermittlungsfunktion (eros) hin zum Wahren, sondern ganz zuletzt (und auch dies noch ist eine notwendige Forderung der Vernunft-Rezeption) werden die Idee des Schönen und die Idee des Wahren wechselseitig identisch in der Idee des Guten – so daß, was an einem Werk am Schönen teilhat, in diesem Begriff auch wahr sein muß. Platon konnte in der abstrahierenden Rezeptionsphase der Vernunft noch gar kein Bewußtsein vom Qualitätswechsel des Schönen innerhalb der Vernunftkategorie haben, vielmehr mußte es im rezipierend-vergleichenden Denken notwendig zu einer Vereinheitlichung des "Schönen-Wahren-Guten" in einer Idee kommen als derjenigen, aus welcher alles Wesenhafte = alles Schöne = alles Wahre = alles "Gute" diese Wesenhaftigkeit herbeizieht: = "Gott". Für Platon kommt also alles auf das Schöne als be-weg-ende Vermittlung zum Wahren hin an, wohingegen die techne und der mimetes als solche im Gegensatz zum 19./20. Jh. keinerlei Wert an sich haben. Darin spricht sich die unterschiedliche Kategoriestufe aus: das rezipierende Abstrahieren auf das Wesen des Schönen im Gegensatz zum qualitätsentleerenden Reflektieren, für welches die griechisch gedachte Wesenhaftigkeit ihre Apriorität verloren hat, deren anthropozentrische Selbstgeschaffenheit mittels Rezeption der Vernunft erkannt wird. Aus diesem Grunde muß Nietzsche am Ende des zweiten Kreishalbbogens der Metaphysik Platon "auf den Kopf stellen": wo das Schöne-Wahre im Wesen der Kunst entfallen ist, verschiebt sich zwangsläufig deren "eigentliche" Bedeutung auf das Künstlertum und den Schaffensprozeß, durch welche das in Wirklichkeit noch völlig unbekannte und neuartige "Kunstwerk" erst hervorzubringen ist. Denn das ehemals Wahre ist für Nietzsche dahingefallen, und zwar nicht nur als ein Ehemals, als ein Überholtes, das durch ein anderes, "neueres" Wahres lediglich zu ersetzen wäre, sondern das Wahre schlechthin verliert seinen Wert: weil erkannt wird, daß sich damit die Vernunft selbst als den eigentlichen Maßstab des Wahren ansetzt, ohne in Wirklichkeit dazu in der Lage zu sein. Vielmehr tritt für Nietzsche an die Stelle der Wahrheitsfunktion der Vernunft die Kunst – weshalb das Wesen dieser "Kunst" ebenso wie das des Kunstwerks völlig neu zu definieren war. "Wahr" ist nunmehr nicht die Wahrheit als metaphysisches Anwesen des Wahren (= "Gott"), zu welcher die Vernunft des Menschen in Kontakt zu treten vermag, sondern wahr ist allein eine solche Künstlerschaft, die im Prozeß des Werdens das Neue schafft. Die wahre Welt und die Welt des Scheins: aus welcher Erkenntnis der Doppeltheit sich das rezipierende Denken der Vernunft auswickelt (im griechischen Denken ebenso wie etwa bei Buddha) – diese Scheidung des Erfahrens von Welt, die aus dem Unterschied zwischen der Sinnlichkeit des Verstandes und dem rezipierenden Vergleichen der Vernunft folgt, wird bei Nietzsche zugunsten der Sinnlichkeit des Immanenten aufgehoben. Mit der wahren Welt entfällt zwangsläufig auch noch die scheinbare Welt; denn die Scheinnatur wurde der vordergründig-sinnlichen Welt erst von dieser Perspektive der "wahren Welt" der Vernunft aufgedrückt. Wo diese letztere Perspektive als fehlerhafte Eigenmacht der Vernunft erkannt wird, verbleibt allein die sinnliche Welt als das Wahre. Damit schließt sich der Kreis der Metaphysik als das Durchlaufen der Rezeption und Reflexion der Vernunft, welche sich zuletzt selbst mit sich selbst verwirft (was schon bei Schopenhauer anklang) und beim Ausgangspunkt des Sinnlichen endet, sich selbst als Vernunftperspektive lediglich nurmehr negativ dabei hat: selbst dies Ausschlaggebend-Wahre weder zu sein noch ermitteln zu können – und so meint Nietzsche, hinter diese Vernunft zurück gehen zu müssen. Für ihn ist die Ansetzung des "wahren Wesens" "hinter" den Dingen das Festmachen einer Perspektive von Welt, welche die notwendige Steigerung des Lebens behindert; diese Steigerung aber sei die eigentliche Aufgabe der Kunst. Maßstab und Weg dieser "Kunst" sollen sich aus dem Instinkt und dem Sinnlichen erheben (wobei er diese grundverschiedenen Kategorien nicht zu scheiden weiß, sondern mystifizierend durcheinandermengt). Es liegt auf der Hand, daß dies ein ganz anderer Kunstbegriff ist als derjenige Platons, der die Kunst in techne und to kalon scheidet. Das Recht, hier überhaupt noch von Kunst zu reden, erschleicht sich Nietzsche quasi, und zwar von daher, was bislang noch alle Kunstästhetiker von ihr forderten, und dies eben seit Platons Zeiten: daß Kunst den Eros in anregender (= steigernder) Weise aufzureizen habe – diese angenommene innere Funktion der Kunst ist aber auch schon das einzig Verbindende; das Wesen der Kunst und deren "Mittel" werden völlig verschieden gedacht. Aber selbst dieses "Letzteigentliche" der Kunst, diese "anregende innere Funktion" muß bestritten wird: Kunst als Kunst ist dazu zu kurz, sie leiht sich die Flamme des Eros vielmehr von der lebendig-existentiellen Innerlichkeit her ("élan vital"), deren eigentliches Brennen, das einst im Religiösen beheimatet war, weder im Ethischen noch im Ideellen gefunden werden kann. In anderen Worten: das Steigernde in der Kunst ist dort vorhanden, wo Existentialität und Vernunft ineinander übergegangen sind; dann vermag Kunst zu bewegen – aber an dieser Stelle stehen wir heute jedenfalls phylogenetisch nicht mehr. Geht Platon in der Vernunft-Rezeption weg vom sinnlichen Leben hin ins metaphysische "Sein" der Ideen, so will Nietzsche zurück in die Verstandeskategorie des bewußten Scheinens – in der Annahme, so "näher" am "wahren" Leben zu sein. Ob das aber auch wahr ist? Und: wann hätte die Kunst je eine solche Aufgabe gehabt, wie sie ihr damit zugeschrieben wird: die Menschheit vor dem Pessimismus zu retten, sie durch Verböserung zu verlebendigen?! War doch Kunst bislang niemals Ursache, sondern Folge; und sie war bislang niemals selbst Herrin, sondern immer im Dienste eines Anderen, etwa der Macht bzw. der Religion. Kunst war mithin bisher immer ein Anzeichen dafür, daß durch das Ergreifen von Welt ein Zuwachs erreicht war – Kunst setzt das Bewußtsein von Fülle voraus, aber sie schafft es nicht! Bei Nietzsche aber soll die Kunst an die Stelle des "toten Gottes" treten als die höchste Erscheinung des WzM, durch deren Schein die Aufstachelung der Menschheit hin zum "Übermenschen" bewirkt werden soll. Weder Nietzsche noch Heidegger fragen dabei danach, wie denn das Wesen einer solchen "Kunst" überhaupt gedacht werden könnte, bzw. wie derartige "Kunstwerke" beschaffen sein müßten, welche eine solche Wirkung auszuüben vermöchten. Denn eines ist doch sicher: der herkömmliche Kunst- und Werkbegriff ist damit gesprengt. Und so versteckt sich hinter diesem "neuen Kunstbegriff" in Wirklichkeit etwas anderes – Nietzsche ist damit auf dem Weg zurück, zurück zum Kult, zurück zum Dionysos-Kult (aus dem doch bei den Griechen die Kunst einst ausfloß!). Diese "Kunst" muß, wenn sie den "toten Gott", mithin die Religion ersetzen soll, selbst Religion werden. An dieser Stelle leidet nun Heidegger am gleichen Fehler wie Nietzsche: den "toten Gott" als einen moralischen anzusetzen, so daß es sich für beide hierbei "nur" um einen Perspektivwechsel handelt, wobei das Abstrakte der Vernunft zugunsten der "Lebenswirklichkeit" des Sinnlichen verworfen wird – anstatt darauf aufmerksam zu sein, daß die Moral sich den Anschein des Religiösen nur erschlichen hat, daß das eigentliche Faktum aber der "Tod" des heiligen Gottes ist! Es ist dieser Kunst- und Mißgriff, welcher die vermeintliche Ersetzung von Moral durch Kunst erst ermöglicht. Denn freilich erlaubt der Schein des Sinnlichen eine buntere Welt als die tatsächliche Leere einer "vernünftigen" Moralität – aber darum geht es überhaupt nicht: der eigentliche "Verlust der Mitte" ist das Abschneiden der Verbindung zum Heiligen – dies heilige Band gilt es wiederzugewinnen, um die Menschen sinnspendend einzubinden. Es fehlt die Einsicht, daß und wie Religion, Moral und Kunst innerhalb einer Kategorie, hier der Vernunft, zusammenhängen und zusammengehören, sich aus ein und derselben Wurzel entwickeln, eben aus einer Kategoriesteigerung gegenüber einem vorherliegenden Vernetzungsbestand. Dann kann es aber nicht angehen, Religion und Moral als Irrtümer über Bord zu werfen, um die Kunst als das allein Seligmachende beizubehalten. Und das geschieht bei Nietzsche in Wirklichkeit auch gar nicht, ohne daß er sich dies selbst und uns allerdings klarmacht; denn "seine" Kunst, die im Entschluß zum existentiellen Schein als WzM das "Neue Wahre" schaffen soll, ist gar nicht mehr Kunst im hergebrachten Sinn, und insoweit gehört auch schon und noch Nietzsche zu jenen, die in Wirklichkeit den zweitausend Jahre lang gültigen Kunstbegriff umstürzen. Dieser zielte unter Vereinigung von Regeln (techne) und dem "Schönen" (to kalon – einem reflektierend ermittelten und zusammengesetzten Ästhetischen) auf eine "höhere" = ideelle "Wahrheit" = Harmonie mit und im Sein. All dies Hergebrachte im Auswickeln und Ausdifferenzieren der Vernunftkategorie wird von Nietzsche verworfen, der Kunstbegriff wird im Rückgriff auf das "Biologische" entgeistet. Genau hingesehen wird vielmehr das Leben selbst mit der Kunst gleichgesetzt, dies aber nicht einmal in all seinen Erscheinungsformen, sondern unter Ausschluß ausgerechnet derjenigen Entwicklungsstufe (Idealismus der Vernunft), welcher sich die eigentliche Kunst verdankt. Kunst als Schaffen wird identifiziert damit, was hier als "lebendige Innerlichkeit" bezeichnet wird – dies aber in einer Rückwendung auf den Instinkt und das Sinnlich-Rauschhafte, vermittels welcher "das Leben", sich inkarnierend als WzM, das "Wahre" als "schönen Schein" schaffen soll. Auch hier läßt sich wieder das Schließen des Kreises der Metaphysik beobachten, bezogen auf die Kunst: am Ende ihrer eigenen Auswicklung verwirft sich die Kunst mit sich selbst, wobei natürlich zugrundeliegt, daß sich dabei die Vernunft mit sich selbst verwirft, ohne diesen Selbstwiderspruch zu sehen: die Vernunft und damit auch die Kunst dieser Kategorie sind am Ende des für sie durchschreitbaren Kreises angelangt, sie sind des (Reflexions-) Treibens müde, und so wenden sie sich mit Nietzsche auf ihren eigenen Ursprung zurück: das Sinnliche, das Rauschhafte, das Instinktive.

Wenn auch diese Rückwendung unsinnig, ja verzweifelt ist (das ist letztlich auch das eigentliche Pathos Nietzsches: ein verzweifelter Kampf der Vernunft gegen sich selbst mittels ihrer selbst), so war dieser Angriff und Umsturz auch noch des Kunstbegriffes dennoch notwendig; denn in der Kunst wurde seit der Aufklärung, in der Romantik bis hin zur Mystifikation durch Schopenhauer der letzte Rückzugswinkel der lebendigen Innerlichkeit. innerhalb der Vernunftkategorie gesucht und gefunden. Die Kunst war der letzte Halt für eine Vernunft, die sich selbst mit lebendiger Existentialität identifizierte, nachdem Religion und Moral (vermeintlich) als menschengemacht diffamiert und entleert waren. Mit dem Verlust dieses letzten Haltes stand sich die Vernunft selbst nackt gegenüber, sie (und zwar doch wieder sie) brauchte neue Kleider. Nietzsche als Kind des 19. Jahrhunderts hält zwar noch am Begriff "Kunst" fest, aber was er damit meint, ist bereits etwas ganz anderes: diese neue und andere "Kunst" soll es sein, welche eine neue Moral und eine neue Religion gebären soll. Er sucht unter dem Namen Kunst nach einem neuen Anfang, weil er verzweifelt an sich selbst wie an seiner Zeit wahrnimmt, daß am Menschen "etwas" fehlt: die Verbindung zur eigenen lebendigen Innerlichkeit, welche unter den alten Begriffen von Religion, Moral und Kunst nicht mehr herzustellen ist. Dies Festhalten am Begriff Kunst "verdankt" Nietzsche seiner falschen Auffassung der Griechen, in deren Art von Weltergreifen er noch eine "ursprüngliche Kunst" vermutet – ohne erstens zu sehen, daß auch noch sein eigenes Denken gerade von dieser Art bedingt ist als in einem Kreisbogen sich bewegend; vor allem aber im Verkennen der Tatsache, daß die Kunst bei den Griechen ebensowenig ursprünglich im Sinne von kausal-bedingend ist wie irgendwo: Kunst ist immer eine Folgeerscheinung, Ausfluß eines neuen Könnens, das sich wiederum aus einem Anderen herschreibt; nämlich aus einer Kategoriesteigerung, die ein neues Bewußtsein von Welt in die Menschen bringt und damit dem Gestaltungswillen des Menschen eine andere Qualität verleiht. Dieser veränderte Gestaltungswille läßt sich aber eben auch bei den Griechen nicht nur auf die und als Kunst reduzieren, sondern geradeso wie in der Religion und der Moral, so verwandelt sich auch im Kunstschaffen die Qualität – und bei allen dreien als Folge dieses Kategoriewechsels. Aus diesem Grund ist es Nietzsche unmöglich, eine Definition "seiner" Kunst zu geben, denn dazu müßte der kategorielle Perspektivwechsel bereits eingetreten sein, auf dessen Suche Nietzsche aber erst noch ist, und dies in der falschen Richtung. Seine Forderung an die Kunst nach dem "Schaffen" im Sinne einer real-existentiellen Erhöhung des Seienden geht an die falsche Adresse; auch ist er selbst eben nicht jener "Übermensch", der diese neue Perspektive einzulösen vermöchte – und darum hat er auch keine Ahnung davon, wie eine solche "Zukunftskunst" aussehen soll, außer jener bloß negativen, daß sie alles, was bisher Kunst hieß, nicht sein könne. Seine "funktionale" Konkretisierung der Kunst aber: daß diese "Kunst" die Verböserung des Menschen und den dionysischen Rausch voraussetzt (was Heidegger "wohlmeinend" und umdeutend analogisiert und abschwächt, wo Nietzsche gerade auf die triumphierende Stärke hinauswill), all dies sei ihm geschenkt: nichts, was bislang Kunst hieß, hat damit zu tun, warum dann zukünftig? In Wirklichkeit redet Nietzsche eben gar nicht über die Kunst, vielmehr bringt er die Natur und das Leben selbst unter die Perspektive des Künstlers als des Schaffenden – nimmt aber dabei, was doch bloß ein Bild sein kann, als die Sache selbst. Dies hat am Grunde trotz aller Verachtung der Vernunft und deren vorgeblicher Wahrheitsfeststellungsmethoden ein Festhalten eben dieser Vernunft an sich selbst: denn auch noch die überhöhende Kunst seit den Griechen ist ein "Produkt" dieser Kategoriesteigerung hin zu dieser Vernunft. Sie läßt sich zwar vordergründig mit sich selbst fahren, und sie entkleidet die Kunst alles ehemaligen Inhalts wie jeder Form; aber indem die Vernunft diese "Zukunftskunst" auf das blanke "Höher" in Form des Scheins reduziert, welcher sich durch Existenz in Wahrheit verwandeln soll, so gehört sowohl dies "Höher" noch ihrer zweitkategoriellen Erkenntnisweise an, wie es andrerseits immer noch diese Vernunft selbst ist, die hier redet und erkennt: und welche dem Auswickeln des Seins ins Seiende meint vorgreifen zu können! Neben jener unsinnigen Rückwendung ins Rauschhafte und in die Verböserung stößt dies am meisten an Nietzsche ab: daß es immer noch seine Vernunft ist, die hier in Eigenstolz auf sich selbst steht, der jede Demut abgeht; denn dieser Künstler, welcher den neuen Schein schafft, der sich in die neue Wahrheit verwandeln soll, jener schaffende Künstler wäre er nur gar zu gerne selbst! Und diese Sicht von Kunst erlaubt es ihm, sich über seinen lebenslangen Stachel im Fleische, Richard Wagner, endlich zu erheben. Denn dies wäre die höchste Form des Schaffens: Nicht "nur" ein Werk, sei dies auch gar das "Gesamtkunstwerk", hervorzubringen, sondern das Leben selbst umzuschaffen! Welch ein Größenwahn ...

Bei dieser kruden Optik hängen das Übersehen des Heiligen und die Verböserung eng zusammen; denn bedeutet das Heilige vor allem auch eine Einung, und zwar sowohl mit dem "numinosen Objekt" (= "Gott") als auch innerhalb des und mit allem Seienden, so ist das Wesen der Verböserung die Entgegensetzung – das Leben wird hier, und dies wiederum mittels der Vernunft, in "richtig" und "falsch" gespalten, wobei jene Verböserung dazu dienen soll, das angeblich Falsche gerade auch mit roher Gewalt auszuscheiden. Damit aber unterschiebt Nietzsche "dem Leben" seine Sicht, wie er wünscht, daß "das Leben" zu sein habe, und erkennt gerade nicht, wie Leben wirklich agiert. Denn es stößt keinesfalls die "Schwachen" in den Abgrund, wie es Nietzsches empörende Un-Ethik fordert. Wenn der Mensch dem Menschen Böses antut, so ist dies nicht "das Leben", sondern das "homo hominis lupus", wo der Mensch seinen Geist im Dienst unterer Kategorien und damit gegen das Leben wie gegen das Heilige einsetzt. Das Leben selbst geht hier ganz andere Wege, es schafft beständig Neues auf einer zu erhaltenden Basis, nichts Altes muß untergehen, sondern es erzeugt sich immer wieder ein labiles Gleichgewicht alles Geschaffenen, soweit dafür Raum vorhanden ist. Lediglich untauglich gewordene Nischenexistenzen, die nicht direkt zum großen Stammbaum des Lebens (und in dessen Beziehungsketten) gehören, mögen verdrängt werden – aber dies ist ein "unschuldiges" Absterben von Überholtem, dessen Platz durch ein Neues eingenommen wird: ein synergischer Effekt des Gesamtorganismus Erde, nicht aber das Sich-Herausnehmen einer Art gegenüber einer anderen. So verhält sich erst der Mensch mittels seiner Ratio, und hier befindet er sich (noch immer) oft in einem Gegensatz zum Leben – vor allem immer dann, wenn er diese Ratio zu unterkategoriellen Zwecken benutzt. Leben "heiligt" sich in seiner Steigerung selbst, indem die Phylogenesespitze zu immer weiterer Belebung und Beziehung vorschreitet bis hin zum Bewußtsein des Menschen, der dies Heilig-Drängende mit eben diesem Bewußtsein zu erkennen vermag – oder aber wie Nietzsche wegsehen und sich umdrehen kann, um als verböserter lupus alten Kategorien zu dienen. In dieser umschaffenden Verböserung dann aber auch noch ausgerechnet die "Zukunftskunst" zu finden, ist geradezu hanebüchen: entstand diese schöpferisch-erhöhende Betätigung, welche wir als Kunst bezeichnen, doch niemals aus einer Verrohung des Menschen, sondern immer als Vorspiel bzw. Nachspiel des Heiligen: mit und als dessen Rezeption und Reflexion in der jeweiligen Kategorie – Kunst war und ist niemals Vergröberung, sondern im Gegenteil Verfeinerung.

Zwar hätte es das Leben, mithin Mutter Natur (Heideggersch: das Seiende im Ganzen), gar nicht nötig, hierin verteidigt zu werden; aber Nietzsche unterstellt ihr mit dem Stoßen eine "Verhaltensweise", welche in Wirklichkeit auf einer falschen Bewertung von angeblich objektiven Beobachtungen beruht. Zwar: wir sehen den Untergang von Arten (auch ohne menschlichen Eingriff), wir sehen die Konkurrenz der Arten und die Freßketten innerhalb derselben, wir sehen das Wesen der Selektion – aber weder mit der Bezugskette "Fressen" noch mit der selektiven Steigerung des Lebendigen kann in die Natur eine Art "Wille" hineininterpretiert werden, Schwächeres dem Stärkeren aufzuopfern, und dies auch noch "mit Lust"! Vielmehr drängt Natur immer auf ein labiles Gleichgewicht, und das Stärkste hat das Schwächste als Basis immer nötig. Natur ist niemals ausgrenzende Entgegensetzung, sondern ein synergisches Flechten von Beziehungen, in welchem Geflecht alles gleich notwendig ist. Das Verdrängen von Arten gehört dann aber ebenso notwendig zum Schaffen, wie andrerseits die jeweiligen Freßketten – innerhalb derer wir auch noch selbst als Nutznießer stehen – nichts anderes sind als rezipierende Bezugsketten innerhalb des Lebendigen.

Nun möchte einer vielleicht einwenden, wie es sich dann mit den großen Lebensvernichtungen durch die Natur selbst verhalte, etwa dem Saurier-Sterben und ähnlichen Katastrophen? Zwar sind diese Vorgänge bis heute in Ursächlichkeit und Ablauf nicht verstanden, aber soviel läßt sich doch sagen: solchen globalen Ereignissen liegt immer eine Veränderung in der Synergik des Gesamtorganismus Sonnensystem zugrunde, zu dem sich unsere Erde und die auf ihr herrschenden Bedingungen als ein Teilsystem in Abhängigkeit befinden. Und auch noch in diesem Gesamtsystem herrscht geradeso wie im Leben selbst ein labiles und empfindliches Gleichgewicht, welches sowohl durch auf der Erde "hausgemachte" Störungen bzw. sich verändernde stellare Bedingungen aus der Bahn geworfen werden kann und so von der anorganischen Basis: mithin der noch weit älteren Beziehungsstruktur des Seienden her als es das Lebende ist, auf dieses Leben in verheerender Weise einzuwirken vermag. Diese Unaufhebbarkeit der Abhängigkeit von der anorganischen Basis etwa moralisch zu nehmen oder einem Gott zuzurechnen bzw. daraus einen Willen der Natur zum Stoßen herauszulesen, geht noch weniger an als innerhalb der Organik, insofern wir hier noch einen Schritt weiter zurück in den Wirkungsbeziehungen des Seienden uns befinden; welche Beziehungen aber, je weiter sie kategoriell voneinander entfernt sind, umso weniger parallelisiert werden dürfen, als sie in ihrer steigernden Entwicklung ihre Qualität verändern.

Daß Nietzsche einer solchen Un-Ethik zwar nur im Werk frönt – und dies in der Hauptsache im Blick auf den "Übermenschen", also einem entfernten "Typus"; jedoch: er empfiehlt diese Verböserung eben gerade auch für den jetzt lebenden Menschen als Weg zum "Übermenschen"! – , dies ehrt ihn einerseits, insofern diese Haltung nicht in seine eigene Realexistenz eingeht. Aber dies ist doch gleichzeitig eine sehr bedenkliche Lücke: wie kann im Werk, und sei es auch von erst zukünftigen Mitmenschen, etwas gefordert werden, was man in der eigenen Realexistenz weder leisten will noch kann? Hätte er nicht vielmehr seine eigene Moralität (und noch mehr deren ihm selbst oft unbewußte Konditionierung) bedenklich finden müssen, anstatt sein sehr moralbewußtes Verhalten auch noch hervorzuheben?

3. Fragen zur Ewigen Wiederkehr

a) Ist die Welt wirklich geschlossen, endlich? Dies wäre ja notwendige Voraussetzung für eine "Ewige Wiederkehr des Gleichen" (EWdGl), jedoch die Physik weiß es noch nicht (s. etwa die "fehlende Materie"; andrerseits und im Gegensatz dazu: gerade dieser Tage wird durch die neue "Vermessung" eines Riesenmilchstraßensystems das ganze Urknallprinzip ins Wanken gebracht) – hier wird jedenfalls eine ganz andere Auffassung vertreten als jener "Big Bang". Das Sich-Sammeln von Materie und ihr Umkehrpunkt wie ihre Flucht kann auch noch ganz anders gedacht werden: als ein fortwährendes und gleichzeitiges Auseinanderstreben wie Zusammenziehen im Wege der vierten Dimension; der Kollaps nicht als ein "einmaliges" (Urknall-) Ereignen, sondern als ständiges Schaffensgeschehen, als ein ewiges und unanfängliches In- und Auseinander des Seienden. Diese Anschauung scheint sich auch wesentlich besser mit den zu beobachtenden Prozessen des Seienden zu decken, wie die Funktion von Materie und Leben organisiert ist: als ein beständiges Aus- und Ineinander bei gleichzeitig schichtendem und steigerndem Weitergeben ohne Anfang und Ziel, sondern als solches, als Prozeß. Um es im Fachchinesisch der Chaostheorie auszudrücken: vielleicht ist einmal die "nichtlineare Dynamik" in der Lage, wenn ihre Rezeption weiter vorgeschritten sein wird, unser oberflächliches Kausaldenken abzulösen? Dagegen macht die Urknalltheorie einen platten und allzu oberflächlichen Eindruck, typisch angemessen menschlicher Ratio, die sich alles so denkt (und zunächst so denken muß), wie allein sie bislang zu denken gewohnt ist: die Dinge nach vorne und hinten zu verlängern innerhalb des ihr zu Verfügung stehenden flachen Koordinatensystems. Und dabei eher das in Wirklichkeit eigentlich Undenkbare in Kauf nehmend, als ihre eigene geschlossene Denkweise aufgebend: die Welt im Stecknadelkopf gilt auch heute noch bis in die höchsten Spitzen der Wissenschaft.

b) Ist die Zeit, in welcher sich jenes "Urknallen" (welches in seiner Wiederholung identisch wäre mit der "EWdGl") abspielen soll, wirklich unendlich? Was ist Zeit? Und nur, wenn Zeit wirklich unendlich ist, muß in ihr das Gleiche wiederkehren.

c) Was ist "unendlich"? Ist dieses Wort nicht nur ein Sprachspiel, hinter dem sich keine eigentliche Erfahrung verbirgt? Ist dieses Wort nicht nur ein Produkt der Vernunftkategorie, ähnlich dem "Guten" (an sich), ähnlich dem monotheistischen "Gott" – also eine Verlängerung unserer Vernunft (wie der "Urknall" bloß eine Verlängerung der empirischen Anschauung ist), einer Vernunft, die von einer Verlängerung des Endlichen auf das Un-Endliche schließt; aber eben nur schließt: denn vom Unendlichen selbst hat die Vernunft ebensowenig Ahnung wie vom Nichts!

d) Es ist der Mensch, der diese Gedanken in die Welt hineindenkt; ist dieses Denken der EWdGl ein Interpretieren, ein Finden, oder ein "Schaffen"? Zu Recht fragt Heidegger nach der "Vermenschung" – um aber das "Vermenschte" in seiner "wahren" Gestalt zu erkennen, muß man den Menschen selbst kennen: wie er die Dinge vermenscht, mithin, wie er denkt und in welchem Verhältnis Sprache und Denken zueinander stehen. Ist Sprache – und mit ihr das Denken – eine Interpretation, oder trifft sie Wirkliches (das Ding "an sich")? Wie verhalten sich Sprache und Denken in den verschiedenen Kategorien zu den Dingen bzw. zur ihren Eigenschöpfungen, wenn etwa hinter einem Begriff keine empirische Erfahrung steht wie beim "Unendlichen"? Stelle dir einen Augenblick vor, es existierten keine Menschen – gäbe es dann eine Zeit, oder nicht nur eine "Dauer"? Wie ist das Verhältnis von Zeit und Dauer? Kann es "Etwas" "außerhalb von Zeit" geben? Was heißt das: "in der Zeit sein"? Zuletzt: wie bestimmt sich das Verhältnis von Zeit und Sein, wenn alles, was ist, "innerhalb von Zeit" ist? Werden ist ein Prozeß, jeder Prozeß setzt aber Zeit voraus; stellt dieser Prozeß des Werdens das Seiende und eo ipso dessen Sein her – oder umgekehrt?

"Raum" ist diejenige Vorstellung und Erfahrung, daß es so etwas wie Raum geben müsse; diese Anschauungsform wohnt unserem Geist aber nicht "a priori" inne (contra Kant), sondern unter der Bezeichnung Raum verbirgt sich diejenige Interpretation, wie sich derjenige "Umstand", welchen wir mit Raum bezeichnen, zunächst und einerseits unserem Verstand, später und andrerseits unserer Vernunft aufprägt. Die Vorläufigkeit und Nicht-Apriorität der Rauminterpretation läßt sich am Wechsel dieser Interpretation durch die Kategorien belegen: Verstand und Vernunft verbinden eine jeweils ganz andere Auffassung mit dieser Vorstellung. Den Raum handzuhaben weiß die Natur bereits mit dem Einsetzen des Lebens: Leben ließe sich durchaus auch als die individuelle Fähigkeit zur Ortsveränderung definieren. In den höheren Formen des Lebens wird die Erfahrung Raum auch bereits instinktiv bzw. additiv-horizontal konditionierbar: als das Einprägen und Wiedererkennen eines Wo im Zusammenhang mit Instinkten bzw. Bedürfnissen. Aus diesem Herkommen geht die Interpretation Raum hervor, seit der Mensch mittels Verstand sich "in etwas" hineingestellt erlebt, das um ihn herum und auf welches er verwiesen ist. Woher aber nehmen wir die Vorstellung einer "Geschlossenheit" des Raumes – und eo ipso als Gegenstück dazu den "unendlichen Raum"? Oder sind beide Anschauungen nicht nur sich kategoriebedingt widerstreitende Ergebnisse einer fehlerhaften, nichtsdestoweniger notwendigen Interpretation von Raum? Die ursprüngliche, erstkategorielle Erfahrung des Raumes durch unseren Verstand führt die Geschlossenheit für diesen Verstand "a priori" mit sich: Raum als Raum kann in der ersten Kategorie nur gedacht werden, wenn und weil dieser Raum geschlossen ist; denn damit etwas sei, muß es begrenzt sein, sonst ist es nicht. Dieses "Grenzende" ist aber gerade das Kennzeichen des erstkategoriellen Raumbegriffes: Raum ist diejenige Hülle, in welcher die Welt (übrigens einschließlich der Götter) enthalten ist. Es ist hier keine von wem auch immer dem Menschen gegebene apriorische "Kategorie Raum" am Werke, sondern diese Erfahrung von Welt ist eine Analogie des erstkategoriellen Denkens. Diese Art Raum (wie auch noch unsere heutige Vorstellung) ist Postulat des Denkens, weil weder der Verstand noch die Vernunft das Nichts denken können. Wie sollte es sich denken lassen, daß "Etwas", mithin die ganze Welt, im Nichts sei? Folglich muß diese Welt wiederum "in Etwas" sein, und dies "Etwas" ist der Raum. Die Begrenzung des Raumes durch den menschlichen Verstand ist somit eine vorläufige Notwendigkeit in der Verstandeskategorie, um diese Welt denkend handhaben zu können, welche folgerichtig in der Vernunftkategorie aufgelöst wird: die Wechselwirkung zwischen der Erweiterung der empirischen Erfahrung sowie der Rezeption der Vernunft führt zu einer völlig anderen Vorstellung des Raumes, das kopernikanische löst das antike Weltbild ab.

Der so mühelos von der Zunge gehende Begriff "Unendlichkeit des Raumes" – der so allgemein verbreitet ist, daß ein Gedanke darüber, was damit eigentlich gemeint sein könnte, offenbar überflüssig ist, womit sich die Leicht-Fertigkeit auch der zweitkategoriellen Verfaßtheit angibt – scheint zunächst zwei notwendige Wurzeln zu haben: erstens die empirische Einsicht in die Unfähigkeit, die gesichteten Weiten des Alls jemals in der Weise in den Griff der Erfahrung zu bekommen, wie dies für die Dinge auf unserer Erde gilt; zweitens von daher, als das erstkategorielle Weltbild als eine mythische Deutung des Verstandes erkannt wird, dessen Ansetzen der Endlichkeit des Raumes durch die rationale Erfahrung widerlegt wird. So wird zwar das alte Raumbild durch die Ratio entgrenzt, aber diese selbe Ratio kann nunmehr die Vorstellung des Raumes aus ihren eigenen Mitteln nicht mehr zum Stehen bringen – und so macht sie in einem Kunstgriff aus der konstatierten Endlosigkeit des Raumes die Unendlichkeit: die zunächst bloß negative empirische Feststellung wird durch die schließende (sic) Vernunft umgewandelt in einen angeblich positiven Begriff, hinter dem sich in Wirklichkeit ein Selbstwiderspruch verbirgt. Die Endlosigkeit soll dennoch zum Stehen gebracht werden, handhabbar werden; das Unendliche wird zum "Gefäß" des Endlichen, auf diesem Schleichweg wird die alte Schwierigkeit des Zusammendenkens vom "Etwas" im "Nichts" zu umgehen gesucht. Es steht aber nicht nur hinter der angeblichen Positivität des Unendlichen keinerlei Erfahrung, sondern dies gilt, wenn man nur genau hinsieht, bereits auch für den Begriff der Endlosigkeit: denn soweit hier nicht nur die Unfähigkeit unserer empirischen Möglichkeiten angesprochen ist, die mit der Konstatierung des Nichtfeststellen-Könnens eines Endes abbrechen müßte, steckt auch noch in diesem Begriff ein positives Setzen der Vernunft in einem analogen Umkehrschluß. Die Endlosigkeit wird selbst zu einem "Etwas", zu einer anderen Weise des "Nichts": Die Vernunft dreht in ihrem eigenen Medium der "reinen Vorstellung" ihre empirische Erfahrung des Grenzens alles Seienden um und setzt ein "entgrenztes Etwas" an, ohne den Selbstwiderspruch wahrzunehmen, daß wir in unserer Vorstellung nichts vorfinden, das ein positives Umgehen mit einem Endlosen = Grenzenlosen erlaubte. Andrerseits ist natürlich dieses hypothetische Verselbständigen von Begriffen das eigentliche Fortschrittsverfahren unserer Vernunft auf all den Gebieten, wo es Neues zu entdecken und damit gleichzeitig auch erst zu schaffen gibt. Denn dabei kommt es zunächst weniger auf die objektive Richtigkeit des Bezuges an als auf die Entdeckung des Bezugs an sich und dessen notwendige Verbindung zur menschlichen Existenz. Die Auswicklung der Richtigkeit und eo ipso die Überwindung der Hypothetik ist immer erst der zweite Schritt. Was für eingeschränktere Entdeckungen der Philosophie oder Psychologie in der falschen Verselbständigung und Systematisierung einzelner Hauptgedanken gilt, dieses Faktum muß sich wohl noch in weit stärkerem Maße bemerkbar machen, wenn wir uns zu den grundlegenden "Aprioritäten" unseres wie allen Daseins verhalten und darüber nachdenken: Raum und Zeit müssen hypothetisch gefaßt werden, das Endliche muß mit dem Endlosen zusammengedacht werden, wenn unser Denken sich nicht selbst abschaffen soll. Daß aber diese Unendlichkeit des Seins mit der Endlichkeit unserer selbst wie unseres Denkens zusammengeht, dafür liefert den Beweis, daß wir selbst diesen Widerstreit sehend existieren, selbst lebendiger und mitschaffender Teil dieses Procedere des Endlichen im Unendlichen sind. Diesen Widerstreit denkend auszuwickeln aber ist selbst ein Teilprozeß des Vorschreitens des Endlichem im Unendlichen, ist eine Ergreifens- und Schaffensweise von Welt. Für die Existenz von uns Menschen wird sich die "Wahrheit" und "Richtigkeit" unseres hypothetischen Bildes von Raum und Zeit immer daran messen lassen, ob die herrschende Vorstellung sowohl unserer innerlichen Existenz wie der Aktivität unseres Schaffens einen offenen Bezug zuweist, der uns Zukunft und Aufgabe ist, oder ob die gültige Vorstellung dazu in einem beengenden Gegensatz steht. Im letzteren Falle wird sie hinweggefegt und von einer richtigeren und öffnenden Vorstellung abgelöst werden, welche neue Vorstellung aber, um sich an die Stelle der alten setzen zu können, sich selbst als eine hypothetisch Gegrenzte setzen muß, worin sie den Keim ihres eigenen Untergangs mit sich führt. Neue Wege sind gefragt, welche unsere Vorstellungen, die uns begrenzend umstellen, erneut sprengen, um zu den Grundvoraussetzungen unseres Daseins wie unseres Denkens: das aber sind Raum und Zeit, in ein offenes und lebendiges Verhältnis zu gelangen. Einen Ansatzpunkt für unsere Vernunft lieferte hierfür bereits Einstein mit der 4. Dimension als der Auswicklung des Raumes in der Zeit, welche Überlegung auch schon dem Bild vom Urknall zugrundeliegt; jedoch hat bei letzterem unwillkürlich das vereinfachende und verkürzende Horizontaldenken zugeschlagen, das in einer naiven Kausalität sein eigenes Nacheinander in das Dasein hineinträgt, anstatt sich erst selbst eine neue Gründung zu geben. Wenn Raum und Zeit als sich gegenseitig hervorbringend in einem unlösbaren Bezug zueinander stehen, so müssen wir uns, nachdem uns das Raumproblem jedenfalls vordergründig eher zugänglich und einsichtig ist – immerhin sind wir mit den bekannten Vorstellungen zur Erforschung des Sonnensystems in der Lage – dem Problem der Zeit zuwenden, jener Schwester des Raumes, welche jeder im Munde führt, von der aber keiner weiß, was sie eigentlich sei.

Die Wurzel aller Zeitvorstellung ist die stete und unumstößliche Wiederholung gleicher Vorgänge – das verführte schon die alten Griechen und in anderer Weise Nietzsche zum Bild der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Dieser Schluß scheint jedoch vorschnell und geht gar nicht erst auf das zugrundeliegende Phänomen ein, wie sich in unserer Ratio als Verstand bzw. Vernunft die Zeitvorstellung herausbildet, bzw. wie diese Vorstellung mit der Realität zusammenhängt. Der Wiederkehrgedanke ist nur eine Projektion von empirisch beobachteten Kreisläufen, ein Schluß vom Teil auf das Ganze – geradeso wie der Mensch "Gott" als Überideal seiner selbst vorstellt. Was wir im Normalverstand als Zeit bezeichnen, leitet sich ab aus rhythmisch wiederkehrenden Zyklen in der Natur; denn diese Zyklen bestimmen unser Leben in all seinen Bedingungen: die Sonne und deren "Jahr" ist unsere Lebensgrundlage. Nachdem der zunächst mystische, später mythische Bezug zur Zeit als eines lebensspendenden Zyklus seit den Griechen einer rationalen Anschauung weichen mußte, erlebt sich der Mensch in einer völlig neuen (und teilweise noch heutige gültigen) Perspektive in die Welt gestellt: in einer zeitlichen horizontalen Perspektive nach hinten und vorne – dies ist die zweitkategorielle Verlängerung der Zeitlinien vom Ich aus in die Vergangenheit und die Zukunft, wo vorher die Eindimensionalität des Mythos den Menschen in ein gleichbleibendes Dasein einbettete. Nicht zufällig steht die Ewige Wiederkehr des Gleichen am Beginn und am Ende der zweiten Kategorie: wo bei Heraklit der Mythos noch in die neue Zeit hineinragt und sich quasi verdünnend zurückzieht, dort schafft sich die Vernunft zur Rettung ihrer selbst mit Nietzsche einen neuen Mythos. Sowohl bei Heraklit wie bei Nietzsche wird das Phänomen Zeit beim Gedanken der Wiederkehr weder empirisch noch wissenschaftlich-rational gedacht, sondern mythisch-existentiell. Hingegen entwickelte sich aus den Bemühungen von Babyloniern und Ägyptern um die Beobachtung der Gestirne, welche selbstverständlich auch zunächst im religiösen Rahmen geschah, gleichzeitig eine empirische Kenntnis vom Lauf der Gestirne, die in Verbindung mit der Zählung der Jahresrhythmen innerhalb jeweiliger Regierungszeiten zu einem neuen Zeitverständnis führte (augenscheinliches Zeugnis: der Kalender). Eine nicht ganz uninteressante Parallele ist hier, daß Völker, welche die Vernunftkategorie nicht selbständig erreichten, sogar noch bis heute – s. etwa Japan – die Jahreszählung nach wie vor nach Herrschaftsdauern durchführen und mit jedem neuen Herrscher wieder von vorne zu zählen beginnen. Solche Sicht der Zeit aber ist erstkategoriell, Zeit ist hier endlich, entspricht einer empirischen Dauer. Dies deckt sich mit dem Raumbegriff der Verstandeskategorie, welcher ebenfalls endlich gedacht wird. Und wie beim Raum wechselt mit der Vernunftkategorie die Qualität der Zeit, sie wird unmeßbar und endlos, womit sie die Qualität der Unendlichkeit annimmt.

Hier zeigt sich schon ein erster Denkfehler Nietzsches, der sein Bild von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen gerade auch "wissenschaftlich" begründen möchte: denn er setzt zwar einerseits die Zeit als unendlich an (allerdings ohne den Begriff und die Herkunft dieser Unendlichkeit zu hinterfragen), andererseits verendlicht er den Raum über die angebliche Begrenztheit der Kraft – das aber ist ebenso inkonsequent wie willkürlich, eine mythische Regression. Denn der Entstehungsgrund beider "Unendlichkeiten" ist der nämliche: ihre reflexiv-zweitkategoriell unterstellte Endlosigkeit – mit der einen Unendlichkeit setzt man per se ipsum die andere. Denn die Parallelität von Raum und Zeit besteht doch vor allem darin, daß beider Grundzug die Entfaltung ist. Ein Raum ohne Zeit ist geradeso undenkbar wie eine Zeit ohne Raum.

Man könnte nun versucht sein, die Zeit selbst noch einmal zu erweitern, zu verdoppeln: ähnlich wie im Wege von der Verstandes- zur Vernunftkategorie sich das Wesen der Zeit dadurch verändert, daß die Dauern der Regierungszeiten, nach denen diese Zeit gezählt wird, in einer höheren Zeit enthalten sind, – ebenso könnte man annehmen, daß jene unsere angeblich unendliche Zeit, welche innerhalb einer "Wiederkehr" (="Big Bang" = ein "Weltzyklus") abläuft, nur ein Unterfall der "wirklichen Zeit" sei, welche dann wahrhaft unendlich und insoweit identisch mit der Ewigkeit sei: als in welcher sich das "Auseinanderrollen" dieser Weltzyklen abspielte, worin wir uns nach der gängigen Lehre vom Urknall (und dessen anzunehmender Wiederholung) in einem beliebigen Zyklus befänden. Aber ist nicht auch noch dies Bild vom urknallend-pulsierenden Raum verkehrt? Verdankt sich diese Zusammenfassung des Alls im Stecknadelkopf nicht nur einer allzu vereinfachenden Denkweise, welche das, was sie von sich aus sieht, empirisch nach hinten und vorne verlängert? Ließe sich denn nicht vorstellen, daß unsere Beobachtung der Fluchtbewegung durchaus richtig ist, daß aber andrerseits diese Interpretation als Flucht insoweit falsch ist, als diese Bewegung aller Himmelskörper womöglich gerade im Gegenteil als ein Zusammenstürzen in der Krümmung des Raumes gesehen werden könnte?! Und weiter: daß mittels dieser Krümmung der "Raum" in sich selbst ist?! als das grenzende Unbegrenzte, das sich in sich selbst schlingt ...? Natürlich versagt hier die empirische Vorstellung, aber das tut sie im Urknallmodell, wenn man nur ehrlich ist, geradeso – und eine solche Erklärung wäre jedenfalls offener als die krude Vereinfachung des "Big Bang". Wie verhielten sich dann diese Krümmung des Raumes und Zeit zueinander? Jedenfalls kann in der Krümmung jene relative, eingeschränkte Zeit überlistet werden, die als Dauer an Zyklen gebunden und insoweit Interpretation ist. Die eigentliche Zeit aber ist immer und immer gleich – ewig und unbegrenzt, und daher für Seiendes unanschaulich, weil sowohl das Seiende selbst wie auch dessen Anschauungsweisen begrenzt sind und nur zu Begrenztem "in Kontakt" treten können. Dieser Ewigkeit der Zeit entspricht die Unaufhörlichkeit der Krümmung als eines gleichzeitigen in sich und aus sich Schlingens, in welchem Auseinanderschlingen und Schaffen des Seienden die Zeit der zweiten Ordnung (etwa eines Weltzyklus) geboren wird.

Welches "Schwergewicht" – bezogen auf unsere menschliche Existenz hätte ein solches Weltbild? Vordergründig zunächst gar keines, weil in ihm bislang noch kein Bezug zur existentiellen Innerlichkeit des Menschen mitgedacht ist, und so fehlt das "Heilige", das Numinose, jene "Zentrale", welche in der Vernunftkategorie der monotheistische Gott einnahm. Wo wäre dann in einer solchen Anschauung jener existentielle Bezugspunkt alles Seienden wiederzufinden? Das Grundgesetz des Lebens ist dasselbe wie dasjenige des Raumes einschließlich dessen Krümmung: Entfaltung in der Zeitlichkeit (diese wiederum eingebettet in die Ewigkeit) unter Hintanlassen des ehemals Geschaffenen (das Aus- und Ineinanderschlingen – Tod und Wiederverwendung, welche insoweit mithin bereits in der Seinsweise des Alls vorgebildet sind; wobei womöglich sogar daran zu denken wäre, ob nicht der Raum selbst einer "Evolution" unterliegt, indem sich seine Bauformen im Wege dieses In- und Auseinander "steigern"). Diese Entfaltung des Raumes aber ist in der Grundstruktur völlig identisch mit derjenigen des Lebens selbst: beider Wesen ist entgrenzendes Grenzen. Es sind noch immer jener gleiche "Grundtrieb" (= "élan vital") und die gleiche Weise der Bewegung, welche den "Raum" hinaus und in die Krümmung treiben, die auch das Leben in diesem Raum hinauftreiben. Es ist immer noch das nämliche Agens, das sich im Menschen in dessen Kategorien sublimiert und mit diesen "Bauformen des Raumes" (welche wir doch selbst sind) diesen Raum selbst anschaut. Nicht aber nur anschaut (thaumazein), sondern selbst zur Mitbedingung des Bauens werdend! Und so ist es am Menschen, sich das Baugesetz und dessen Gerichtetheit des Bauens bewußt zu machen – bewußt zu machen für die eigene Existenz, um diese in Übereinstimmung mit allem Seienden (und schließlich mit dem Sein im Ganzen) zu bringen. Dies Ziel aber, und gleichzeitig die Grenze der Einsicht der jeweiligen Menschen, ist jenes Transzendente, das die Doppeltheit dieser Grenze bereits in seinem Namen kundgibt: als das grenzende Ende, auf dessen Überwindung (und damit Steigerung) die Konzentration im Numinosen zielt: das Heilige, welches allein der Mensch zu Recht über sich selbst zu stellen vermag. Dies Schwergewicht der dreifachen Verantwortung und Bezugsmöglichkeit ist das, was den Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit ihre je eigene Existenzaufgabe stellt: einmal für das Seiende als zu Bewahrendes, zum zweiten die Ausdifferenzierung der eigenen Potenz als Mensch, und drittens das Wahren des Bezuges zum lebendigen Schaffen des Seienden als Transzendenz über den Menschen als jeweils soseiender hinaus.

Dieses Schwergewicht ist von ganz anderer Art als jenes, das Nietzsche in seiner EWdGl ersinnt; denn es verbindet das innere Wirken alles Seienden vom Untersten her bis zu uns hinauf, wie wir selbst dies treibende Agens in uns wahrzunehmen vermögen. Wohingegen jene Überlegung, zu der uns Nietzsche überreden möchte, bloß erklügelt ist: daß bei endlicher Kraft und unendlicher Zeit alles Seiende sowohl schon einmal in gleicher Weise dagewesen sei wie in gleicher Weise wiederkehren werde. Die darin enthaltene Zwangsläufigkeit des Seienden im Sein (u.a. auch eine Art Prädestination) stößt jede freie Vernunft ab. Weder wurde bislang das wahre Heilige im Wege des Erklügelns gefunden, noch stand bislang das "größte Schwergewicht" in einem derart abstoßenden Verhältnis zur Denkart der Menschen: es mußte sich mit der jeweiligen Kategorie vereinbaren lassen – oder es fiel als Irrlehre hinweg. Denn die jeweilige Erhöhung einer Kategorie ist es, die eine neue Sicht des Heiligen bedingt, und so kann es zwischen dem Heiligen und der Ratiokategorie keinen Widerspruch geben. Und: noch nie hatte es das größte Schwergewicht nötig, sich beweisen zu lassen – wie Nietzsche tut; der Beweis mittels Ratio (s.a. die Gottesbeweise und deren Widerlegung von Augustin bis Kant) war schon immer ein Argument dagegen.

Nun deutet dieses Abstoßens wegen Heidegger die EWdGl so um, daß sie zu seinem Gebäude des Seienden im Sein "paßt" – er nimmt das Bild eher mythisch/mystisch, wo Nietzsche dies ganz rational meint und naturwissenschaftlich beweisen möchte. Inhaltlich dazu später, hier zunächst formal zum Wesen der Umdeutung als solchem, weil dies Problem immer wieder begegnet (etwa als Analogisierung): es muß eine Art Grenze geben, an welcher eine Umdeutung eben keine solche mehr ist, sondern eine Vergewaltigung, ein Hinüberziehen auf ein anderes Gebiet – und dessen scheint sich Heidegger in Bezug auf Nietzsche immer wieder schuldig zu machen. Denn entweder wußte Nietzsche, dieser Meister des Ausdrucks, was er sagen wollte, dann schrieb er insbesondere im Werk genau dasjenige auf, was und wie es dastehen sollte – folglich ist hier kein Deuten möglich, sondern nur ein Ernstnehmen dessen, wie es in Sprache geformt wurde. Oder Nietzsche wußte nicht (genau), was er "eigentlich" wollte (oder "wollen sollte") – und dies unterstellt ihm offenbar Heidegger des öfteren –, dann wäre er aber kein Philosoph, sondern eine Art Prophet! Man tut Nietzsche jedoch nichts Gutes, wenn man ihn zu letzterem macht, und er selbst hält sich doch auch für einen Denker – also müssen wir ihn beim Wort nehmen.

Andrerseits, von und für sich selbst herkommend, ist Heidegger im Recht, Nietzsche zu deuten bzw. zu analogisieren: Wenn es ihm nämlich darum geht, die tiefsten und hintersten Gedanken Nietzsches, auch wenn sich diese nur erschließen lassen, mit seinen eigenen Gedanken zu vergleichen, deren Platz in seinem Bau ergründen zu wollen. Denn jeder Denker, wenn er denn ein solcher sein soll und will, muß darauf sehen, daß in seinem Bau: wie er seine Vorstellung des Seins und des Seienden entwirft – alle Gedanken und Vorstellungen anderer Vor- und Mitdenkenden mitenthalten sein können und müssen. Unter diesem Aspekt die Vorstellungen Nietzsches auf sein Gebiet zu ziehen, wo jedenfalls diesen Vorstellungen gleichartige Vorstellungen unter anderen Begriffen entsprechen, ist gerechtfertigt. Dies wäre dann eine Art "Entsubjektivierung", um auf den Kern in Nietzsches Vorstellungen zu stoßen, wie ihn dieser selbst nicht zu konkretisieren gewußt hat. Daß dies oft nötig ist, geht schon aus der Nichtbeachtung dessen bei Nietzsche hervor, was der "letzte" jetzige Mensch denn eigentlich sei, mithin: was Geist ist. Ihn interessiert vielmehr nur, was der "neue Mensch" werden solle – wieder aber, ohne hinzusehen, was auch noch im Hinblick auf diesen "Übermenschen" Geist sein muß – und daß gerade dieser Geist auch noch die Basis des "neuen Menschen" sein und bleiben muß. So gesehen ist auch noch Nietzsche "moralisch" (= wertend), nur daß er eine Unmoral als Moral will, aber dies ist immer noch Moral als apriorische Wertesetzung. Denn seine "Liebe" schöpft aus dem "Reichtum" der Triebe, stellt damit gegen die herrschende Ordnung eine andere. Er will sein Chaos weiter "unten" festmachen, wo das Leben als Schaffendes schon längst nach oben darüberhinaus geschritten ist – um hier einmal Hegeln zu zitieren: was wird, ist (auch) vernünftig (nämlich dadurch, daß es wird, und daß eben nichts anderes wurde), und Nietzsche ist unvernünftig: Er sieht nur, daß der Mensch als Seiendes, wie er ihn sieht, "herzlich schlecht" ist – und darum spaltet er den Begriff "Geist" in kruder Weise auf: die Vernunft (Geist = Ratio) müsse sowohl von sich selbst wie auch von falschen Wertsetzungen (= Ende der Metaphysik) erlöst werden, an führende Stelle gehöre das "heilige" Spiel (= dionysische "Kunst") der Triebe (Instinkt = "Vernunft des Leibes" = "Geist"). Hier aber kann Heidegger nicht nur als der "Vernünftigere" nicht mitgehen, er erlebte es in eigener Gleichzeitigkeit und aus eigener Verführtheit und schlimmer Erfahrung mit, wie sich ein solches Hintanstellen der Vernunft hinter das Ausleben von Trieben in der Realität (etwa der des "Dritten Reiches") auszuwirken vermag – was ihn zwar nicht grundsätzlich und aktiv-öffentlich zum Abschwören gegenüber jenem völkisch-neuschaffenden Kraftmythos veranlaßte, welchen er etwa in seiner Direktorats-Rede noch als Aufbruch im Nationalsozialismus zu finden wähnte; jedoch öffnete ihm die Realität die Augen für die Kruditität dieses Rückwärts, so daß ihm von hier aus nur der Ausweg ins Philosophisch-Mystische blieb. Zuletzt gibt Heidegger anders als Nietzsche eben doch der Wahrheit die Ehre der ersten Rangstelle vor einer solchen "Kunst" ... – denn das Schaffen des Lebens ist kein freies Spiel, das sich an sich selbst berauscht, sondern sein Höher weist sich gerade erst dadurch als ein solches aus, daß es alles Seiende vor ihm als seine eigene Basis umfaßt und so durch sich selbst das ganze Sein erhöht.

Versuchen wir Nietzsches Hauptaussagen: EWdGl, WzM und Übermensch in ein Bild zusammenzufassen; der Übermensch ist das Ziel, auf welches der WzM im "letzten Menschen" hinarbeitet, diesen Übermenschen muß jener letzte Mensch im Augenblick der EWdGl wollen, indem er diesen Gedanken der EWdGl existentiell denkt, d.h., daß er ihn annimmt und von da aus seine Existenz durch diesen "Augenblick des Ewigen" bestimmen läßt: jeder Augenblick derselben ausgerichtet auf diese EWdGl und deren Ziel im Übermenschen, welche Existenz aus dieser Gerichtetheit ihren eigenen Untergang will. Der WzM und die EWdGl werden insoweit identisch bzw. auswechselbar, als das aktive Ziel der EWdGl dieser WzM als Erhöhung des Lebens ist, wie ebenso der WzM jene EWdGl gerade darin bejaht, daß das Seiende sich selbst verneint um der Erhöhung des Seienden willen, weil dies im Ring des Seins ewig wiederkehrt – diese Ewigkeit kann sich im WzM nur als erhöhender Kreis selbst wollen. Mit dieser Auffassung ist Nietzsche zwar schon positiv objektiviert – er selbst pflegt sich gemeinhin konkreter, positivistischer und härter auszudrücken, grausam gegen das Seiende; das aber sind ja doch auch lebende Menschen, die im Namen des Übermenschen "abgeschafft" werden sollen, wozu man jene durchaus auch noch aktiv stoßen solle – für Zarathustra ist dies zwar eine schwer zu schluckende Kröte, jedoch, er schluckt sie ... Trotz dieser wohlmeinenden Analogisierung müssen wir aber doch fragen: Ist diese Sicht auch wahr? Die Interpretation des Seins im Ganzen als WzM im Verbund mit dessen EWdGl? Und: wie denkt sich Nietzsche eigentlich den Übermenschen, diese angeblich nächste Verkörperung des WzM im Seienden? Was können wir aus aller bisherigen Erfahrung über das Wesen des Seienden dazu als Erwartung hegen? Dieser "Übermensch" ist natürlich für uns als "letzte Menschen" das nächstliegende, weil wir selbst es sein sollen, die auf jenen als das nächste Ziel und unseren eigenen Untergang hinzuarbeiten hätten: Diese Überwindung unserer selbst sei unsere existentielle Aufgabe, unterstützt vom Gedanken der EWdGl als Schwergewicht und in der Erkenntnis, daß das Sein im Ganzen WzM sei. Dann wissen wir aber, wenn wir alle Hervorbringungen des Seienden anschauen, daß

a) die Innovation über die vorherige Spezies hinaus zwar individuell beginnt, daß aber aus einer Innovation (wenn sie denn eine solche ist: d.h., daß mit ihr die Hervorbringung einer neuen Spezies geschieht) notwendig eine Population hervorgehen muß, die in sich ein ähnliches, wenn nicht sogar ein höheres Gefälle einschließt, wie wir dies auch schon bei uns, den "letzten Menschen" beobachten können. Der "Übermensch" würde also in sich als Art geradeso und zumindest in fünffacher Weise (kategoriell) unterteilt sein wie der Mensch, weil auch er noch den gleichen natürlichen Anlagen und deren unterschiedlicher Ausdifferenzierung in den Individuen unterliegen müßte. Denn ebenso, wie der Mensch nicht ohne den "Unterbau" der Primaten als seiner Ahnen wie ohne die Grundlage des gesamten Lebensstammbaumes gedacht und verstanden werden kann, geradeso wäre der Mensch in der Form des "letzten Menschen" jene direkte Ausgangsstruktur des Neuen, aus welcher sich mittels (cerebraler gestützter) Innovation der Übermensch erheben soll.

b) diese Veränderungen durch und in Richtung auf Höherentwicklung nichts mehr mit dem Phänotyp zu tun haben werden, sondern auf den Grad der Bewußtheit zielen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Phänotyps. Phänotypisch würden mithin wir "letzten Menschen" den Typus des Übermenschen gar nicht erkennen können, sondern ihn für einen der Unseren halten! Der beste Beweis für diese zunächst unbewiesene Behauptung ist der Mensch in der Form des homo sapiens sapiens selbst: welcher sich trotz seiner eigenen Innovationen (vor allem von der Verstandes- zur Vernunftkategorie) phänotypisch nicht verändert hat. Nietzsches Übermensch würde daher, um ihn mit hier folgenden Gedankengängen zusammenzubringen, zuletzt einer Teilpopulation des Menschen entsprechen, in welcher eine "dritte Kategorie" neuronal und existentiell verwirklicht wird. Wenn Nietzsche meint, daß ebendadurch der "letzte Mensch" notwendig untergehen müsse, so irrt er in der Vorgehensweise des Lebens selbst: ebensowenig, wie die Innovation hin zur Vernunftkategorie das ständige Hervorbringen der Verstandeskategorie innerhalb der Population des Menschen verhindert, vielmehr diese Kategorie in schöner Regelmäßigkeit vorhanden ist und sogar überwiegt; ebenso ist und bleibt der "letzte Mensch" in der Form der Ausdifferenzierung der Vernunftkategorie die Basis des Übermenschen. Diese Sicht erscheint insofern zwingend, als wir, wenn wir denn schon über eine Höherentwicklung Aussagen machen wollen (und dafür steht doch der Übermensch), uns innerhalb derjenigen Vorgehensweise der Natur (und Kultur) halten müssen, wie wir diese als bis zu uns hin führend vorfinden, welche Vorgehensweise uns bedingte und welche wir zuletzt mitbedingen – oder wir werfen unseren (angeblichen) "Ausblick" derart weit in die "Zukunft", daß in Wirklichkeit unter dem Begriff Übermensch nichts mehr verstanden werden kann, sondern er entweder für einen mystischen oder mythischen Bezug steht. Mystisch wird eine solche Ausdeutung des Begriffes Übermensch eher dann sein, wenn damit in Wirklichkeit gar nichts Konkretes gesagt sein soll, wenn auf ein für uns "letzte Menschen" eigentlich Undenkbares gewiesen werden soll. Dann wird aber lediglich ein Begriffstausch vorgenommen, mit dem das im Dunkeln liegende Offene, jene Leerstelle verdeckt werden soll, welche früher mit "Gott" besetzt war, und wodurch der Gottesbegriff "dynamisiert" wird. Eher mythisch ist der Begriff dann besetzt, wenn unter ihm ein "großes Zurück" in eine angeblich "natürliche Gesundheit" verstanden wird, etwa das dionysische Chaos: dahinter verbirgt sich nur der Überdruß der Reflexion an sich selbst, welche sich mit sich selbst von sich selbst zwanghaft loszureißen sucht, um den Menschen in einem Ehemals angeblich "neu" auf ein Anderes zu gründen. Nietzsches Ausdeutung des Übermenschen springt zwischen beiden Möglichkeiten des Mythos und des Mystischen hin und her, und zwar je nachdem, ob er von Seiten seiner Ratio bzw. seiner Existentialität her argumentiert; ist es dann aber richtig, diese seine Übermenschen-Philosophie soweit zu analogisieren, wie sie oben mit einer "dritten Kategorie" verbunden wurde? Heideggers Ausdeutung des Übermenschen ist ausschließlich mystisch, insofern er ihn letztlich mit der Überwindung des Kreislaufes der Metaphysik identifiziert, mit einer neuen Gründung des Seins im Ganzen durch eine neue Weise des Seins in der Zeit, welches durch einen Bewußtseinswandel des Menschen hin zum Übermenschen bewirkt werden soll: ein neues Entbergen der aletheia. Eine solche sich ins Mystische wendende Entleerung vergeht sich jedenfalls gegen das Analogisierungsverbot, wenn doch Nietzsche tatsächlich viel konkreter spricht, und wenn er ausdrücklich keinesfalls verwechselt werden will: sein Übermensch versteht sich nicht als rational unbegreifliche Mystik, sondern als ein Mythos des Schaffens im Wege der Kunst.

4. Das Sein im Ganzen und die EWdGl

Das Sein des Seienden muß im Sein des Ganzen eingeschlossen sein, sonst hätte ersteres sich nicht aus letzterem zu entfalten vermocht; und die Bestimmung des Seins im Ganzen sowie des Seins des Seienden kann nur wechselseitig hergeleitet werden, ausgehend vom Sein des Seienden: von woher und was wollte man ins Sein des Ganzen eintragen, was nicht zunächst im Sein des Seienden erfahren worden wäre? Grundsätzlich ist bei der Auffassung Heideggers zu bedenken, wie sehr diese Konstruktion des Seins im Ganzen, des Seins des Seienden sowie des Seienden selbst jenen Überlegungen bei Spinoza gleicht: als eine weitere Abstraktion vom Seienden auf das Wesen hin zum "Wesen" des Wesen – was zuletzt als mechanische und grundlose Verlängerung eines zunächst richtigen Abstraktionsverfahrens via Reflexion erscheint.

Das Wesen des Seins im Ganzen muß für alles Seiende Ausgangspunkt sein, ebenso wie alles bisher erschienene Wesen des Seienden sich im Sein wiederfinden können muß; damit ist aber gesagt, daß das Sein des Ganzen unabgeschlossen (weil nicht vollständig entfaltet) und jede Aussage über das Sein im Ganzen vorläufig, hypothetisch ist, weil dessen Wesen nach einer weiterer Entfaltung (etwa durch jenen "Übermenschen") erst neu bestimmt werden muß und kann. So gesehen ist die Bestimmung des Wesens des Seins im Ganzen als WzM in EWdGl eine Voreiligkeit des "letzten Menschen" Nietzsche. Und dies auch noch verbunden mit einer fehlerhaften Auffassung des Wesens des Seienden, durch welches doch das Wesen des Seins im Ganzen mitbedingt wird. Denn indem bei Nietzsche die Art und Weise des Seienden, wie allein es sich zu steigern vermag, nicht mitgedacht wird, sondern einzig die Forderung nach einem Höher im Wege einer "neuen Kunst" auf der Basis des dionysischen Triebspieles erhoben wird, löst er sich von den beobachtbaren Lebenstatsachen und gerät in ein mythisch-mystisches Abseits. Vielmehr gehört die tatsächliche Art und Weise der Steigerung des Seienden unlösbar zum Wesen des Seienden (und damit ebenso zum Wesen des Seins im Ganzen), denn sie ist der Weg des Seienden vom Tieferen zum Höheren; dieser Weg seiner Entfaltung kann jedoch nicht nur im existentiellen Entschluß der Annahme der EWdGl gefunden werden, sondern er braucht notwendig auch eine leibliche Basis: Nietzsche gibt in der EWdGl "nur" den spirituellen Akt des Umschlagens im Individuum – welcher Akt im übrigen sicherlich für das Individuum das größere Problem ist; er gibt aber keinerlei gegründete Vorstellung über das Wesen des Seienden und dessen Art und Weise, wie dieses Seiende in seinem funktionalen Sosein überhaupt erst in die Lage versetzt werden kann, sich vor diesem Sprung zu sehen. Es genügt aber nicht, nur die Aufgabe zu sehen, den Nihilismus zu überwinden; vielmehr muß man, wie auch Nietzsche weiß, dazu erst existentiell durch jenen hindurchgegangen sein. Die Voraussetzungen dafür aber, neuronale Entwicklung und existentielle Reflexion, deren Wesen und Funktion, gibt Nietzsche nirgends – wenn er auch ein Bewußtsein davon hat, daß ihm hier etwas fehlt: Nicht umsonst wollte er erst noch zehn Jahre Naturwissenschaften studieren. Für das Wesen des Übermenschen kommt es auf dessen gedachte Distanz zum "letzten" = heutigen Menschen an: Zarathustra/Nietzsche als Lehrer der EWdGl segnet seinen Untergang (und nicht nur seinen ...) in dem Bewußtsein, daß er selbst noch ein Übergang, mithin dieser Übermensch nicht sei. Das Verhältnis von Mensch zu Übermensch wird vielmehr bestimmt wie das Verhältnis des Affen zum Menschen – ein Gelächter soll der Mensch dem Übermenschen sein. Aus einer derartigen Distanz wird das Wesen des Übermenschen für den "letzten Menschen" Nietzsche ebenso wie für den "Übergang" Zarathustra unsichtbar: wie der Affe das Wesen des Menschen nicht verstehen kann, geradeso der Mensch im Hinblick auf den Übermenschen. Die Kluft von einer Spezies zur nächsthöheren ist nicht die kleinste, sondern als unüberbrückbare die weitest denkbare. Auch wird in einer solchen Distanz jener Satz: "auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" doch gänzlich falsch, ist eine ähnliche Verwechslung, als wenn der Affe den Neandertaler für seinesgleichen hielte. Und Nietzsche meint hier in Wirklichkeit auch etwas ganz anderes: den Augenblick des Denkens der EWdGl! Denn sieht man auf seine Existenz als ein Gesamt von Leben und Schaffen, so war diese durchaus nicht geprägt von einem durchdringenden Sprung, vielmehr stand auch er noch in der bloßen Möglichkeit, daß dieser Gedanke für wahr gehalten werden können müsse – und dieses Erleben des annehmenden Augenblicks der EWdGl ist Nietzsches "heiliger Moment", dessen späte und der Vernunft unausrechenbare Folge erst der Übermensch sein soll.

Wenn die Distanz zwischen Mensch und Übermensch wie im Verhältnis zwischen Affe und Mensch gesetzt wird, dann folgt daraus weiter zwangsläufig, daß sich durch dieses Hervortreten des Übermenschen das Wesen des Seins im Ganzen in doppelter Weise verwandelt: das Sein im Ganzen wie dessen Wesen wird ein anderes, als nunmehr in ihm etwas Neues, insbesondere qualitativ völlig Neuartiges ist, weshalb Wert und Wesen des Seins im Ganzen von dieser neuen Höhe her bestimmt werden müssen – ebenso, wie der Mensch das Wesen, den "Sinn" des Seins im Ganzen in einem Anderen findet als etwa der Affe. Dies gilt insbesondere für den von Nietzsche dem Sein im Ganzen untergeschobenen WzM als dionysisch-triebhaften Chaos: die Qualität dieses WzM muß sich doch ebenso himmelweit von der des Menschen unterscheiden wie zwischen Affe und Mensch. Es kann dann keinesfalls das Sein im Ganzen und dessen Wesen von dieser überholten "Altart" Mensch her gesehen oder gar bestimmt werden – gerade dies jedoch möchte Nietzsche leisten mit dem WzM in der EWdGl! Damit erlaubt er sich aber einen ebenso lächerlichen Vor- und Übergriff, als wenn der Affe uns vorschreiben möchte, worin wir den Sinn der Welt zu erblicken hätten. Nietzsches Existentialität verwechselt und vermischt auch hier die Distanzen: er meint, etwas über diesen Übermenschen sagen zu müssen, weil dieser Begriff ansonsten natürlich völlig mystisch und rational gänzlich leer bliebe (und er darüber nur hätte schweigen können!) – und so schiebt er dem Wesen dieses angeblichen Übermenschen sich selbst in der Weise unter, daß er sein eigenes Angerührtsein durch das Denken und sein annehmendes Für-Wahr-Halten der EWdGl als einen "Kontakt zum Übermenschen" interpretiert, in welchem er "ahnungsweise" sich als in diesen verwandelt empfinden mag. Anstatt sich klar zu werden, daß er hier nur in Kontakt zu sich selbst, zum eigenen über sich selbst hinauswollenden Selbst steht! Damit hat man zwar eine der höchsten Stufen des Existierens als "letzter Mensch" erlebt – doch ist man deswegen noch lange nicht Übermensch.

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