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Erste Abteilung:

Nietzsches Vorlauf und
Lou von Salomés Herkunft


Lou von Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche

Man könnte diese ganze Episode als banale Dreiecksgeschichte abtun, wie sie in jedem Groschenroman zu finden ist – und doch werden diese immer wieder gerne gelesen, wie der Erfolg solcher Heftchen belegt! Warum? Nun, in einem solchen "Dreieck" ist wohl immer auch eine tragische Schicksalshaftigkeit gegeben, denn die Akteure handeln ja meist höchst unfreiwillig, und so schürzt das Schicksal den tragischen Knoten, dessen Auflösung den Leser in mitleidende Anspannung versetzt. Dies gilt für das nun zu behandelnde "Dreieck" noch in ganz besonderer Weise, als einmal diese Episode für das Denken Nietzsches (und natürlich auch Lous) nicht folgenlos ist; zum andern fordert sie die voyeuristische Neugier heraus, genau sehen zu wollen, wie ein solcher Maßstäbe setzender Psychologe wie Nietzsche, nachdem er in eine solche Situation hineingeschlittert ist, diese in der realen Existenz bewältigt.

Gleichzeitig kann die Schilderung dieser Episode dazu dienen, einige der wohl wichtigsten Jahre Nietzsches im Hinblick auf Leben und Werk aufzuhellen – ist es doch zum Gesamtverständnis notwendig, den Zeitraum von Herbst 1881 bis weit ins Jahr 1884 hinein abzudecken.

I. Vorlauf Nietzsches vom Herbst 1881 bis April 1882:

Im Herbst 1881 treffen wir Nietzsche in Sils Maria an, im Engadin direkt hinter St. Moritz 1800 m hoch gelegen, wohin er am 4. Juli des Jahres zum ersten Male gekommen war; er hat soeben die "Morgenröte" abgeschlossen und arbeitet an deren Fortsetzung, die später den Namen "Fröhliche Wissenschaft" erhalten wird.

Sils Video
Sils im Engadin
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Nietzsche hat für seine wiederholten Aufenthalte in Sils bei der Familie Durisch ein Zimmer gemietet, direkt an einem bewaldeten Abhang gelegen. Hier lebt er unter bescheidensten Umständen, 6-7 Stunden am Tag geht er um die beiden Seen (Silser und Silvaplaner See) und in den Bergen spazieren und macht sich Notizen – wenn er nicht gerade wieder von Anfällen gepackt darniederliegt. Über seinen "Glücksfund Sils" berichtet er gleich nach seiner Ankunft:


Silser See im Herbst - HW 1982

"Zuletzt bin ich ... in dem lieblichsten Winkel der Erde untergebracht worden: so still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk." (KSB, 6, Nr. 122, S. 100)


Nietzsche-Haus in Sils und sein Zimmer - HW 1982

Wenn er gesundheitlich in der Lage dazu ist und - wie oft in den Jahren 1884-1888 - Besuch erhält, vorwiegend von Damen aus dem niederen Adel oder etwa Heinrich von Stein, oder wenn er in seiner Einsamkeit sonst Ansprache sucht, dann speist der "Einsiedler von Sils Maria" auch gerne im Hotel Alpenrose.


Hotel Alpenrose - HW 1982

Anfang August überfällt ihn bei einem Spaziergang am Silvaplaner See, bei einem "mächtigen Felsblock unweit Surlej", der Ewige-Wiederkunftsgedanke, den er als Aphorismus 341 in die Fröhliche Wissenschaft aufnimmt.


Der "Zarathustrastein" am Silvaplaner See - HW 1982

Die Bezeichnung "Zarathustrastein" ist allerdings falsch gewählt, da der "Zarathustra" selbst in die Folgezeit nach Genua gehört.

Da der Engadin im September bereits erste Schneefälle erlebt und die Temperatur bereits sehr kühl werden kann, entschließt sich Nietzsche, Anfang Oktober nach Genua zu gehen, wo er nach mehreren Umzügen ein ihm genehmes Zimmer in der Sallita delle Battistine 8 findet.

Das Motto der Nietzsche-Ausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Museum Weimar: "Wann ist der Gotthardtunnel fertig?" stammt aus diesen Tagen: "Wann soll er befahren werden? Er soll mich zu Dir und den Ärzten ... bringen; ich habe eine lange Consultation ins Auge gefaßt." schreibt er am 14. November an Overbeck. (KSB 6, Nr. 167, S. 140) Neben dem Augenleiden und den Anfallsleiden samt Galle-Erbrechen plagen ihn "hohle Zähne" mit Zahnschmerzen, und da es in Genua keine Öfen gibt, kommt noch ein Blasenleiden hinzu: "Was für Anfälle habe ich hinter mir!"


Genua im September - Live-Webcam

Am 27. November hört er dort zum ersten Mal Carmen – und ist sofort begeistert: In Bizets Oper meint er ein mit seiner Auffassung von Musik übereinstimmendes Gegenbeispiel zu Wagner gefunden zu haben; an Gast schreibt er:

"Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennengelernt, eine Oper von Francois Bizet (wer ist das?): Carmén, Hörte sich an wie eine Novelle Mérimée’s, geistreich, stark, hier und da erschütternd. Ein ächt französisches Talent der komischen Oper, gar nicht desorientiert durch Wagner, dagegen ein wahrer Schüler von H. Berlioz. So etwas habe ich (nicht) für möglich gehalten! Es scheint, die Franzosen sind auf einem besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen großen Vorsprung vor den Deutschen in Einem Hauptpunkte: die Leidenschaft ist bei ihnen keine so weithergeholte (wie z. B. alle Leidenschaften bei Wagner)." KSB 6, Nr. 172, S. 144

Hören Sie einen Ausschnitt aus der Ouvertüre

Am 25. Januar.1882 notiert er: "Ich bin seit einigen Tagen mit Buch VI, VII und VIII der >Morgenröthe< fertig, und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und 10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten – ich bin noch nicht reif genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schlußbüchern darstellen will. Ein Gedanke ist darunter, der in der That >Jahrtausende< braucht, um etwas zu werden. Woher nehme ich den Mut, ihn auszusprechen?" (KSB 6, Nr. 190, S. 159) – und so stattet er mit dem "Sanctus Januarius" seinen Dank an diesen Genueser Januar ab und weiht sich im direkt folgenden Aphorismus seinem amor fati.

Am 4. Februar besucht Paul Rée Nietzsche und bringt die langerwartete Schreibmaschine mit, deren Kosten seine Schwester Elisabeth übernommen hatte. Leider erweist sich diese als recht reparaturanfällig und so stellt Nietzsche seine diesbezüglichen Versuche bald wieder ein.

Schreibmaschine Nietzsches u. Brief an die Mutter

Das Wetter ist schon recht frühlingshaft, und so gehen die beiden Freunde viel spazieren, baden im Meer (was Nietzsche überhaupt gerne tut) und besuchen das Theater (u.a. die Kameliendame mit Sarah Bernhardt und Rossinis Barbier von Sevilla - Nietzsche dazu: "Aber die Musik mißfiel mir. Ich liebe ein ganz anderes Sevilla".) Rée berichtet Elisabeth Nietzsche über ihr Zusammensein am 5. Februar 1882.


Genua: La Lanterna
(Leuchtturm - Internet)

Nietzsche schreibt am selben Tag an die Familie: "Rée und ich waren gestern an jener Stelle der Küste, wo man mir in hundert Jahren (oder 500 oder 1000 [...]) ein Säulchen zu Ehren der >Morgenröthe< aufstellen wird. Wir lagen fröhlich wie zwei Seeigel in der Sonne." KSB, 6, Nr. 195, S. 167 – also jene Stelle, an der ihn sein "Zarathustra" überfallen hatte, auf die er sich im Ecce homo in der Rückerinnerung bezieht und dessen Tiere, Löwe und Adler, (später dann Schlange und Adler) bereits im Aphorismus 314 der Fröhlichen Wissenschaft auftreten. Für wie einschneidend und bedeutungsschwer er dasjenige einschätzte, was Zarathustra zu sagen haben würde, zeigt auch der großartige Aphorismus 125 vom "tollen Menschen" ...

Es dürfte kein Zufall sein, daß sich Nietzsche in dieser Zeit des Auftauchens von Zarathustra zum ersten Male (wie später bekanntlich noch oft) eines Pseudonyms bedient – so unterzeichnet er einen Brief an die Mutter vom 29. Oktober 1881 als "Philoktet"*, und in einem weiteren Schreiben vom 6. November: "Ich erhebe mich eben von der letzten Niederlage. Aber lassen wir die Gesundheit (und ogni speranza)! Ich bin hier in Genua so reich, so stolz, so ganz principe Doria." (KSB, 6, Nr. 164+165, S. 138)

Vom 1.-3. März 1882 fährt er mit Rée nach Monaco, denn dieser spielt gerne – was später noch von Bedeutung sein wird; Nietzsche hingegen beobachtet nur, und hält Rée vor größeren Verlusten zurück. Übrigens besitzt er selbst ein Los bei der Mailänder Lotterie.

In der ersten Märzhälfte erscheint ein Bericht über Nietzsche im Berliner Tageblatt – und bereits hier, in seinem Bericht an Overbeck darüber (KSB, 6, Nr. 210, S. 180):

"Ein Bericht des Berliner Tageblattes über meine Genueser Existenz hat mir Spaass gemacht – sogar die Schreibmaschine war nicht vergessen."

taucht die Formulierung einer "zweijährigen Ehe" auf ("ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können"), also noch ganz ohne Bezug auf Lou, welche Formulierung später zu so folgenreichen Mißverständnissen führen wird, obwohl Nietzsche ganz offensichtlich lediglich diese bereits an Overbeck verwendete Formulierung wiederholt.

Am 13. März reist Rée nach Rom zu Malwida ab, offenbar über Monte Carlo, wo er alles Bargeld verspielte. Am 15./16. März trifft er in Rom ein.

Am 21. März antwortet Nietzsche auf Rées (verlorenen) Brief über Lou: "Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus – in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren thun will brauche ich sie. Ein ganz anderes Capitel ist die Ehe – ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verstehen, und auch dies nur in Anbetracht dessen, was ich in den nächsten 10 Jahren zu thun habe." KSB, 6, Nr. 215, S. 185f.

Ganz offenbar greifen hier die Wünsche Nietzsches, wie er sie soeben Overbeck gegenüber nach einem "intelligenten und unterrichteten jungen Menschen" geäußert hatte, und das, was ihm Rée nun von Lou Salomé berichtete, direkt ineinander, und so wiederholt Nietzsche hier den Gedanken von der "zweijährigen Ehe", ganz sicherlich ohne sich konkret etwas dabei zu denken, denn er kennt Lou ja noch gar nicht.

Am 27. März schreibt auch Malwida von Meysenbug an Nietzsche im Hinblick auf Lou: "Ein sehr merkwürdiges Mädchen (ich glaube Rée hat Ihnen von ihr geschrieben) welche ich, unter vielen anderen, meinem Buch verdanke, scheint mir ungefähr im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt zu sein, wie bis jetzt Sie, d. h. zum praktischen Idealismus, mit Beiseitelassung jeder metaphysischen Voraussetzung und Sorge um die Erklärung metaphysischer Probleme. Rée und ich stimmen in dem Wunsche überein Sie einmal mit diesem ausserordentlichen Wesen zusammen zu sehen, aber leider kann ich nicht zu einem Besuch Rom’s rathen, da die Bedingungen des Lebens hier für Sie nicht wohlthuend sein dürften." KGB, III, 2, Nr. 115, S. 247

Ganz unerwartet – und in den Motiven schwer nachvollziehbar – reist Nietzsche daraufhin am 29. März nicht etwa nach Rom, sondern mit einem Segelfrachter nach Messina, das doch wesentlich südlicher gelegen und damit heißer ist als Genua oder Rom. Wollte er etwa Wagner begegnen, der zu dieser Zeit in Palermo gerade die Partitur seines Parsifal beendet hatte und genau in diesen Tagen über Messina zurückfuhr, wie Nietzsche aus Presseberichten wissen mußte? Jedenfalls hatte er sich noch in Genua den Overbecks gegenüber dahin geäußert, daß er zur in diesem Jahr anstehenden Uraufführung des Parsifal nicht gehen werde, es sei denn, er würde von Wagner persönlich dazu eingeladen. Daß er innerlich von Wagner nach wie vor nicht loskam, zeigt sein eindrucksvoll-wehmütiger Aphorismus Sternenfreundschaft aus der Fröhlichen Wissenschaft.

Am 20. April schreibt Paul Rée an Nietzsche nach Messina (KGB II, 2, Nr. 118, S. 251):

"Sie haben am meisten die junge Russin durch diesen Schritt [die Reise nach Messina] in Erstaunen und Kummer versetzt. Dieselbe ist nämlich so begierig geworden, Sie zu sehen, zu sprechen, daß sie deshalb über Genua zurückreisen wollte, und sie war sehr zornig, Sie so ganz entrückt zu sehen.
Sie ist ein energisches, unglaublich kluges Wesen mit den mädchenhaftesten, ja kindlichsten Eigenschaften. Sie möchte sich so gern, wie sie sagte, wenigstens ein nettes Jahr machen, und das sollte nächsten Winter sein. Dazu rechnet sie als nöthig Sie, mich und eine ältere Dame, wie Fräulein Meysenbug, (haben Sie diesen Brief noch bekommen?), aber diese hat keine Lust.
Könnte man nicht diese Zusammensein arrangieren – aber wer als ältere Dame? Ort müßte wohl Genua sein oder könnten Sie sich auch zu einem anderen entschließen? Es könnte doch zu nett werden. Hier in Rom ist etwas viel Geselligkeit [...]. Ich halte bei Fräulein von Meysenbug Vorträge über mein Buch, was mich einigermaßen fördert, zumal auch die Russin zuhört, welche Alles durch und durch hört, so daß sie in fast ärgerlicher Weise schon immer vorweg weiß, was kommt, und worauf es hinaus soll. Rom wäre nicht für Sie.
Aber die Russin müssen Sie durchaus kennenlernen."

Aus dieser Beschreibung Rées werden durchaus schon einige Charakterzüge von Lou Salomé kenntlich – insbesondere jene unbekümmerte Selbstbezogenheit, auf die sich wohl Rée, nicht aber Nietzsche einzustellen wußte.


Lou von Salomé als junges Mädchen

II. Lou Salomés Werdegang


Petersburg im Sommer- Quelle: Internet

Die Familie des Vaters Gustav Salomé (1804-1879), der 6jährig 1810 nach Petersburg kommt, stammt von südfranzösische Hugenotten ab; er ergreift erfolgreich die militärische Laufbahn, wird 1831 durch Zar Nikolaus I. in den Adelsstand erhoben und im Generalstab Inspektor der zaristischen Armee. Er wird als von gallisch heißblütigen Temperament geschildert, pflegt geistige Interessen und soll gar mit Puschkin befreundet gewesen sein. Im Jahr 1844 heiratet er Louise Wilm (norddeutsch-dänischer Abstammung); aus der Ehe gehen 5 Knaben und als jüngstes Kind am 12.2.1861 Louise hervor. In der Familie wird deutsch, französisch und russisch gesprochen.

Lou verlebte in dieser Familiensituation eine glückliche Kindheit als Liebling des Vaters; auf dessen Betreiben hin gründete sich in Petersburg mit Genehmigung des Zaren eine deutsche reformierte Gemeinde unter Leitung des dogmatischen Pastors Dalton. Lou, der schon in diesem Alter Gott fragwürdig geworden war, verweigerte sehr zum Unwillen der Familie, insbesondere des erkrankten Vaters, die Konfirmation. Anläßlich dieser Auseinandersetzungen beschreibt ihre Mutter 1879 in einem Brief das Wesen Lous (Lebensrückblick, Anm. E. Pfeiffer, S. 223): "...Du bittest mich, liebevoll gegen sie zu sein, aber wie ist das möglich bei einem so starren Charakter, der immer und in Allem nur seinen Willen durchsetzt ..."

Ihre aus dem Gottesverlust herauswachsende Grundeinstellung bezeichnet sie selbst als "dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist." (Lebensrückblick, S. 24) Und selbst noch im Alter konnte sie den "Gott-Verlust" als ein "Unglück" für sie bezeichnen. (S. 221, Anm. 25)


Petersburg im Winter- Quelle: Internet

Parallel dazu existierte noch eine Gemeinde der holländischen Gesandtschaft in Petersburg, der als Pastor Hendrik Gillot vorstand. Dieser war 1873 mit 37 Jahren nach Petersburg gekommen, galt als brillanter Kopf und predigte deutsch und holländisch.


Hendrik Gillot (1836-1916)

Lou Salomé (1881)

18-jährig gerät Lou in seinen Bann, als sie ihn bei einer seiner Predigten hört; sie sucht ihn auf, und er nimmt sie als Schülerin an. Ausweislich ihrer Hefte beschäftigt sie sich mit folgenden Themen:

"Ihre zahlreichen Notizbücher »geben eine Vorstellung von Umfang und Intensität ihrer Arbeit unter Gillots Anleitung. Eines zeigt, daß sie Religionsgeschichte studierte und das Chrstentum mit dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Islam verglich; sie beschäftigte sich mit dem Problem des Aberglaubens in primitiven Gesellschaften, mit der Symbolik ihrer Riten und Rituale, und grübelte über die Grundvorstellungen der Religionsphänomenologie nach. Ein anderes Notizbuch handelte von Philosophie, von Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie. Ein drittes beschäftigt sich mit Dogmatismus und Problemen wie der messianischen Vorstellung im Alten Testament und dem Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit. Ein viertes, französisch geschrieben, enthält Notizen über das französische Theater vor Corneille, über das Zeitalter der klassischen französischen Literatur, über Descartes, Port Royal und Pascal. In einem fünften finden sich Aufsätze über Schillers Maria Stuart, über Krimhild und Gudrun. Unter Gillots Leitung las sie Kant und Kierkegaard, Rousseau, Voltaire, Leibniz, Fichte und Schopenhauer... Louise erhielt dadurch eine intellektuelle Bildung, die ihr im späteren Leben sehr viel nützte. Sogar die schriftstellerische Neigung wurde jetzt geweckt, denn Gillot erlaubte ihr, einige seiner Sonntagspredigten für ihn abzufassen«, nicht zum restlosen Vergnügen aller »Gläubigen«, die eine allzugroße Abweichung von der Bibel verspürten." (Janz II, 114 f.)

Gillot ist 25 Jahre älter als Lou und Vater zweier mit Lou fast gleichaltriger Töchter; trotzdem betreibt er die Auflösung seiner Ehe, um sich Lou zuwenden zu können und macht ihr einen Heiratsantrag. Lou hat es also von Anfang an mit den Männern nicht leicht, alle wollen sie gleich heiraten, wie wir später sehen werden. Hingegen liegt für Lou offenbar der Reiz dieses Liebesverhätnisses wie etwa auch später zu ihrem Ehemann in der körperlichen Unerfülltheit.

Deshalb lehnt sie natürlich schroff ab, genau das will sie gerade nicht, diese Vermischung von geistigen und "niedrigeren" Bedürfnissen – in dieser wie auch in späteren Beziehungen ist sie die Nehmende, die in denjenigen Wünschen, die sie beim jeweiligen Gegenüber weckt, nicht zu geben bereit ist. Die Freundschaft zu Gillot bleibt zwar bestehen, Lou aber war klar, daß sie nun fort mußte. So kommt es 1880 – nach dem Tod des Vaters 1879 – zu einer letzten Reise mit Gillot und der Mutter nach Holland: Lou braucht die Konfirmation, die sie bislang standhaft verweigert hatte, da ihr sonst kein Paß ausgestellt worden wäre, um in Europa zu reisen. Die "Feierlichkeit" wird von Gillot genau nach den Vorstellungen Lous durchgeführt und besiegelt gleichzeitig die Trennung von diesem. Er tauft sie dabei in einer "lästerlichen holländischen Rede", wie sie selbst sagt, von der die Mutter kein Wort versteht (Janz II, 117), auf den Namen "Lou", und sie nimmt ihn von ihm – ein romantisch-exaltiertes Geschehen, das – in umgekehrter Weise – an Siegmund und Sieglinde in Wagners Walküre erinnert...

Weitere Einzelheiten der Beziehung zu Gillot können Sie auf der Dokumenten-Seite der Schilderung von Lou Salomé selbst sowie einer ausführlichen Anmerkung des Herausgebers von Lous Lebensrückblick, Ernst Pfeiffer, entnehmen.

Im September 1880 reist Lou endgültig zusammen mit der Mutter nach Zürich ab: Die dortige Universität nimmt als einer der ersten auch Frauen zum Studium an; da Lou keinen entsprechenden Schulabschluß hat, führt der dortige Prof. Biedermann (ausgerechnet der theologische Lehrer von Gillot, der in Zürich lehrt) eine "Prüfung" durch und nimmt sie als Studentin an. Sie hört unter anderem allgemeine Religionsphilosophie, Religionsgeschichte, Logik, Metaphysik, Archäologie und Geschichte.

Der Ausbruch einer Lungenkrankheit erzwingt die Unterbrechung des Studiums; da man nach damaliger Ansicht ein warmes Klima für günstig hält, wenden sich die beiden Frauen nach Rom, wo sie im Februar 1882 eintreffen; auf Empfehlung des Züricher Prof. Kinkel, bei dem Lou Kunstgeschichte gehört hat, führt Malwida von Meysenbug Lou am 11.2.1882 in ihre Kreise ein.


Dr. Paul Rée (1849-1901)

Malwida von Meysenbug (1816-1903)

Und nun trifft also Dr. Paul Rée, mittellos aus Monte Carlo von Nietzsche in Genua kommend, am 15. oder 16.3.1882 in Rom ein und wendet sich direkt an Malwida, um seine Reiseschulden bezahlen zu können.


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