Erste Abteilung:

Nietzsches Vorlauf und
Lou von Salomés Herkunft

Dokumente


Dokumente zu Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche

Erste Abteilung

1. Heinrich von Stein:

Mit diesem jungen Adligen aus der Rhöngegend (Karl Eduard Heinrich Freiherr von Stein zu Nord- und Ostheim, 1857-1887), der in Berlin Philosophie und Naturwissenschaften studiert hatte, war Nietzsche sowohl über Rée wie den Wagnerkreis bekannt geworden; dieser war 22-jährig bei den Wagners in Bayreuth 1879 Erzieher Siegfrieds geworden; in Halle habilitierte er sich und las über Schopenhauer und Wagner. Im Sommer 1884 besuchte er Nietzsche in Sils ("ein prachtvolles Stück Mensch und Mann" – so stellte dieser sich den Prototyp seiner Jünger vor ...). Kurz vor Antritt seiner Professur in Berlin, die von Dilthey unterstützt worden war, verstarb er plötzlich.–
Über Rée war er mit den Werken Nietzsches bekannt geworden, und so schrieb er an diesen aus Halle am 28. Okt. 1881 im Hinblick auf Nietzsche (F. Nietzsche - P. Rée - L. v. Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung. Hg. E. Pfeiffer, Insel-Verlag 1970 S. 88:

"Ich verdanke nämlich Dühring eine vielleicht nicht ungründliche kritische Schulung; sein Geist, ein beinahe skeptischer Geist, verläßt mich nie, wenn ich die kühnsten Folgerungen Schopenhauers, die phantasievollsten Sätze Wagners erwäge: und diese Folgerungen und Sätze halten Stand, ja gewinnen bei dieser Sichtung. Daß man ihren Werth unmittelbar empfinde, durch ein tiefes, wenn auch erst in zweiter Linie schöpferisches, heroisches Bedürfen – das ist freilich zu diesem allem die Grundlage. Und das besaß Nietzsche, das besitzt er noch: wer in der Gnade gewesen ist, kann nicht aus der Gnade fallen; er glaubt, wenn auch nur in der entlegensten Tiefe stiller, sehnsüchtiger Wehmuth. Auf dieses Credo aber kommt es an; und wir vermögen wahrlich aus dem credo, quia absurdum, ein credo, neque enim est absurdum <ich glaube; denn es ist nicht widersinnig> zu gestalten.
Herzlichst ergeben

Heinrich von Stein"

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2. "mächtigen Felsblock unweit Surlej",
Sils, August 1881 – aus: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 1.:

Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den [Anfang] August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: "6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit". Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke. – ... In die Zwischenzeit gehört die "gaya scienza", die hundert Anzeichen der Nähe von etwas Unvergleichlichem hat; zuletzt giebt sie den Anfang des Zarathustra selbst noch, sie giebt im vorletzten Stück des vierten Buchs den Grundgedanken des Zarathustra. ... –


In den Silser Bergen - "6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit" - HW 1982

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3. Die Ewige Wiederkunft des Gleichen – Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 341:

Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: "Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!" – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: "du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!" Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und jedem "willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?" würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –

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4. Sanctus Januarius, Die Fröhliche Wissenschaft, Vor dem 4. Buch

Der du mit dem Flammenspeere
Meiner Seele Eis zerteilt,
Daß sie brausend nun zum Meere
Ihrer höchsten Hoffnung eilt:
Heller stets und stets gesunder,
Frei im liebevollsten Muß:–
Also preist sie deine Wunder,
Schönster Januarius!

Genua, im Januar 1882

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5. amor fati, Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 276

Zum neuen Jahre. – Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!

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6. Genua, Januar 1882 – aus: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 1.

... Den darauf folgenden Winter [1881/82] lebte ich in jener anmuthig stillen Bucht von Rapallo unweit Genua – ... Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Strasse nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags, so oft es nur die Gesundheit erlaubte, umgieng ich die ganze Bucht von Santa Margherita bis hinter nach Porto fino. ... Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor Allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich...

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7. Rée berichtet Elisabeth Nietzsche über ihr Zusammensein am 5. Febuar 1882 nach Naumburg (Dokumente aaO., S. 92 f.):

Mein hochverehrtes Fräulein!
Ich befinde mich in einem Zustande ausgelassenen Entzückens – das Wort bittet um Entschuldigung, aber die Sache ist die, ich habe Alles vom Größten bis zum Kleinsten so ungeheuer viel besser gefunden, als ich erwartete.
Um zunächst vom Größten anzufangen: Ihr Herr Bruder ist so wohl und, was ja fast noch mehr sagen will, so heiter, wie ich ihn seit meinem ersten Aufenthalt in Basel (etwa 1872) nicht gesehen habe. ... Er hat ein freundliches Zimmer mitten in der Stadt, aber völlig ruhig, weil ein Kloster daneben liegt, vor dem kein Wagen passiren darf. Sehr viel Vergnügen machte ihm auch Ihr Notizbuch mit dem kühn dareinschauenden Adler. Seine Liebenswürdigkeit hatte bereits ein Zimmer für mich in der Nähe besorgt, was wir zunächst besahen, und wo ich am Nachmittag einzog. Dann gingen wir nach dem Theater und nahmen 2 Billets für heute (Sonntag) Abend – Sarah Bernhard ! ! ! !
Nachmittags am Meere liegend im schönsten Gespräch und göttlicher Aussicht. Genua fast so schön wie Neapel. Wir fürchteten nur, das ungewohnte Sprechen möchte ihn doch für den heutigen Tag etwas verdorben haben – aber er kam schon heute Morgen wieder zu mir, so heiter und wohl, wie gestern. Um 2 treffen wir uns wieder, gehen ans Meer und heute Abend Sarah

Aber

keine Rose ohne Dorn – der Dorn ist diesmal Schreibmaschine. Sie ist etwas verbogen. Aber ein Mechanikus hier versichert mir, sie vollkommen wiederherzustellen. Denken Sie nur, die Klötze, zwischen welche sie eingeklemmt war, hatten sich gelöst; unbegreiflicherweise waren sie schlecht geleimt. Eigentlich hätten sie eingelassen oder angenagelt sein sollen. Dadurch ist sie im Kasten hin und her geworfen. Aber ängstigen Sie sich bitte nicht. Unter allen Umständen liefere ich sie in dem Zustande ab, in welchem sie war. Sobald der Mechanikus fertig, schreibe ich wieder.       Die herzlichsten Grüße

Paul Rée

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8. Zarathustra tritt auf: Die Fröhliche Wissenschaft Aphorismus 342

Incipit tragoedia. – Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See Urmi und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz – und eines Morgens stand er mit der Morgenröte auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: "Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluß ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind. Dazu muß ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends tust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! – ich muß, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzu großes Glück sehen kann! Segne den Becher, welcher überfließen will, daß das Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden." Also begann Zarathustras Untergang.

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9. Gott ist tot: Die Fröhliche Wissenschaft Aphorismus 125

Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!" – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!" – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet. "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?"

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10. Sternenfreundschaft - Wagner und Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft Aphorismus 279

Sternen-Freundschaft. – Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen‘s uns nicht verhehlen und verdunkeln, – als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder, – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Eben dadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! Es gibt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Strassen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen, – erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu kurz und unsere Sehkraft zu gering, als daß wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müßten.

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11. Lou über die Beziehung zu Hendrik Gillot: L. S. Lebensrückblick S. 28ff.:

Auch in meinem Fall ergab sich das, indem die kindliche Phantasterei und Träumerei sich ein Stück weit in die Wirklichkeit weggeschoben sah. Ein leibhafter Mensch trat an ihre Stelle: er trat nicht neben sie, sondern mitumgriff sie – selber Inbegriff aller Wirklichkeit. Für die Erschütterung, die er auslöste, gibt es keine kürzere Bezeichnung als die, worin sich mir das Erstaunlichste, nie für möglich Erachtete, mit dem Urvertrautesten, von je und je Erwarteten einte: »ein Mensch!« Denn so urvertraut, weil des Erstaunlichen voll, war nur der Liebe Gott dem Kinde gewesen, im Gegensatz zu allem Begrenzenden ringsum, und eben deshalb ja, in dessen Sinn, nicht eigentlich »vorhanden«. Hier ereignete sich an einem Menschen die nämliche Allesenthaltenheit und nämliche Allüberlegenheit. Aber dieser Gottmensch trat überdies als Gegner jeder Phantasterei auf, er vertrat erziehlich die uneingeschränkte Richtung auf klare Verstandesentwicklung, und ich gehorchte dem nur um so leidenschaftlicher, je schwerer es mir fiel, mich darauf umzustellen: förderte es doch mittels des Liebesrausches, der mich steigerte, die Einheimsung der Wirklichkeit (die er in sich darstellte und mit der ich allein bisher nicht zu Rande gekommen war

Dieser Erzieher und Lehrer, erst heimlich besucht, dann von der Familie anerkannt, half mir unter anderm durchsetzen, daß er mich für weitere Studien in Zürich vorbereiten dürfe. So wurde er, sogar innerhalb seiner Strenge, ebenso geschenkreich wie der einstige »göttliche Großvater«, der nur immer Wünsche erfüllte: als würde er Herr und Werkzeug in Einem, Führer und Verführer zu meinen eigensten Absichten. Wieviel infolgedessen an ihm hängenbleiben mußte von einem Duplikat, Doppelgänger, revenant des Lieben Gottes, erwies sich erst an der Unmöglichkeit bei mir, die Liebessache real und menschlich zum Abschluß zu bringen.

Allerdings entschuldigte mich dabei Verschiedenes weitgehend; nicht zum wenigsten ein Altersunterschied, der geradezu dem von letzter Besessenheit und erstem Erwachen gleichkam; sodann der Umstand, daß mein Freund vermählt und Vater zweier, mir ungefähr gleichaltriger Kinder war (was mich zum Teil nur deshalb nicht störte, weil ja auch für Gott bezeichnend ist, allen Menschen verbunden zu sein, ohne daß dies die allerpersönlichste Ausschließlichkeit des Verhältnisses zu ihm aufhebt). Überdies aber hatte ihn meine anhaltende Kindhaftigkeit – herkommend von nordländisch-später Körperentwicklung – gezwungen, zunächst vor mir zu verheimlichen, daß er die familiären Vorbereitungen zur Verbindung zwischen uns schon veranlaßte. Als der entscheidende Augenblick unerwartet von mir forderte, den Himmel ins Irdische niederzuholen, versagte ich. Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus Herz und Sinnen ins Fremde. Etwas, das eigene Forderungen stellte, etwas, das nicht mehr nur den meinigen Erfüllung brachte, sondern diese im Gegenteil bedrohte, ja die mir gerade durch ihn gewährleistete geradegerichtete Bemühung zu mir selbst umbiegen wollte und sie der Wesenheit des Andern dienstbar machen – hob blitzähnlich den Andern selber für mich auf. In der Tat stand ja damit ein Anderer da: jemand, den ich unter dem Schleier der Vergottung nicht deutlich hatte erkennen können. Dennoch hatte für mich meine Vergottung recht gehabt denn er war bis dahin derderjenige gewesen, dessen es zur Wirkung auf mich bedurft hatte, um mit mir selber besser zu Strich zu kommen. Diese im Grunde von vornherein gegebene Doppelstellung zu ihm drückte sich übrigens in dem Kuriosum aus, daß ich ihn bis zuletzt nicht duzte, sondern nur er mich, trotz allem Liebesverhalten. ...

(S. 31) Aber gerade infolge von diesen Reifehemmnissen hatte mir die unvollendete Liebeserfahrung einen unwiederholbaren, durch nichts zu überbietenden Zauber behalten, eine Unwiderleglichkeit, die sich die Probe auf das Leben ersparte.

(S. 40) Über mögliches Glück oder Unglück, Hoffen oder Bedürfen flutete die ganze Inbrunst der Jugendlichkeit dem »Leben« zu, ein objektlos-gemüthafter Zustand – der sich, wie Liebeszustände tun, sogar in Versen Luft machte. Das in diesem Sinn bezeichnendste Versgebilde darunter, beim Verlassen der russischen Heimat in der Schweiz in Zürich entstanden und von mir »Lebensgebet« genannt, will ich, abschließend, hersetzen:

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich Dich liebe, Rätselleben –
Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,
Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe Dich samt Deinem Harme;
Und wenn Du mich vernichten mußt,
Entreiße ich mich Deinem Arme
Wie Freund sich reißt von Freundesbrust.

Mit ganzer Kraft umfaß ich Dich!
Laß Deine Flammen mich entzünden,
Laß noch in Glut des Kampfes mich
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!
Schließ mich in beide Arme ein:
Hast Du kein Glück mehr mir zu schenken
Wohlan – noch hast Du Deine Pein.

(Nachdem ich es Nietzsche gelegentlich aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und er es darauf in Musik gesetzt hat, lief es feierlicher auf etwas verlängerten Versfüßen.)

[S. 225: LAS bemerkte zu dem Schluß des "bombastischen" Gedichtes, für sie drücke er aus, daß sie auch das durch den Gottesverlust "beraubte" Leben noch ganz habe umfassen wollen, für ihn, Nietzsche, sei der Schluß ein Ausdruck seines amor fati gewesen.–

Als sie sich gelegentlich mit Freud über den Schluß des Gedichts unterhielt, meinte jener: "Nein! wissen Sie, da täte ich nicht mit! Mir würde geradezu schon ein gehöriger irreparabler – Stockschnupfen vollauf genügen, mich von solchen Wünschen zu kurieren!" (S. 168)]

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12. Die Beziehung zu Hendrik Gillot: L. S. Lebensrückblick, Anmerkung des Herausgebers E. Pfeiffer S. 222 ff.

Hendrik Gillot, 1836-1916, Prediger an der holländischen Gesandtschaft in St. Petersburg. Gillot (der Name wird wie ein deutscher Name ausgesprochen) war damals der bedeutendste protestantisch-unorthodoxe Kanzelredner der Stadt. Dadurch, daß er als Angehöriger der Gesandtschaft auch keiner der Petersburger protestantisch-reformierten Kirchenleitungen unterstand, war er in seiner Lehrverkündigung verhältnismäßig unabhängig. DerKonfirmationspfarrer von Louise v. S., Hermann Dalton, war einer seiner theologischen Gegner. Gillot hatte, noch in Holland, das Buch »De geschiedenis van den godsdienst« door <Die Geschichte der Gottesverehrung, nach dem deutschen liberalen Theologen> Otto Pfleiderer, I. Teil, Schiedam 1872, veröffentlicht. Unter den Arbeitsbüchern der jungen Lou war auch Pfleiderers »Religions-Philosophie auf geschichtlicher Grundlage« von 1878. Gillot pflegte meist deutsch zu predigen, zumal im Winter; im Sommer, der Zeit des Landaufenthaltes oder der Reisen der oberen Gesellschaftsschichten, öfter holländisch. – Die siebzehnjährige Louise von Salomé war von einer Verwandten (der gleichen, aus deren Briefen im folgenden zitiert wird) dazu bewogen worden, sich eine Predigt von Gillot anzuhören. Als dieser die Kanzel betrat, sich in der ihm eigenen Weise bewegte und sprach, wußte sie sogleich, daß sie zu ihm gehöre: »nun hat alle Einsamkeit ein Ende«, »das ist es ja, was ich gesucht«, »ein Mensch«, »er ist«, »ich muß ihn sprechen«; was er sagte, war für sie nicht entscheidend. Sie erfragt seine Wohnung, schreibt an ihn: sie wünsche eine Unterredung mit ihm – aber nicht wegen religiöser Skrupel; sie steht wartend in seinem Arbeitszimmer, »die Hand auf das Herz gedrückt«; er sagt noch in der Tür: »Kommst du zu mir?« – und breitet seine Arme aus. Zuerst besucht sie ihn heimlich weiter; sie arbeiten – das Mädchen mit solchem Einsatz, daß sie einmal – auf seinen Knien – ohnmächtig wird; »Unrechtes tun war unmöglich.« Nach längerer Zeit sagt Gillot ihr, sie solle es ihrer Mutter mitteilen (der Vater von Lou v. S. war kurz vorher, im Februar 1879, in dieser Zeit verschieden); sie hält sich so genau an sein Wort, daß sie – die Mutter hat gerade Gesellschaft – sogleich vor sie hintritt: »Ich komme von Gillot«; die Mutter weint. Gillot wird von Frau v. Salomé empfangen; die heimlich Lauschende hört ihre Mutter sagen: »Sie machen sich schuldig an meiner Tochter«, und Gillot antworten: »Ich will schuld sein an diesem Kinde.« Von da ab darf sie ihn frei besuchen; die Arbeit überschritt die Grenze ihrer gesundheitlichen Kraft; »ich mußte ihm folgen, er war ja Er – und er war es nicht mehr, als er mich <mit dem Heiratsantrag> verkannte«; »noch jetzt ist es mir wie gestern, ich könnte sofort aus dieser >Gegenwart< <Klages> schreiben, wie ich damals geschrieben«. (Wiedergabe aus Gesprächen mit LAS.) – Aus den Antwortbriefen einer älteren, verständnisvollen Verwandten von Lou v. S. (aus der Zeit von Oktober 1878 bis Juni 1879) ist einiges von den seelischen Vorgängen noch im Reflex zu erkennen: die Einsamkeit des Mädchens; die Gefahr eines »Risses« zwischen der Mutter und ihr aus der innern Verschiedenheit; der Entschluß zum Austritt aus der Kirche: »Nun sind die Würfel also gefallen! Was für Kämpfe mußt Du durchgemacht haben, ehe Du Dich zu dem Entschluß und der Ausführung durchgerungen hast; und dann diese Stürme!« »Du sagst selbst, Du kommst Dir bisweilen vor wie in einer Wüste.« Auch die Mutter vertraut sich dieser Verwandten an: »Daß der erste, mir so ganz unerwartete Sturm vorüber ging, ohne daß ich krank wurde, wundert mich eigentlich, ich bedurfte wirklich meine ganze moralische Kraft um mich aufrecht zu erhalten, und in den Tagen habe ich recht gefühlt, wie übrigens schon oft in meinem Leben, wie Gottes Kraft, wenn man ihm vertraut, in dem Schwachen mächtig ist; mein altväterlicher Glaube ist zwar nicht mehr Mode, aber ich bin glücklich, daß ich ihn habe! Du meinst, Ljola leidet in meiner Seele mit, das glaube ich nun nicht, dann hätte sie Alles anders angefangen und bewiese es mir durch die That; Du bittest mich, liebevoll gegen sie zu sein, aber wie ist das möglich bei einem so starren Charakter, der immer und in Allem nur seinen Willen durchsetzt ... « »Ljola meint, es sei ein Betrug und Verbrechen, gegen seine Überzeugung bei Dalton confirmirt zu werden, aber in andern Sachen weiß ich, daß nicht so skrupulös gehandelt wurde.« – Aus den Briefen der Vertrauten ist auch einiges von der Beziehung zu Gillot, von dem Ringen mit ihm noch abzulesen: Frau v. S. entschließt sich (wohl im April 1879), »Gillot zu sehn, um über Deinen Unterricht und die Confirmation in Holland mit ihm Rücksprache zu nehmen. « »Daß er seinen Unterricht nicht auf Religion und Vorbereitung zur Confirmation beschränkt, kommt mir selbstverständlich vor bei seinem ganzen Wesen und Wollen.« »Wie schrecklich muß der Kampf in Dir gewesen sein, ehe Du Dich ganz ergabst.« »Wie schwer dieses >sich beugen< gerade Dir geworden, weiß ich ja, ich kenne Dich ja so gut! Aber daß Du es gethan, ist nach meiner Ansicht weder >unrecht< noch >ein Unglück< »Ist‘s aber so weit gekommen, so empfinden wir den Frieden, das Anlehnen und Aufschauen – das sagst Du ja auch.« Auch Gillots Bild ist mit einigen Zügen erkennbar: seine Fähigkeit, einen zu durchschauen, so daß man »wie splitternackt entkleidet« vor ihm stehe; »wie schwer muß er gewiß oft unter den widersprechenden Gefühlen leiden, die in seinem Innern toben«; »aber welche Willenskraft muß dieser Mann besitzen!«; seine »furchtbare Gründlichkeit« wird betont und auch die gesundheitliche Gefährdung von Lou: »Du sagst zwar, die Kopfarbeit schade Dir nicht, sie sei besser als aufreibende Gedanken.« – DieThemen, die Lou v. S. für Gillot ausarbeitete, waren anfangs mehr religionsgeschichtliche und religions-philosophische und später mehr philosophische. Gillot unterrichtete sie systematisch in Philosophie; im besondern lasen sie Kant zusammen, auf Holländisch; bei der Begegnung mit Nietzsche und Rée erwies sie sich (durch das Studium in Zürich noch weiter darin geschult) im Gespräch über die klassischen neueren Philosophen durchaus als die Belesenere und hat ihr Wissen, verteidigend oder angreifend, auch gegen die »fortgeschritteneren« Anschauungen der beiden ausgespielt (in heiterer Erinnerung hat LAS davon erzählt).

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13. Malwida von Meysenbug (Lebensrückblick, Anmerkung des Herausgebers E. Pfeiffer S. 229 f.):

Malwida von Meysenbug, 1816 bis 1903, war eine Tochter des kurhessischen Hofmannes hugenottischer Herkunft Karl Ludwig Georg Philipp Rivalier, der von seinem Landesherrn, dessen Jugendfreund er gewesen, geadelt und in den Freiherrnstand erhoben worden war. Malwida v. M., die selbst in die republikanisch-revolutionären Vorgänge der Jahre um 1848 verflochten und 1852 aus Berlin ausgewiesen worden war, hatte in London, dem Asyl der damaligen Emigranten, u. a. den russischen revolutionären Schriftsteller Alexander Herzen (Sohn des Fürsten Jakowleff und einer Stuttgarterin) und den italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini kennengelernt. Nach dem Tode von Herzen adoptierte sie dessen Tochter Olga; sie hatte mit ihr im Winter 1861/62 in Italien geweilt. Ihre »Memoiren einer Idealistin«, mit dem Pariser Aufenthalt 1860/61 und der Wiederbegegnung dort mit Richard Wagner abschließend, waren in Stuttgart 1876 anonym erschienen und lagen im Frühjahr 1882 schon in der 3. Auflage vor. Als »Nachtrag« erschien in Berlin 1898 der »Lebensabend einer Idealistin«, eine lose Zusammenfügung von Erinnerungen und Betrachtungen. Bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses 1872 begegnete Malwida v. M. im Kreise Wagners Friedrich Nietzsche. Als sie diesen 1876 für die Zeit seines Urlaubsjahres zu einem Erholungsaufenthalt in Italien unter ihrer Obhut einlud, schlug er den ihm befreundeten Dr. Paul Rée »zum Mitgehen« vor. Der Sorrenter Aufenthalt in der von Malwida gemieteten Villa Rubinacci, mit Nietzsche, Rée und dem Basler stud. jur. Albert Brenner, dauerte von Ende Oktober 1876 den Winter über. Rée machte dort sein Buch »Der Ursprung der moralischen Empfindungen« druckfertig, Nietzsche arbeitete an »Menschliches, Allzumenschliches«. Malwida v. M. selbst kannte Paul Rée vorher noch nicht. In dem »Lebensabend einer Idealistin« sagt sie von Rée, daß er ihr »ein sehr lieber Freund geworden war«, daß sie aber seine »streng wissenschaftliche, realistische Anschauungsweise nicht teilte«, trotz ihrer »hohen Achtung für seine Persönlichkeit« und ihrer »Anerkennung seiner gütigen Natur, welche sich besonders in seiner aufopfernden Freundschaft für Nietzsche zeigte«. Rées Anschauungsweise habe diesem »ein fast kindlich staunendes Vergnügen« gemacht. Einige Stellen aus Tagebuchbriefen von ihr an ihn, aus der Zeit nach Sorrent, sind in dem Buche abgedruckt. Sie nannte ihn Paolo.

(s. zum gemeinsamen Urlaub von Nietzsche, Rée, und Malwida in Sorrent auch auf dieser Homepage Wagner / Sorrent)

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14. Dr. Paul Rée (Lebensrückblick, Anmerkung des Herausgebers E. Pfeiffer S. 230 ff.):

Paul Rée, als Sohn eines Rittergutsbesitzers am 21. November 1849 in Bartelshagen in Pommern geboren, war damals also 32 Jahre alt. Seine eigentliche Heimat wurde das um 1868 erworbene Rittergut Stibbe bei Tütz in Westpreußen. Auf Verlangen des Vaters hatte er seiner frühen Neigung zur Moralphilosophie entgegen – Jura studiert, in Leipzig, war – als Einjährig-Freiwilliger – bei Ausbruch des DeutschFranzösischen Krieges mit ins Feld gerückt und bei Gravelotte verwundet worden. Nach dem Kriege hatte er ausschließlich Philosophie studiert, in Halle. Er promovierte 1875 mit der Schrift »TOY KAL OY«, notio in Aristotelis ethicis quid sibi velit. Im gleichen Jahre erschien ein Büchlein Aphorismen von ihm: »Psychologische Beobachtungen«. Aus dem Nachlaß von ... Durch dieses Buch stellte sich die nähere persönliche Beziehung zu Nietzsche her (Nietzsches erster Brief an ihn am 22.10.1875), nachdem schon zweieinhalb Jahre vorher in Basel die erste Bekanntschaft erfolgt war: »Hier ist, für den ganzen Sommer, ein Freund Romundt’s eingetroffen, ein sehr nachdenkender und begabter Mensch, Schopenhauerianer, Namens Rée«(Nietzsche an Erwin Rohde, 5.5.1873.) Unter den Thesen, die Rée bei seiner Promovierung verteidigte, war bereits die von der entwicklungsgeschichtlichen Erklärbarkeit des Gewissens, »Conscientia non habet originem transcendentalem«, und sein Pessimismus in Bezug auf den Menschen spricht aus der These »Progressus moralis nullus est in rebus humanis«. Mit dieser zweiten These steht eine Schrift »Die Illusion der Willensfreiheit, ihre Ursachen und ihre Folgen«, 1885, in thematischem Zusammenhang wie auch das schon 1877 erschienene Buch »Der Ursprung der moralischen Empfindungen«. Die erste These suchte er in den zuerst als Habilitationsschrift geplanten >Prolegomena< »Die Entstehung des Gewissens«, 1885, zu beweisen. Die abschließende philosophische Schrift von Paul Rée, »Philosophie«, mit dem Vorvermerk »Meine früheren Schriften sind unreife Jugendwerke«, ist als »Nachgelassenes Werk« 1903, Berlin, herausgegeben worden. An fast großartiger Einseitigkeit und Radikalität bei der Durchführung der alten Themen übertrifft diese Schrift noch die früheren. Ein vom ungenannten Herausgeber angeschlossener Brief Rées vom November 1897 über seine Beziehung zu Nietzsche enthält die aburteilenden Sätze: »Ich habe ihn doch nie zu lesen vermocht. Er ist geistreich und gedankenarm.« »Jeder tut jedes aus Eitelkeit; aber seine Eitelkeit ist eine pathologische, krankhaft gereizte. Gesund hätte sie ihn in normaler Weise zum Hervorbringen großer Werke gebracht; in dem Kranken, der nur selten denken, schreiben konnte, bald es überhaupt nicht mehr zu können fürchtete, Ruhm um jeden Preis erobern wollte, brachte die krankhafte Eitelkeit Krankes, vielfach Geistreiches und Schönes, aber im wesentlichen doch Verzerrtes, Pathologisches, Wahnsinniges hervor; kein Philosophieren, sondern ein Delirieren!!«

Nietzsche selbst hat auch Paul Rée in die Überschau des »Ecce homo« eingeordnet, in dem Abschnitt »Warum ich so gute Bücher schreibe« (»Menschliches, Allzumenschliches«) und mit Zitierung des Aphorismus 37 aus »Menschliches, Allzumenschliches« I, in welchem er den Verfasser des Buchs »Über den Ursprung der moralischen Empfindungen« »einen der kühnsten und kältesten Denker« nennt. Er habe, sagt er nun, »den ausgezeichneten Dr. Paul Rée, <dadurch> mit einer welthistorischen Glorie überstrahlt«, indem man »auf diese Stelle hin das ganze Buch als höheren Réealismus verstehn zu müssen geglaubt habe«. (Schon in der persönlichen Widmung von »Menschliches, Allzumenschliches« I an Rée hat Nietzsche auf diese damalige Meinung seiner Freunde angespielt und ihm scherzend zu dieser »Vaterschaft« gratuliert, mit dem Ruf: »Es lebe der Réealismus!«)

Den krankhaften Selbsthaß des Juden Rée hat Lou A.-S. in einem Brief an den ihr befreundeten Soziologen Ferdinand Tönnies vom 7. Dezember 1904 so charakterisiert:

»Halbjuden, die unter ihrem Mischmasch litten, beobachtete auch ich mehrmals. Allein, dieser Zwiespalt wäre kaum krankhaft zu nennen, er ist gleichsam normal gegeben wie das Hinken eines, der ein kurzes und ein langes Bein hat. Jemanden mit seinen zwei gesunden Beinen hinken sehn, wie Rée that –! Ganz Jude sein und dennoch sein Selbst lediglich in etwas finden, was diesem hassend und verachtend gegenübersteht. In dem Maße wie bei ihm sah ich’s sonst zwar nie – (die bloße harmlose Erwähnung davon <als Rée gewahr wurde, daß Lou v. S. sein Judentum noch nicht bemerkt hatte> machte ihn vor meinen Augen ohnmächtig, und ein paar Szenen, die sich abspielten, als Juden, nicht gleich von ihm als solche erkannt, mit uns in Verkehr kamen, spotten in ihrer Lächerlichkeit und Schrecklichkeit jeder Beschreibung) – doch etwas von diesem Unheimlichen trieb sein Wesen in mehr als einem Juden, dem ich nahetrat.

Dies gewaltsame Sichvergessenwollen hat in Rée, als Denker sein Absehn vom Gefühlsmäßigen, von der Persönlichkeit, ganz ungemein unterstützt, wenn nicht geradezu es bewußt prinzipiell hervorgerufen. Er war deshalb nicht ganz so eng, wie es schien, allein die Thür die da hinausführte, war dermaßen wohlverschlossen, daß sie nur noch als Mauer in Betracht kam. Sie stellte trotzdem eine Vermittlung her, indessen nur im intim Persönlichsten seines Verständnisses, – gewissermaßen durch’s Schlüsselloch. Und hoch über alle Mauern hinaus entwuchs seinem unerhört leidvollen Selbsthaß eine fast überirdische Güte. Niemand wußte das besser als ich, die ich in ihr drinsaß wie ein junger Vogel in seinem Mutternest ... «

Paul Rée hatte (»um den Menschen auf diese Weise nahe zu kommen«, LAS) nach dem Fehlschlagen seiner Habilitationspläne 1885 noch Medizin zu studieren begonnen, in Berlin; nach seiner Trennung von Lou v. S. setzte er sein Studium zunächst noch bis zum Schluß des Semesters – Sommer 1887 – in Berlin fort (Lou A.-S. erhielt damals durch einen gemeinsamen Bekannten regelmäßig Nachricht über ihn, ohne Rées Wissen), beendete es dann in München. Er ließ sich 1890 als Arzt in Stibbe nieder, wohnte und praktizierte in einem kleinen Nebengebäude vom Gutshaus, hatte keinen Verkehr mit den Gutsnachbarn, speiste nicht am Tisch des Herrenhauses mit; er war »der gratis wirkende Arzt für die ganze Bevölkerung dort«, oft wurden auf seine Kosten Kranke in die Kliniken von Berlin oder Breslau gebracht, häufig sah man ihn »unter seinem Mantel reiche Spenden an Speisen und Wein in die Wohnungen armer und kranker Arbeiter tragen«, er lebt »noch heute <1927> dort wie ein Heiliger« in der Erinnerung. (Dies Andenken an ihn war noch ein Jahrzehnt später lebendig.) Wenn er nicht praktizierte, war er auf oft meilenweiten Wanderungen in den Wäldern der Umgebung oder am Studiertisch; nach Abschluß seines Buches wollte er nicht mehr philosophieren – »aber was dann werden soll, weiß ich nicht, ich muß philosophieren, wenn ich also keinen Stoff zum Philosophieren mehr habe, so ist es am besten für mich, zu sterben«. – Als er (1900) hörte, daß das Gut verkauft werde (sein Bruder versuchte später vergeblich, den Verkauf rückgängig zu machen), verließ er nächtlicherweile die Heimat. Er ging nach Celerina im Oberengadin, wo er in dem gleichen Gasthaus wohnte, in dem er einst mit Lou v. S. geweilt hatte; er war dort weiter Armenarzt; durch »sein großes bartloses ernstes Gesicht«, seine Kleidung, seinen Gang wurde er oft für einen Geistlichen gehalten. »Paul Rée ist am 28. Okt. 1901 auf dem oberen, sehr steilen Weg durch die Charnadüra-Schlucht, bei Celerina, tödlich in den Inn abgestürzt. Laut >Fögl Ladin< vom 2.11.1901 bestätigten die Fundgegenstände die Annahme eines Unglücksfalles.« Die Bestattung auf dem Friedhof von Celerina erfolgte unter größtem Anteil der Bevölkerung. (Angaben zumeist nach Kurt Kolle »Notizen über Paul Rée«, Zeitschrift für Menschenkunde, September 1927.) – Ferdinand Tönnies gibt in seinem Aufsatz »Paul Rée« in der Zeitschrift »Das freie Wort«, Band IV (1904), S. 366ff., auf den der oben abgedruckte Brief von Lou A.-S. antwortet, auch eine Schilderung des persönlichen Eindrucks: »Ich habe Rée gekannt und geschätzt als einen ungewöhnlich feingebildeten und sinnreichen Menschen; durch die ruhige Sicherheit seines Auftretens, die gelassene, ja sanfte Art seiner Rede hatte er etwas Imponierendes, war auch bei näherer Bekanntschaft durchaus gutmütig und liebenswürdig.« »Rée liebte das Gespräch, er wurde aber leicht stutzig, er ließ dann seine tiefliegenden, lebhaften Augen wie zweifelnd hin und hergehen und half sich aus der Verlegenheit gern mit einer scherzhaften Wendung.« »Seinen sachten ironischen Humor kehrte er ebenso oft gegen sich selber wie gegen andere; kleine Bosheiten wußte er in verbindliche Formen zu kleiden. Er war im Grunde bescheiden, hatte aber ein großes Vertrauen in die Richtigkeit seines Denkens, weil er sich für einen der wenigen ganz unbefangenen Denker hielt und weil er wirklich über gewisse wesentliche Probleme unermüdlich, Monate, ja Jahre lang nachdachte.« Zu dem Briefe Rées über Nietzsche im Anhang zu seiner »Philosophie« bemerkt Tönnies u. a.: »Als ich mit Rée öfter zusammen war, – es war kurz nach seiner Trennung von Nietzsche, im Jahre 1883 –, äußerte er sich gegen mich dahin, Nietzsche sei viel bedeutender in seinen Briefen als in seinen Büchern und noch bedeutender in Gesprächen als in Briefen. Dies Urteil war sicherlich nicht erst durch ihren Zwiespalt entstanden. Es ist vielmehr charakteristisch für das innere Verhältnis der beiden Männer. Nietzsche war für Rée ein interessantes Phänomen, wie es der Künstler immer für den Forscher ist ... « »Für Intuitionen hatte Rée kein Organ, und war so wenig geneigt in moralischen und anthropologischen Dingen, wie in denen der Physik, solche gelten zu lassen.« LAS hat erzählt, daß Paul Rée oft nicht verstanden habe, was Nietzsche und sie miteinander sprachen; gutmütig habe er dann darüber gespottet; als Nietzsche in Leipzig einen Traum erzählte, der später in den »Zarathustra« aufgenommen worden ist, habe Rée gesagt: »Sie haben gewiß gestern abend wieder Erbsensuppe gegessen.« Herrlich sei das Kristallklare seines Denkens gewesen; »seine Schriften gelten nicht«.

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Anmerkungen:

Nr. 1 Philoktet*:

Da die Bedeutung der griechischen Mythologie im Gegensatz zur Zeit etwa Winklers und Goethes oder des Philologen Nietzsche mit dem Rückgang der humanistischen Bildung heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wird hier eine Erklärung für den Leser nötig sein:

Philoktet gehört zum Personal der Ilias des Homer, und zwar in so herausragender Position, daß Sophokles (409 vC) über ihn ein eigenes Drama geschrieben hat (das Lessing verschiedentlich im Laokoon aufgreift und auf das auch Nietzsche, vor allem in den Fragmenten, öfter zurückkommt).

Homer Ilias, 2. Gesang (716-725)

Die Methone sodann, und Thaumakia ringsum bestellet,
Die Meliböa bewohnt, und das rauhe Gefild Olizon:
Diesen gebot Philoktetes der Held, wohlkundig des Bogens;
Sieben waren der Schiff', und der Ruderer fünfzig in jedem,
Alle der Bogenkund' erfahrene, tapfere Streiter.
Aber er selber lag in dem Eiland, Qualen erduldend,
Dort in der heiligen Lemnos, wo Argos Heer ihn zurückließ,
Krank an schwärender Wunde, vom Biß der verderblichen Natter.
Jammernd lag er in Schmerz; allein bald sollte gedenken
Argos Heer bei den Schiffen des Königs Philoktetes.

Was war geschehen? Die Flotte der Griechen ist auf dem Weg nach Troja, und der günstigste Fahrwind führt sie schnell auf die hohe See. Nach kurzer Fahrt landen sie auf der Insel Chryse, um frisches Wasser einzunehmen. Hier entdeckt Philoktetes, der Sohn des Königes Pöas aus Meliböa in Thessalien, der erprobte Waffengefährte des Herakles, der Erbe seiner unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einst der Argonaute Iason auf seiner Fahrt der Göttin Pallas Athene, der die Insel heilig war, geweiht hatte. Er will der Beschirmerin der Griechen auf ihrem verlassenen Heiligtume opfern. Da schießt eine giftige Natter auf ihn zu und verwundet ihn mit ihrem Biß am Fuß. Erkrankt wird er zum Schiff gebracht, und die Flotte segelt weiter. Die giftige und eiternde Wunde aber peinigt Philoktet unerträglich, vor allem aber können seine Männer den üblen Geruch des Geschwürs und sein ununterbrochenes Jammergeschrei nicht länger aushalten. Als sie mit dem verschlagenen [!] Odysseus zusammentreffen; hat sich die Unzufriedenheit der Begleiter des kranken Helden durch das ganze Heer verbreitet, welches fürchtete, daß der wunde Philoktet das Lager von Troja verpesten und den Griechen mit seiner endlosen Wehklage das Leben verbittern könnte. Deswegen faßten die Anführer den grausamen Entschluß, als sie an der wüsten und unbewohnbaren Küste der Insel Lemnos vorüberfuhren, den armen Philoktet hier auszusetzen, und bedachten dabei nicht, daß sie mit dem tapfern Manne sich zugleich seiner unüberwindlichen Geschosse beraubten. Der schlaue Odysseus erhielt den Auftrag, diesen hinterlistigen Anschlag zu vollführen; er lud den schlafenden Helden sich auf, fuhr mit ihm in einem Nachen an den Strand und legte ihn hier unter einer nahen Felsengrotte nieder, nachdem er so viel Kleidungsstücke und Lebensmittel zurückgelassen hatte, als zur kümmerlichen Fristung seines Lebens für die nächsten Tage nötig waren. Das Schiff hatte am Strande nur so lange angehalten, als es Zeit bedurfte, den Unglücklichen auszusetzen: dann segelte es, sobald Odysseus zurückgekehrt war, weiter und vereinigte sich bald wieder mit dem übrigen Zuge. (nach: Schwabs Sagen des klass. Altertums. Abfahrt der Griechen. Aussetzung des Philoktetes)

In den Fragmenten vom Sommer 1871 (KSA 7, S. 394) notiert Nietzsche: "Der Philoktet des Sophokles – als Lied vom Exil zu verstehen"

Warum nennt sich Nietzsche also mit seinem allerersten Pseudonym gerade einen "Philoktet"? Das sollte nun wohl naheliegen: Er empfindet sich ebenso ausgesetzt wie Philoktet, und auch er leidet an Wunden, körperlich und geistig. Wie Philoktet schreit er seine Verwundungen wie seine Verlassenheit/ Vereinsamung durchaus nach außen ... Und auch er meint über eine Art "Munition" (Zarathustra!) zu verfügen, deren die Menschheit noch bedarf.

Daß die Verwendung des Philoktet-Bildes in diesen beiden Bedeutungen gemeint ist, geht im übrigen auch aus dem Schreiben an Heinrich von Stein hervor (18. September 1884; KSB, 6, Nr. 534, S. 533), in dem er sich wiederum mit "Philoctet" vergleicht: "Ohne meine Pfeile wird kein Illion erobert!"

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Nr. 2 ogni speranza*:

Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie: "Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet!" steht über dem Tor zur Hölle. (III. Gesang, Vers 9).

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Nr. 3 principe Doria*:

Andrea Doria (1466-1560) kaiserlicher Admiral und Fürst von Melfi. Er kämpfte auf der Seite Kaiser Karls V. gegen Frankreich und bis in die 1550er Jahre gegen die Osmanen; seit 1528 hatte er im zur freien Republik gewordenen Genua eine diktatorähnliche Stellung inne.

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