Nietzsche und Nürnberg Tatsächlich hat sich Nietzsche – soweit es mir bislang bekannt wurde – in seinem Leben viermal in Nürnberg aufgehalten, nämlich 1861, 1867, 1870 und 1873. So liegt es nahe, daß ich diese Aufenthalte in meiner Heimatstadt zu dokumentieren und mit Bildern zu erläutern versuche.
Eine Tonlithografie von Rudolph und Julius Geißler (1861) gibt das Geschehen zwischen Sebalduskirche, Rathaus und Schönem Brunnen anschaulich wieder. Daß insoweit der Wiederaufbau Nürnbergs gut gelungen ist, zeigt das nachfolgende Foto aus etwa dem gleichen Blickwinkel, wie ihn die Brüder Geißler wählten.
Offenbar war Nietzsche mit dem Zug von Plauen aus angereist, wo er bei "den lieben Tanten" (und dem wohlhabenden Onkel Hermann Friedrich Theodor Nietzsche) Ferien machte. Am 20. Juli 1861 war dem Schüler daher vom Königlichen Gerichtsamt Plauen eine "Legitimation" ausgestellt worden "für den Zögling der Fürstenschule Pforte bei Naumburg, Friedrich Wilhelm Nietzsche, dermalen hier aufenthältlich, zur Reise nach Nürnberg und die fränkische Schweiz, zum Vergnügen. Signalement: Plauen, am 20. Juli 1861. [Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, HKGA Briefe 1. Bd. 1938, S. 379 f.] Er notiert sich zu seiner Anwesenheit in Nürnberg (Chronik S. 79): »Nachtreise. Hof. Ueberfüllung. Unordnung. Unwohl. Bamberg. Besser. Nürnberg. Reisegesellschaft. 2 Sänger 1 dicker Herr, ein stummer Stiller, die Dame mit naseblut[endem] Kind usw. Ungemüthlichkeit.–
erster Eindruck der Stadt. Schmids. Höflichkeit der Nürnberger. Ausgehen. Allgemeine Bemerkungen. Festhalle. Probe. (unleserlich) Rückkehr. Aegidienkirche mit prachtvollen Nebenkapellen Dürerbilder Jesus auf Gethsemane. Frauenkirche, catholscher Gott[esdienst,] bunte Fenster. Buchhandlung v[on] Schmidt. Mittag, die vier Direktoren. Champagner. Konzert. Blaues Glöckli. lange gesucht. Kapellmeister Tschirch Komponiren. Oper: Meister Martin und seine Gesellen sucht in Nürnberg aufzuführen die Schwäne, Schwanengesang vollendet. componirt früh, arbeitet in der Nacht aus. – Nachtquartier.
Morgen. Stadtweg. Promenade Festhalle. Kaiserstüblein Rathhaus. Museum. Schmid Lorenzkirche. Mittag. Festzug. Konditorei. Hans Sachs, Dürer. Glöckel. Schmid. Abendbrod. Bier. Klavier gespielt. Hinweg. [unleserlich] Spinnerei. – Nachtblick. Morgen. Abschied vom Wirth. Gang um die Stadt. Junge. Herrn Bulls Freundlichkeit. Auf die Burg. Aussicht. Rathhaus. Gesellenstehen. – Schmid. Bahnhof. Ausschmückung. Rosenau. Durch die Stadt.
Offenbar konnte Nietzsche in Nürnberg mit Bekannten bzw. gar Verwandten zusammenkommen (und dort sogar Klavier spielen), eben mit der von ihm genannten Familie Schmid; vielleicht besteht ja sogar eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen diesen "Schmids" und jenem Alfred Schmid in Plauen, der mit einer Tante Nietzsches, Hedwig Nietzsche, verheiratet und damit Nietzsches angeheirateter Onkel und sogar Pate war? Jedenfalls nahm er offenbar an den Gesangsproben teil – was er später in seiner Studentenzeit von Bonn aus ebenfalls tat – und sah sich ausgiebig in Nürnberg um: neben der Egidien-, Frauen- und Lorenzkirche hat er sicher auch die Sebalduskirche besucht, da er ja offenbar im "Glöckel" das "Abendbrod" samt "Bier" einnahm – wie er es auch bei seinem zweiten Besuch mit Rohde halten wird – und dieses "Bratwurstglöckle" ist damals direkt an die Moritzkapelle unmittelbar neben der Sebalduskirche angebaut.
Leider sieht sich die Stadt Nürnberg bis heute nicht zum Wiederaufbau der Kapelle und dieses zugehörigen Traditionsgasthauses in der Lage, sondern behält es "künftigen Generationen" vor ... – einer der originellsten Plätze Nürnbergs hat so bis heute sein Gesicht nicht wiedergewinnen können. Zu dieser ersten Nürnberg-Reise ist aus der BAW (Beck'schen Ausgabe Werke 1933-1940) hier noch einiges Bedeutsame nachzutragen: 1861 ist es gerade ein Jahr her, daß Ludwig Feuerbach wegen des Konkurses der Porzellanfabrik seiner Frau in Bruckberg nach Nürnberg auf den Rechenberg umzog - und so hätte hier Nietzsche den Philosophen kennenlernen können, dessen Werke Wesen des Christentums und Gedanken über Tod und Unsterblichkeit er gerade kurz vorher auf dem Wunschzettel für den Geburtstag dieses Jahres (15. Okt. 1861) eingetragen hatte (BAW I, 251). Nachtrag vom 08.04.2005: / Rechenberg bei Nürnberg, 31. Juli [1861] Hochgeehrter Herr, Erläuterungen in GW 20, 395: Sängerfest: Vom 20. bis zum 23. Juli 1861 fand in Nümberg das "Allgemeine Deutsche Sänger-Fest" statt. Vgl. Gesänge zum deutschen Sänger-Fest in Nürnberg vom 20. bis 23. Juli 1861 und Gedenkbuch des in der Stadt Nürnberg 1861 begangenen Großen Deutschen Sängerfestes. Auf Veranlassung des Festausschusses herausgegeben. Mit drei Stahlstichen, Nürnberg 1861. BAW I, 254 notiert sich Nietzsche stichpunktartig zu seiner Nürnberg-Besichtigung: Museum
BAW I, 255 zeichnet er unter anderem weiterhin auf: Hans Behaim, Nürnberg erhaben, Pirkheimer, nach Dürer.
Auch hatte Nietzsche offenbar das "Kaiserstübchen" im spätgotischen Scheurlschen Haus besucht, in dem zeitweise deutsche Kaiser, namentlich 1486 Kaiser Maximilian I., zu Gast waren. (Dieses Anwesen einer alten Nürnberger Familie in der Burgstr. 10 wurde am 2.1.1945 samt der nicht ausgelagerten Einrichtung des Kaiserstübchens vollständig zerstört).
Neu seit Juli 2017: Da das sogenannte Kaiserstübchen selbst den meisten Nürnbergern gänzlich unbekannt ist, ist es vielleicht sinnvoll,
dieses hier auf einer Extra-Seite mit diversen Abbildungen wieder in Erinnerung zu rufen: Nicht nur Nietzsche pilgerte damals zum "Kaiserstübchen", sondern natürlich auch so viele andere Festbesucher, dass sogar das "Gedenkbuch des in der Stadt Nürnberg 1861 begangenen Großen Deutschen Sängerfestes" darüber berichtet:
Dazu notierte Nietzsche sich das folgende, nicht ganz korrekt zitierte Gedicht: Es giengen hier in der Scheurlbergerhaus Und BAW I, 259 hält er denn doch etwas überraschend fest: O Nürnberg, Nürnberg, heilge Stadt Inzwischen hat Sebastian Gulden auf meine Intiative hin in den Nürnberger Nachrichten in der Ausgabe vom 23.05.2023 ausführlich über das Kaiserstübchen mit einigen Fotos und ebenfalls unter Abdruck des von Nietzsche zitierten Gedichts berichtet. Siehe dazu diesen Link. Direkt darunterstehend findet sich die erstmalige Erwähnung seiner ersten wirklichen philosophischen Arbeit: Ueber Fatum und Geschichte ... (s. Werk-Seite) II. Wanderung mit Rohde im August 1867 mit Nürnberg-Aufenthalt am19. – 20. Aug. Bayern alpha ging auf diese Reise in einem Beitrag vom 11.08.2013, 16 Uhr, im Internet folgendermaßen ein: Soweit Bayerm alpha. Teils mit dem Zug, teils zu Fuß besuchten die beiden Freunde in den Semesterferien unter anderem Eger, Altenburg, Cham, Zwiesel, Regensburg, Nürnberg, Coburg und Meiningen. Während Rohde sich in einem Reisetagebuch ausführliche Aufzeichnungen macht, finden sich bei Nietzsche – ähnlich wie schon bei seinem ersten Nürnberg-Besuch – wiederum nur stichpunktartige Bemerkungen, insbesondere über die bis ins Einzelne reichende Höhe der Reiseausgaben (die Zwanghaftigkeit dieser Angaben legt es nahe, daß er mit seinen finanziellen Mitteln sehr haushalten muß): "Anreise von Regensburg mit der Bahn. Selbstverständlich werden im Glöckle die obligatorischen Bratwürste mit Sauerkraut verzehrt (18 Kreuzer), dann wird ein Bad genommen (8 Kreuzer), ansonsten läßt man es sich die nächsten zwei Tage mit Besichtigungen (Germanisches Museum, 30 Kreuzer) und vielfachem Einkehren (‚Kafé Nörrs – schlecht – Kaffe [9 Kreuzer]’) Konzert und Bier (10 Kreuzer) wohlergehen." (Chronik S. 170 - s.a. BAW III, 285 f,) Direkt nach dieser Reise trat Nietzsche seinen Dienst bei der Naumburger Artillerie an – im November blickt er auf diese Ferienreise wehmütig zurück: "Heute feiere ich den Sonntag auf meine Weise, indem ich mich meines fernen Freundes und unserer gemeinsamen Vergangenheit in Leipzig und im Böhmerwald und in Nirwana [Anspielung auf die Aufführung des gleichnamigen Werkes von H. v. Bülow im Schopenhauerschen Geiste, das in Meiningen aufgeführt worden war – "die Musik war fürchterlich"] gedenke. ... Damals ein Leben in freiester Selbstbestimmung, im epikuräischen Genuß der Wissenschaft und der Künste." (Briefwechsel mit Rohde, S. 11) III. Ostern allein in Nürnberg 13. – 14. April 1873 Im Frühjahr 1873 hatten Overbeck und Nietzsche parallel zueinander in der "Baumannshöhle", ihrer Baseler Wohnung Schützengraben 45, die Erste Unzeitgemäße Betrachtung über "David Friedrich Strauss, der Bekenner und Schriftsteller" sowie "Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" verfaßt und auf Vermittlung Wagners bei Fritzsch in Leipzig verlegt. Sie ließen für den Eigengebrauch beide Abhandlungen zusammenbinden, und Nietzsche widmete Overbeck dessen Exemplar mit folgendem Gedicht: "Ein Zwillingspaar aus dem Einem Haus / ging muthig in die Welt hinaus, / Welt-Drachen zu zerreißen. / Zwei-Väterwerk! Ein Wunder war’s / Die Mutter doch des Zwillingspaars / Freundschaft ist sie geheissen!" (Briefwechsel mit Overbeck S. 8) Nach Ende des Wintersemesters besucht Nietzsche zusammen mit Rohde vom 6. – 12. April (Ostersamstag) Richard und Cosima Wagner in Bayreuth, wo man das neue, im Entstehen begriffene Haus der Wagners besichtigt; Nietzsche liest sein Manuskript "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" vor – "ich habe mich wieder auf das herrlichste überzeugt, was die Griechen sind und waren. Der Weg von Thales bis Sokrates ist etwas Ungeheures." (KSB, 4, Nr. 301, S. 139) Am Karfreitag notiert sich Cosima in ihr Tagebuch: "Uns verdrießt ein wenig die musizierende Spielerei unseres Freundes ..." (wie denn noch mehr im nächsten Jahr 1874, s. dazu auch die Wagner-Seite) – am 12. reist Nietzsche mit Rohde "melancholisch" gestimmt ab, und die beiden Freunde trennen sich in Lichtenfels. Lesen Sie, was Nietzsche schließlich mit Brief vom 5. Mai 1873 aus Basel an Rohde berichtet (Briefwechsel mit Rohde S. 406 ff.): Theuerster Freund, bist Du wieder in der Semesterthätigkeit darin? Wir fangen so nachgerade in diesen Tagen an. Was Glänzendes wird es wieder nicht, doch auch nicht so lumpig und so durchaus verächtlich, wie im vorigen Winter. ... Overbeck ist mit seiner Schrift (wir nennen sie "Zukunftstheologie") fertig, auch der Verleger ist gefunden – und wer? Fritzschius! Natürlich in so schönem Gewande wie die Geburt der Tragödie auftretend, wird sie nicht verfehlen, alle theologischen Parteien zur Entrüstung zu bringen. Gersdorff hat Recht, wenn er schreibt, Basel sei vulcanisch geworden. Auch ich habe wieder etwas Lava gespien: eine Schrift gegen David Strauß ist ziemlich fertig, wenigstens in der ersten Skizze – aber ich bitte Dich um Grabes-Nacht-Stillschweigen, denn es wird eine große Mystifikation in Scene gesetzt. Ich kam von Bayreuth in einer solchen anhaltenden Melancholie zurück, daß ich mich endlich nirgends anderswohin retten konnte, als in die heilige Wuth. ... Weißt Du, daß unser überaus festlicher Abschiedstrunk in Lichtenfels mich berauscht gemacht hatte? Nämlich es trat das Phänomen ein, daß ich wähnte, ich würde in einem großen Rade mit herumgedreht: dabei wurde mir schwindlicht, ich schlief ein, wachte in Bamberg auf, trank Kaffee: und war Mensch wie zuvor. Verlebte dann den Nachmittag in Nürnberg, sowie den zweiten Ostertag, und befand mich körperlich ebenso wohl als höchst, höchst schwermüthig! Dabei waren alle Leute geputzt und liefen im Freien herum, und die Sonne so herbstlich mild. Nachts sauste ich nach Lindau ab, fuhr, im Kampf von Nacht- und Tagesgestirn, früh um fünf Uhr über den Bodensee, kam noch zeitig am Rheinfall bei Schaffhausen an, machte dort Mittag. Neue Schwermuth, dann Heimreise. An Lauffenburg vorbeikommend sah ich, daß die Stadt mächtig brannte. Nun, auch die Stadt Nürnberg brannte 1944/1945 – es war jener Ungeist, den bereits Zarathustra propagiert: den Frieden als Vorbereitungszeit des Krieges anzusehen, der jenes Nürnberg im Feuersturm hinwegfegte, das Nietzsche einst gerne besucht hatte, und von dem nur verkohlte Stümpfe übrig blieben.
Auch der bekannte Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, mit dem Nietzsche als dessen Kollege in Basel zeitweise näheren Umgang hatte und den er sehr verehrte, weilte im Jahre 1877 in Nürnberg, aus dem er brieflich an einen Freund berichtete; die hier interessierenden Zeilen, die von einem ganz anderen Blick auf Nürnberg zeugen als bei Nietzsche, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Der Kultur- und Kunsthistoriker Jakob Burckhardt (1818-1897), Kollege Nietzsches in Basel, über Nürnberg im Brief vom 31. August 1877 (Steffen Radlmaier [Hg.], Das Nürnberg-Lesebuch, Anthologie, ars vivendi verlag 1994, S. 118/119) Gestern nachmittag fuhr ich hierher und kam gerade noch an, um den deutschen Kronprinzen durch eine ehrfurchtsvolle Double Haye von Nationalliberalen nach dem Bahnhof fahren zu sehen. Abends hiess es in der Weinkneipe unter verschiedenen Philistern: »Der Mann ist auch geplagt!« – In der Tat: Was meinen Sie dazu: etwa vierzehn Tage lang stets fünf Uhr aufstehen und Revuen abnehmen zu müssen? Der Philister empfand offenbar aufs tiefste, was dies heissen will. Dass ich aber abends in der Weinkneipe sass und nicht in den von G. in verjährtem Enthusiasmus angepriesenen Bierlöchern, das versteht sich von selbst. Ich hatte noch in der Abenddämmerung in das »Wurstglöckle« hineingeschaut und mich viel zu alt gefunden, um dort noch eventuelle Fidelitäten anderer Leute mit anzusehen. Vollends in die »Wolfsschlucht« hätten mich keine vier Pferde hineingebracht; es sass dort alles dick bis weit auf die Gasse, weil daselbst das einzige anständige Bier verzapft werden soll, während sonst in Nürnberg (laut Schimpfens in den Zeitungen) das Bierelend allgemein sein soll. ... Nürnberg steckt voll von schönen und merkwürdigen Sachen, und schon im Germanischen Museum habe ich mich zwei Stunden lang dumm gelaufen. Aber zum Wohnen möchte ich die Stadt nicht, es ist mir zu eng zwischen den himmelhohen Häusern mit den hohen Spitzdächern. Und das, was mir sonst den Aufenthalt versüssen könnte, nämlich wohlfeile Photographiepreise, davon ist in erschreckender Art das Gegenteil der Fall. ... Ferner macht mir die Umgegend von Nürnberg förmlich übel, dies sandige Wellenland mit Fichten und Rüben; auch erfuhr ich, dass hier heftig Tabak gepflanzt werde, und glaube sogar, dass diejenige Havanna, welche ich eben jetzt rauche, aus leidlicher Nähe stammen möchte.– Kein wahrer Weiser mehr raucht dunkle Zigarren, solange er helle haben kann, denn all jenes Zeug ist sauciert, und als ich heute im Laden eine darauf bezügliche Bemerkung wagte, hiess es: Ja, da haben’s recht! – Doch muß ich zum Lobe Nürnbergs noch beifügen, dass auch viel Meerrettich gepflanzt wird, welchen ich sehr liebe. Doch genügt Meerrettich noch nicht, um über eine ganze, absolut weinlose Gegend einen verklärenden Schimmer zu verbreiten. Auch pflegt er etwas aufzustossen. ... Sie sind der . Besucher seit dem 14.08.2001. |